CW-Roundtable: Kontroverse Diskussion zur Hochschulausbildung von angehenden IT-Experten

Grundlagen sind wichtiger als Praxis

25.07.2003
Studieren deutsche Informatiker zu lange und zu theorielastig? Droht ihnen Konkurrenz von Offshore-Programmierern? Über alte Vorurteile und neue Chancen diskutierten Professoren und Praktiker mit den CW-Redakteuren Hans Königes und Ingrid Weidner.

Gute Programmierer gibt es überall, günstige Preise aber vor allem in Indien und Osteuropa. Viele Unternehmen bauen in diesen Regionen große Entwicklerteams auf. Der IT-Arbeitsmarkt hierzulande gerät weiter unter Druck. "Lohnt sich vor diesem Hintergrund noch ein Informatikstudium?", fragte die COMPUTERWOCHE eine Expertenrunde. "Vor zehn Jahren hatten wir die gleiche Situation. Ich kann Ihnen stundenlang von den zerstobenen Blütenträumen von damals erzählen. Outsourcing über diese Entfernung ist ein verdammt schwieriger Job", entgegnete Manfred Broy, Professor für Software und Software-Engineering an der Technischen Universität (TU) in München.

Eine ernst zu nehmende Gefahr für gut ausgebildete Informatiker sieht die Expertenrunde nicht. Die Diskussion um Outsourcing-Projekte sei nicht neu, die Erfahrungen der Vergangenheit ernüchternd - besonders wenn die Softwareentwicklung zur Kernkompetenz des Unternehmens gehört. Projekte, die eng mit den Anforderungen der Anwender verknüpft sind, lassen sich ebenfalls nur schwer auslagern. Und ist die Outsourcing-Entscheidung einmal gefallen, benötigen die Firmen immer noch gut ausgebildete Informatiker, um den Auftrag vorzubereiten und abzuwickeln. "Ohne ein hieb- und stichfestes Pflichtenheft liefern Projekte mit virtuellen Teams nicht die nötige Qualität. Das lässt sich nur mit guten Mitarbeitern im Inland schaffen", erläutert Margit Bauer, Geschäftsführerin der HVB Systems in München. Erfahrungen mit Offshore-Programmierung hat sie bei ihrem vorherigen Arbeitgeber gesammelt, der Bosch GmbH. "Wir haben Entwickler aus Indien teilweise für ein halbes oder dreiviertel Jahr zur Einarbeitung nach Stuttgart geholt. Der Preisvorteil reduzierte sich dadurch wieder", ergänzt die IT-Managerin. Ernst Denert, Vorsitzender des Vorstands der IVU Traffic Technologies AG, Berlin, gibt überdies zu bedenken: "Wenn wir das Pflichtenheft so genau schreiben und spezifizieren müssen, dass man es über den indischen Zaun werfen kann, dann können wir den Code auch gleich selbst generieren." Denert, der das Softwarehaus sd&m gegründet und geleitet hat sowie an der Technischen Universität (TU) München als Honorarprofessor lehrt, gehört zu den Skeptikern in Sachen Offshore-Programmierung.

Pro und Kontra Unternehmensemester

Anders die Consultants von Accenture. "Delivery-Center" in Nord- und Südamerika, Italien, Spanien oder Indien übernehmen Entwicklungs- und Wartungsaufträge aus aller Welt. "Die Automobilindustrie macht uns das schon lange vor. Sie ist in der Lage, mit Zulieferern zusammenzuarbeiten und einzelne Bausteine zuzukaufen. Ich glaube, solche Modelle für die Softwareentwicklung sind die Zukunft", prognostiziert Senior Manager Michael Seiger von Accenture.

Doch was ist angesichts der Konkurrenz in Billiglohnländern das ideale Profil eines Informatikers? Bereitet die Hochschule den Nachwuchs angemessen auf das spätere Berufsleben vor? Heinrich Mayr, Präsident der Gesellschaft für Informatik (GI), lobte das Praxissemester während des Studiums, das mancherorts in Deutschland und Österreich bereits zum universitären Curriculum gehört. Die Semesterzahl des Regelstudiengangs erhöht sich dadurch im Nachbarland von neun auf zehn. Der Informatikprofessor aus Klagenfurt betont die Vorteile des österreichischen Modells: "Die Studierenden wirken in einem anspruchsvollen Projekt mit, gewinnen Erfahrung in der Teamarbeit und verstehen Zusammenhänge besser. Fast alle Absolventen übernehmen nach dem Studium relativ schnell eine Führungsposition."

Sein Kollege Broy kann sich dagegen überhaupt nicht für ein weiteres Semester begeistern. "Praxissemester lehne ich ab", erklärt der Münchner Professor und ergänzt: "Praktische Erfahrungen haben unsere Studenten genug, wenn sie mit dem Studium fertig sind. Wir wollen mit den Studenten die Situation in den Unternehmen verbessern." Oft sei die Arbeitssituation in der betrieblichen Praxis alles andere als beispielhaft. "Wir sind in der Informatik beileibe nicht in der Situation, dass die Betriebe alles wunderbar machen und unsere Studenten bloß alle so werden sollen, wie die Praktiker sind. Ganz im Gegenteil."

Eine fundierte Grundlagenausbildung bietet nach Ansicht von Broy die Chance, das lange Berufsleben gut zu meistern. Wenn Studierende sich an der Universität mit innovativen Themen beschäftigten, könnten sie neue Impulse in die Industrie mitnehmen. Broy empfiehlt seinen Studenten, als Werkstudent in die Unternehmen zu gehen, sich aber ansonsten auf ihr Studium zu konzentrieren. "Auch den Anwendungsbezug im Studium sehe ich kritisch. Ich bin dagegen, Studenten zu zwingen, sehr stark in die Anwendungen zu gehen." Ein Informatiker müsse sich mit grundsätzlichen Problemlösungen und Rahmenbedingungen beschäftigen, Informatik sei die Grundlagenwissenschaft des 21. Jahrhunderts. Das sei momentan nicht genügend umgesetzt, kritisiert Broy.

GI-Präsident Mayr setzt dagegen auf einen stärkeren Anwendungsbezug. Allerdings sieht er es nicht als Aufgabe der Universitäten an, Studierende für bestimmte Berufsfelder auszubilden. Die Hochschüler in Klagenfurt profitieren seiner Erfahrung nach von ihrem Ausflug in den Arbeitsalltag, der sie für die Anforderungen der Praxis sensibilisiert und zur intensiven Zusammenarbeit in Teams zwingt. Das Praxissemester komme gut an, eine theoretische Diplomarbeit allein bringe den angehenden Informatikern dieses Wissen nicht.

Dass die Hochschule nicht auf alle Eventualitäten des späteren Berufslebens vorbereiten kann, wissen auch die Praktiker. Für Accenture-Mann Seiger kommt es darauf an, dass ein Informatiker Methodenwissen mitbringt und in der Lage ist, ein Projekt von Anfang bis zum Abschluss zu planen, ähnlich einem Ingenieur. "Die Universitäten bringen den Leuten bei, wie sie Brücken bauen können, und sie sollten dann in der Lage sein, alle Arten von Brücken zu bauen." Mitarbeiter, die nur Holzbrücken zustande brächten, seien zur Transferleistung nicht fähig, so Seiger. Er erwartet, dass die Universitätsausbildung das gesamte Spektrum abdeckt. Denert schildert die eigenen guten Erfahrungen mit seinem Elektrotechnik-Studium: "Für mich ist die Hochschule ein geistiges Trainingscamp, in dem junge Menschen das Denken lernen."

Kooperationen zwischen Hochschulen und Unternehmen schließen schon heute die Lücke zwischen Theorie und Praxis, ohne das Studium in die Länge zu ziehen. Beide Seiten profitieren davon, wenn Studierende in ihrer Diplomarbeit Themen aufgreifen, für die im Alltagsgeschäft der Firmen weder Zeit noch Kapazitäten vorhanden sind. Johann Lex, Head of Regional Services Operations beim Mobilfunknetzbetreiber O2 in München, arbeitet mit der Technischen Universität München zusammen und holt regelmäßig Diplomanden ins Haus. "Die Themen müssen dem Unternehmen etwas bringen, aber auch attraktiv genug sein, damit sich die Studenten dafür interessieren", so sein Kalkül. Die Betreuung der angehenden Informatiker ist intensiv, denn sie arbeiten während dieser Zeit in einem Projekt mit, sind in ein O2-Team integriert und besuchen parallel dazu Seminare an der TU München. Mit den bereits gelernten Grundlagen der angehenden Informatiker ist Lex zufrieden, lediglich die mitunter spärlichen Englischkenntnisse verwundern den promovierten Agraringenieur. Vorträge in englischer Sprache zu präsentieren gehört in einem international ausgerichteten Unternehmen wie O2 dazu. "Sie werden es nicht glauben, aber ich hatte einen Diplomanden, der sich weigerte, eine Präsentation in Englisch vorzutragen." Die lapidare Empfehlung von Denert lautet: "Dann schmeißen Sie ihn raus. Muss man heute überhaupt noch darüber reden, dass jeder Englisch können muss?"

Gestandene Projekt-Manager sind in der Industrie nach wie vor gefragt. Eine Diplomarbeit oder Promotion hilft nach Ansicht der Expertenrunde durchaus, im späteren Berufsalltag schneller und zielgerichteter Projekte umzusetzen. Um ihren Job gut zu erledigen, brauchen die angehenden Informatiker allerdings auch Talent. Nach den Erfahrungen von HVB-Geschäftsführerin Bauer kann die Hochschule nur bedingt die notwendigen Fähigkeiten eines Projekt-Managers lehren: "Die Studierenden müssen das Wesentliche von ihrer Veranlagung her mitbringen." O2-Manager Lex ergänzt: "Ein Projektleiter muss in schwierigen Zeiten den Überblick behalten, muss seine Leute anleiten und in kritischen Phasen motivieren." Soft Skills kann die Hochschule nur bedingt lehren, selbst wenn sie für den späteren Beruf unumgänglich sind. Längere Studienzeiten bieten hier keinen Ausweg.

Im Gegenteil, schon jetzt dauert das Studium in Deutschland zu lange. "Ich finde es besonders schlimm, dass unsere Studenten so alt sind, wenn sie die Hochschule verlassen, und sich viel zu lange in Schulen und Hörsälen getummelt haben", moniert TU-Professor Broy. "Da verzichte ich gerne auf das Praxissemester, wenn sie ein halbes Jahr früher in das Arbeitsleben einsteigen."

In der Tat treten deutsche Absolventen wesentlich später ins Berufsleben ein als ihre Kollegen aus anderen Ländern. Vorzüge wie fundierteres Wissen und mehr Lebenserfahrung wiegen diesen Nachteil nach Ansicht von Accenture-Mann Seiger nicht auf. In Weiterbildungsveranstaltungen des Beratungsunternehmens treffen 22- oder 23-jährige Amerikaner auf 27- oder 28-jährige Deutsche - "es gibt keine großen Unterschiede, was die technischen Kenntnisse betrifft."

Neben dem Berufseinstiegsalter bereiten den Industrievertretern die vielen Abschlüsse Sorgen. Denn neben den Diplomstudiengängen an Universitäten und Fachhochschulen führen beide Bildungseinrichtungen fleißig Bachelor- und Master-Studiengänge ein. Die Idee hinter den neuen Zertifikaten war eine bessere internationale Vergleichbarkeit von akademischen Abschlüssen. Die Initiative unterstützten Industrie und Politik gleichermaßen. Die ersten Absolventen bewerben sich in den kommenden Monaten. Sie treffen in vielen Unternehmen auf völlig unvorbereitete Personalchefs. "Es gab viel Aktionismus, und ich habe den Unterschied zwischen einem Master- und einem Diplomabschluss noch nie verstanden. Ich habe den Eindruck, wir überfordern die Kollegen aus der Wirtschaft mit diesen vielen verschiedenen Ausbildungsgängen. Transparente und klare Strukturen wären hier hilfreich", merkt Broy selbstkritisch an.

Wer sich ein Bild davon machen möchte, wo-rin sich die einzelnen Ausbildungswege unterscheiden, muss sich die Curricula ansehen. "In den USA wird unser dreijähriges Bachelor-System bisher nicht automatisch anerkannt", erzählt Mayr, sondern nur ingenieurnahe Studiengänge. "Dort ist ein vierjähriges Bachelor-Studium üblich, in Osteuropa sind es oftmals sogar fünf Jahre." Das Ziel, im internationalen Wettbewerb eine bessere Vergleichbarkeit zu erzielen, erfüllte sich bisher nicht. Broy hofft allerdings auf den Lernerfolg der Personalverantwortlichen in den Firmen, denn mit den ersten Bewerbungen können Vorurteile abgebaut und Unsicherheiten überwunden werden. HVB-Geschäftsführerin Bauer kommt es bei Neueinstellungen auf die Fach- und Sozialkompetenz der Bewerber an und weniger auf Traditionen. Die IT-Managerin entscheidet sich durchaus auch für Fachhochschulabsolventen oder Bewerber mit einem Bachelor- oder Master-Abschluss, obwohl das Beratungshaus HVB Systems bisher für bestimmte Bereiche bevorzugt Diplominformatiker engagierte. "Kürzlich habe ich einen Abteilungsleiter gefragt, weshalb er beispielsweise in den Stellenausschreibungen immer Diplominformatiker und keine Master-Absolventen sucht. Er sagte: ,Frau Bauer, ich möchte jemanden, der an einer deutschen Hochschule studiert hat.''"

Ingrid Weidner, iweidner@computerwoche.de

Diskussionsteilnehmer

Margit Bauer, Geschäftsführerin der HVB Systems, München.

Manfred Broy, Informatikprofessor an der Technischen Universität (TU) München, Lehrstuhl für Software und Systems Engineering.

Ernst Denert, Vorsitzender des Vorstands der IVU Traffic Technologies AG, Berlin, und Honorarprofessor an der Technischen Universität (TU) München.

Johann Lex, Head of Regional Services Operations, O2, München.

Heinrich Mayr, Präsident der Gesellschaft für Informatik (GI) und Professor für angewandte Informatik an der Universität Klagenfurt.

Michael Seiger, Senior Manager bei Accenture, München.

Bekenntnis zur Elite

"Wir brauchen in der Bundesrepublik einige Topuniversitäten. Wir hängen hierzulande leider immer noch an der Vorstellung, dass die Universitäten alle das gleiche Niveau haben sollten", kritisiert Manfred Broy die deutsche Hochschulpolitik. Als Beispiel führt der TU-Professor die US-amerikanischen Elite-Hochschulen Massachusetts Institute of Technology (MIT), Stanford und Berkeley an, die in den Vereinigten Staaten als Impulsgeber für technische Neuentwicklungen gelten. "Wir brauchen Universitäten, die sich als innovative Partner der Industrie verstehen und gemeinsam die Informatik der Zukunft gestalten", fordert Broy. Forschungsprojekte mit Anbietern sowie kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) gehörten ebenso dazu wie transparentere Studien- und Forschungsschwerpunkte der Hochschulen. Von einer besseren Zusammenarbeit könnten laut Broy Deutschland und Europa profitieren. In Bereichen wie Wireless Communication, Embedded Systems und Automatisierungstechnik habe die deutsche Wirtschaft eine gute Ausgangsposition: "Wenn wir unsere Hausaufgaben richtig machen, können wir in Zukunft weltweit eine Führungsrolle spielen. Diese Chancen müssen wir in beide Hände nehmen."