Pleiten, Pech und Pannen

12 ERP-Katastrophen

13.05.2024 von Martin Bayer, Josh Fruhlinger, Peter Sayer und Thomas Wailgum
ERP-Projekte sind komplex, teuer und zeitintensiv. Kein Wunder also, dass etliche Vorhaben schiefgehen. Lesen Sie und lernen Sie aus den Fehlern.
Damit das ERP-Projekt nicht im Graben landet, braucht es einen Plan und eine sichere Steuerhand.
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Große ERP-Projekte wandeln oft auf einem schmalen Grat zwischen Erfolg und Katastrophe. Die Systeme bilden das Fundament jeder Softwarearchitektur. In ihnen schlägt das Herz des Business. Hat das ERP ein Problem, hat auch das gesamte Unternehmen ein Problem. Fehler und Ausfälle können Millionen-Schäden nach sich ziehen oder gar die ganze Firma in den Abgrund reißen.

Da verwundert es kaum, dass die IT-Verantwortlichen am ERP möglichst wenig schrauben und verändern wollen. Never touch a running system - in keinem anderen IT-Bereich scheint dieses Motto mehr zu gelten als im ERP. Dazu beigetragen hat sicherlich auch die Komplexität der ERP-Landschaften. In vielen Unternehmen sind die Systeme über Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte gewachsen, wurden mehr oder weniger stark individuell angepasst und haben sich engmaschig mit etlichen anderen Softwaresystemen verzahnt.

Dennoch schlägt jedem ERP-System irgendwann die Stunde, sei es, weil die Software veraltet ist, vom Hersteller nicht mehr unterstützt wird oder die Systeme mit den Business-Anforderungen nicht mehr mithalten können. Dann heißt es: migrieren, ablösen, neu implementieren - für viele IT-Verantwortliche ein Albtraum.

Betriebe wie gelähmt: Never touch a SAP-System?

Die IT-Vergangenheit ist voll von Berichten über fehlgeschlagene ERP-Projekte. Kein betroffenes Unternehmen geht damit gerne an die Öffentlichkeit. Doch spätestens wenn der Geschäftsbetrieb beeinträchtigt ist oder sich beteiligte Parteien vor Gericht treffen, sickern Details solcher Pannen durch. Die US-Kollegen von CIO haben einige davon zusammengetragen.

Mission Produce

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Mission Produce bezeichnet sich selbst gerne als das globale Avocado-Netzwerk. Das Unternehmen betreibt Plantagen in vielen Ländern, erntet die Früchte, verarbeitet sie und verkauft sie auf der ganzen Welt. Laut Angaben der Verantwortlichen sei Mission Produce in der Lage, das ganze Jahr über frischreife Avocados zu liefern.

Im November 2021 führte Mission Produce ein neues ERP-System ein. Das Ziel: Das internationale Wachstum sollte durch mehr operative Transparenz und bessere Finanzberichtsfunktionen effizienter unterstützt werden. Doch das ging gründlich schief.

Plötzlich wusste das Management des Avocado-Spezialisten nicht mehr genau, wie viele Früchte wo lagen und vor allem wie reif sie waren. Am Ende waren viele Tonnen Avocados verdorben und nicht mehr zum Verkauf geeignet. Um seinen Lieferverpflichtungen nachkommen zu können, musste das Unternehmen Früchte von anderen Lieferanten zukaufen. Die Folgen: Die Margen brachen ein, und es kam zu Verzögerungen bei der automatisierten Rechnungsstellung.

"Trotz der unzähligen Stunden, die wir mit der Planung und Vorbereitung dieses Umbaus verbracht haben, standen wir bei der Umsetzung vor großen Herausforderungen", sagte CEO Stephen Barnard. "Obwohl wir nicht naiv waren, was das Risiko einer Betriebsunterbrechung angeht, waren das Ausmaß größer, als wir erwartet hatten."

Mission Produce musste neue Prozesse entwickeln, um den Informationsfluss im Unternehmen aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus mussten externe Berater beauftragt werden, das ERP-System wieder richtig in die Schiene zu setzen. Die unmittelbar mit den ERP-Problemen verbundenen Kosten wurden auf etwa vier Millionen Dollar taxiert. Dazu kamen Umsatzausfälle. Über die Höhe ließen sich keine genauen Angaben treffen, zumal zur gleichen Zeit die Avocado-Ernte in Mexiko schlecht ausfiel. Es hieß jedoch, dass der Rückgang des Bruttogewinns im Quartal nach dem Go-Live um 22,2 Millionen Dollar im Jahresvergleich vor allem auf das ERP-Problem zurückzuführen sei. Um welches ERP-System es sich handelte blieb unbekannt.

Learning: Risiken nicht beschönigen und deren Folgen immer mit einplanen.

Invacare

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Invacare, ein US-amerikanischer Hersteller medizinischer Geräte, hat sein SAP-Upgrade vor zwei Jahren vorerst auf Eis gelegt und das Projekt vorübergehend gestoppt. Die nordamerikanische Geschäftseinheit des global agierenden Unternehmens war im Oktober 2021 als erste auf das neue System umgestiegen. Doch die neue Software lief nicht gut an: Online-Bestellungen waren zunächst nur eingeschränkt möglich und es kam zu Verzögerungen bei der Debitorenbuchhaltung.

Das Management rund um Chairman, President and CEO Matt Monaghan sprach zunächst von anfänglichen Ineffizienzen, die bald behoben sein würden. Doch diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Im Zuge interner Umbauten, was die Produktlinien, Lieferketten und die Organisation betraf, verlief der ERP-Umstieg weiterhin holprig. Anfang 2022 zogen die Verantwortlichen die Reißleine.

Man müsse eine Pause einlegen und das ERP-Vorhaben überarbeiten, verkündete CEO Matt Monaghan den Investoren im August 2022. Es sei davon auszugehen, dass die Lösung ein paar Quartale dauern werde, ließ der Manager durchblicken. Das kostete Monaghan wohl seinen Job. Ende August 2022 teilte Invacare mit, Monaghan verliere seine Posten als President und CEO. Die Veränderungen seien notwendig, um die Initiativen zur Geschäftstransformation voranzutreiben und die Herausforderungen in der Lieferkette zu bewältigen.

Besonders schmerzlich für Invacare: Obwohl die Arbeit am ERP-Projekt eingestellt wurde, muss das Unternehmen dem dafür angeheuerten Systemintegrator weiterhin die gleiche monatliche Gebühr zahlen, hieß es.

Learning: Verträge mit Systemintegratoren sollten derart ausgestaltet sein, dass sie nur bezahlt werden, wenn sie auch etwas zu tun haben.

Ranpak

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Eigentlich lief alles nach Plan. Die SAP-Migration des US-amerikanischen Verpackungsspezialisten Ranpak klappte wie am Schnürchen. "Das Team hat unglaublich hart gearbeitet, um eine hochmoderne digitale Infrastruktur zu implementieren, und ich bin sehr stolz auf diese Organisation, dass wir in weniger als einem Jahr, pünktlich und im Rahmen des Budgets, mit SAP in Betrieb gehen konnten, denn das war eine enorme Leistung", sagte Omar Asali, Chairman und CEO. Die Umstellung auf ein cloudbasiertes ERP-System war wesentlicher Bestandteil einer umfassenderen digitalen Transformation bei Ranpak .

Das Unternehmen führte das neue ERP im Januar 2022 ein, zeitgleich mit dem neuen Geschäftsjahr. Doch der Start mit der neuen Business Software verlief holprig. Asali räumte ein, dass man mit Ineffizienzen und Verzögerungen im Geschäftsbetrieb zu kämpfen gehabt habe. Die Lernkurve für das neue System sei zudem sehr steil gewesen.

Einige der Softwareprobleme blieben auch im zweiten Quartal 2022 ungelöst, und bis zum Ende des dritten Quartals hatte das Unternehmen Implementierungskosten in Höhe von 6,5 Millionen Dollar verbucht. Erst Anfang November 2022 konnte Asali vermelden, dass das neue ERP-System begonnen habe, eine bessere und schnellere Messung von Produktivität und KPIs zu liefern.

Learning: Nach dem Umstieg genug Puffer für das Lernen rund um das Handling des neuen ERP einplanen.

J&J Snack Foods

Foto: J&J Snack Foods / Screenshot

Die ERP-Probleme von J&J Snack Foods sind nicht auf ein modernes System zurückzuführen, sondern auf ein älteres - JD Edwards von Oracle. Das US-Unternehmen nutzt JD Edwards seit langem in seiner Tiefkühlgetränke-Sparte und beschloss, seine ERP-Landschaft zu harmonisieren und den gesamten Betrieb auf das Oracle-System umzustellen.

Für die Verantwortlichen von J&J Snack Foods ging es bei dem ERP-Vorhaben in erster Linie darum, zusätzliche Kapazitäten aufzubauen und die betriebliche Effizienz zu verbessern. CEO Dan Fachner bezeichnete die Umstellung als "die größte und notwendigste Veränderung, die zur Stärkung unserer Lieferkette erforderlich ist". Der Manager versprach sich davon eine robuste ERP-Plattform, die einen nahtloseren, integrierten Prozess von den Rohstoffen über die Produktion, die Lagerhaltung, die Bestandsverwaltung und die elektronische Auftragsabwicklung bieten sollte.

Ungewöhnlicherweise beschloss das Unternehmen, das ERP-System nicht nach Abschluss der Jahresbücher, sondern mitten im zweiten Geschäftsquartal zu wechseln - im Februar 2022. Normalerweise ist der Februar eine ruhige Zeit für Snackverkäufe. Doch dieser Februar war anders. "Die Umsetzung führte zu unvorhergesehenen vorübergehenden, betrieblichen, Produktions- und Lieferkettenherausforderungen", sagte Fachner im Mai gegenüber Investoren. Bis dahin schienen die Probleme jedoch weitgehend gelöst. "Alle Zeichen deuten darauf hin, dass wir das Schlimmste hinter uns haben", so der CEO.

Das Unternehmen kamen die Probleme allerdings teuer zu stehen. J&J büßte im besagten zweiten Geschäftsquartal einen Umsatz von 20 Millionen Dollar ein. Das ERP-Schlamassel sorgte dafür, dass die operativen Ausgaben um 7,6 Millionen Dollar höher ausfielen. Ohne die Störungen beim ERP-Umstieg wäre es ein Rekordquartal geworden. Immerhin ging es für Fachner gut aus - wohl auch weil er die Probleme relativ schnell in den Griff bekam. Nachdem der Manager im Mai dem Gründer Gerald Shreiber als CEO nachfolgte, beerbte er diesen Ende 2023 auch als Chairman.

Learning: Timing ist alles - den richtigen Zeitpunkt für den Umstieg wählen.

Leaseplan

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Leaseplan, ein in den Niederlanden ansässiger Spezialist für das Management von Fahrzeugflotten, hat fast 100 Millionen Euro mit einem fehlgeschlagenen SAP-Großprojekt verloren. Das Unternehmen kümmert sich in 32 Ländern weltweit für seine Kunden um das Handling von Fahrzeugen - von der Anschaffung über den Betrieb bis zur Rücknahme und Weitervermarktung.

Das Geschäft lief, wenn auch in jedem Land unterschiedlich. Die Marke blieb zwar die gleiche, doch alle Ländergesellschaften konnten unabhängig entscheiden, wie sie ihr Business abwickelten, auch mit welchen IT-Systemen. Das sollte sich ändern: Sehr teuer und überhaupt nicht flexibel, kritisierte 2015 Alfonzo Venturi, CIO von LeasePlan Australien, die extrem heterogene IT-Landschaft. Jede Änderung nehme viel Zeit in Anspruch und erlaube es einfach nicht, neue Technologien zu nutzen, die die Kunden erwarteten.

2016 begannen die Pläne, dies zu ändern. Eine neue Investorengruppe, die Leaseplan übernommen hatte, sah viel Potenzial darin, die Systeme zu vereinheitlichen. Venturi sollte das auf einem SAP-ERP basierende Core Leasing System (CLS), das in Australien bereits seit 2010 im Einsatz war, weiterentwickeln und auch in den anderen Ländern zum Einsatz bringen. Der indische Serviceanbieter HCL-Technologies sollte das Projekt als strategischer Partner begleiten.

Die Lösung bestand aus SAP Leasing im Back-end, Fiori für die User Experience (UX), Ariba als Beschaffungssystem, Hybris für den E-Commerce und für das Produkt Content Management, S/4HANA, einschließlich einer Versicherungslösung, und Business Objects für das Reporting und Analytics. Das Ganze Paket sollte in der AWS-Cloud betrieben werden. Venturi verfolgte den Ansatz, jeweils mit einem Minimum Viable Product (MVP) zu starten und weitere Funktionalität im laufenden Betrieb hinzuzufügen. Alle alten Legacy-Systeme sollten sukzessive abgeschaltet werden.

Doch der Plan, mit dem neuen SAP-System die internen Prozesse zu harmonisieren und damit effizienter zu machen, ging nicht auf. Die Verantwortlichen unterschätzten offenbar die Komplexität, viele unterschiedliche IT-Systeme auf einen gemeinsamen neuen Standard zu hieven. Im September 2019 und fast 100 Millionen Euro Investitionen später zog Leaseplan den Stecker und stoppte das SAP-Projekt.

"Das System ist in der entstehenden digitalen Welt nicht mehr zweckmäßig", konstatierte CEO Tex Gunning. Die monolithische Natur des SAP-Systems behindere in einer Zeit des beschleunigten technologischen Wandels schrittweise Verbesserungen an Produkten und Dienstleistungen. "Aus diesem Grund wird das System umstrukturiert."

Leaseplan schwenkte um auf die "Next Generation Digital Architecture". Statt sich auf einen Anbieter zu verlassen, verfolgte das Unternehmen einen Best-of-Breed-Ansatz, der auf Lösungen von Drittanbietern setzt und mit einem eigenen stärkeren internen IT-Engagement unterfüttert wird. Dies eigne sich Gunning zufolge besser für die digitale Revolution, die sich in der globalen Leasingbranche vollziehe. Er verwies auf eine besser skalierbare und flexiblere IT-Infrastruktur, eine reibungslosere Produktbereitstellung und -aktualisierung sowie eine bessere Integration mit Systemen von Drittanbietern, um Innovationen zu beschleunigen.

Learning: Ausgangssituation genau evaluieren - heterogene Systemlandschaften brauchen mehr Zeit und Planung.

MillerCoors

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Im Brauereigeschäft geht es turbulent zu - Fusionen, Übernahmen, Verkäufe und Abspaltungen führen dazu, dass sich die Bier-Konglomerate ständig verändern. Das wirft seine Schatten auch auf die IT-Landschaften. Bei MillerCoors, das 2008 als Joint Venture zwischen SABMiller und Molson Coors gegründet worden war und heute nach einem Teilverkauf an AB-InBev unter MolsonCoors firmiert, liefen im Jahr 2013 sieben verschiedene ERP-Instanzen von SAP - ein Erbe der jahrelangen Branchenkonsolidierung.

Angesichts des ERP-Durcheinanders beauftragten die US-Brauer das indische IT-Dienstleistungsunternehmen HCL Technologies damit, ein einheitliches SAP-System für das gesamte Unternehmen zu entwerfen und zu implementieren. Doch das Vorhaben verlief alles andere als reibungslos: Der erste Rollout war von acht Mängeln mit "kritischem" Schweregrad, 47 Mängeln mit hohem Schweregrad und Tausenden zusätzlicher Probleme gekennzeichnet. Es kam zu Verzögerungen. Zeitpläne waren Makulatur, Budgets wurden laufend überzogen.

Mitte 2016 war das Projekt so weit aus dem Ruder gelaufen, dass sich MillerCoors weigerte, Rechnungen zu bezahlen und den Vertrag schließlich kündigte. Im März 2017 verklagte die US-Brauerei ihren indischen Partner HCL auf 100 Millionen Dollar Schadensersatz. Die Vorwürfe lauteten, HCL habe das Projekt nicht ausreichend mit Personal ausgestattet und seine Versprechen nicht eingehalten.

Doch das ließen die HCL-Verantwortlichen nicht auf sich sitzen. Im Juni 2017 erhoben die Inder Gegenklage und warfen MillerCoors Vertragsbruch vor. Das US-Unternehmen habe sich nicht an die Vereinbarungen gehalten und mache HCL im Wesentlichen für eigene Managementprobleme verantwortlich. Letztere seien HCL zufolge die eigentliche Ursache für das Scheitern des ERP-Projekts.

Die Wahrheit wird wohl nie ans Licht kommen. Ende 2018 legten beiden Parteien ihren Streit gütlich bei. Die Details der Schlichtungsvereinbarung blieben geheim. Externe Beobachter stellten fest, dass der Wortlaut der Verträge zwischen MillerCoors und HCL, wie er in den Klagen dargelegt wurde, offenbar auf einem bereits bestehenden allgemeinen Dienstleistungsvertrag zwischen den beiden Unternehmen beruhte und viel Raum für Fehler ließ - auf beiden Seiten.

Learning: Genau auf die Verträge schauen - ungenaue Abmachungen mit Service- und Implementierungspartnern führen schnell zu Streit.

Revlon

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Auch beim Kosmetikriesen Revlon war es eine Fusion, die letzten Endes in das ERP-Desaster führte. 2016 übernahm die in New York ansässige Revlon Corp. die Konkurrentin Elizabeth Arden Inc. Nach der Fusion sollten sämtliche Prozesse über alle Geschäftsbereiche hinweg integriert und harmonisiert werden. Das betraf auch das ERP.

Eigentlich hatten beide Unternehmen in der Vergangenheit positive Erfahrungen mit ERP-Einführungen gemacht: Elizabeth Arden mit Oracle Fusion Applications und Revlon mit Microsoft Dynamics AX. Doch im Dezember 2016 traf das fusionierte Unternehmen die schicksalhafte Entscheidung, sich für einen neuen Anbieter zu entscheiden, für SAP HANA.

Doch das ging gründlich schief. Im März 2018 wurde das SAP-System in Revlons zentraler Produktionsanlage in North Carolina eingeführt. Daraufhin gerieten Fertigung und Logistik erst einmal ins Stolpern. Revlon gingen geschätzt 64 Millionen Dollar an Produktionsausfällen verloren. Dazu kamen über 53 Millionen Dollar, die der Kosmetikhersteller an Kunden zahlen musste, weil Lieferverträge nicht eingehalten werden konnten.

Die Störungen zogen sich hin. Im vierten Quartal 2018 verbuchte Revlon einen Verlust von über 70 Millionen Dollar. Der Finanzbericht für das Gesamtjahr konnte wegen den Fehlern rund um die SAP-Einführung nicht rechtzeitig und regelkonform abgeliefert werden. Infolgedessen sackte der Aktienkurs um 6,4 Prozent ab. Mehrere Anteilseigner zerrten Revlon vor Gericht. Sie warfen dem Kosmetikproduzenten vor, die Aktionäre nicht ausreichend über die Risiken der SAP-Umstellung informiert und damit gegen Börsenregularien verstoßen zu haben.

Das hatte Konsequenzen, hinein bis in die höchsten Managementebenen. Im März 2019 trat Finanzchefin Victoria Dolan zurück und übernahm damit die Verantwortung für den verspäteten Finanzbericht. Chief Operating Officer (COO) Christopher Peterson gab öffentlich Probleme während der SAP-Umstellung zu. Er räumte auch ein, dass es intern Schwachstellen in den internen Kontrollsystemen im Zusammenhang mit der SAP-Einführung gegeben habe.

Learning: Wer ein komplett neues ERP-System einführt, muss mit mehr Aufwand rechnen.

Lidl

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Lidl erlebte sein ERP-Armageddon mit eLWIS, dem "elektronischen Lidl Warenwirtschaftsinformationssystem". 2011 hatte der deutsche Discounter damit begonnen, einen Nachfolger für seine hauseigene Lösung "Wawi" zu entwickeln. Auf Basis von "SAP for Retail powered by SAP HANA" sollte eine neue Lösung entstehen.

Die Lidl-Verantwortlichen sprachen vom größten Transformationsprozess der Unternehmensgeschichte. Entsprechend hoch waren die Erwartungen. Der Aufwand für die Stammdatenpflege sollte sich deutlich reduzieren, Kennzahlenanalysen und Prognosen in Echtzeit möglich werden. Man wolle nicht mehr einzelne Funktionen, sondern integrierte Prozessketten vom Lieferanten bis zum Kunden abbilden, verlautete noch 2016 aus der Konzernzentrale in Neckarsulm.

Doch daraus wurde nichts. Zwar lief das System in kleineren Filialen in Österreich, Nordirland und den USA. Doch obwohl über 100 IT-Spezialisten an dem System herumbastelten, brachten sie es nicht für größere Märkte zum Laufen. Im Juli 2018 stoppte der Handelsriese das ERP-Projekt. Die ursprünglich definierten strategischen Ziele seien nicht mit vertretbaren Aufwand erreichbar, hieß es. Branchenbeobachtern zufolge soll das Projekt Lidl etwa 500 Millionen Euro gekostet haben.

Als Alternative wurde das alte System wiederbelebt. In der Kosten-Nutzen-Abwägung spreche alles für die Weiterentwicklung der Wawi, verlautete aus dem Vorstand. Der Beschluss sei jedoch keine Entscheidung gegen SAP, sondern für ein eigenes System, betonte das Management. In anderen Bereichen wolle man mit dem Software-Konzern weiter zusammenarbeiten.

Learning: Rechtzeitig den Stecker ziehen - wer zu lange an einem taumelnden Projekt festhält, verliert am Ende mehr Geld.

National Grid

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National Grid USA (NGUSA) versorgt Kunden in New York, Rhode Island und Massachusetts mit Gas und Strom. Ende 2012 stand das Unternehmen vor einer schwierigen Entscheidung. Die Einführung einer neuen SAP-Implementierung hatte bereits drei Jahre gedauert und war längst überfällig. Der Go-Live-Termin war für den 5. November 2012 angesetzt.

Würde NGUSA diesen Termin verpassen, drohten weitere Monate der Verzögerung, inklusive zusätzlicher Kosten in Höhe von etwa 50 Millionen Dollar. Um diesen Mehraufwand bezahlen zu können, hätte der Versorger die Tarife erhöhen müssen. Doch dafür brauchte es die Einwilligung der Regulierungsbehörden. Die Alternative, das neue SAP-System zu früh einzuschalten, barg jedoch auch Risiken. Potenzielle Pannen könnten den gesamten Betrieb gefährden. Dazu kam, dass kurz zuvor der Supersturm Sandy das Versorgungsgebiet von National Grid verwüstet und Millionen Menschen ohne Strom zurückgelassen hatte.

Inmitten des Chaos trafen die NGUSA-Verantwortlichen die Entscheidung, den SAP-Schalter umzulegen. Die Katastrophe nahm ihren Lauf. Während die Service-Techniker draußen mit Hochdruck daran arbeiteten, das durch den Sturm stark beschädigte Stromnetz wieder zu reparieren, offenbarten sich dem IT-Team immer mehr Pannen und Fehler im ERP-System.

Das betraf verschiedene Bereiche: So funktionierte beispielsweise die Gehaltsabrechnung nicht mehr. Einige Mitarbeiter erhielten zu hohe Gehaltsschecks, andere zu wenige, wieder andere gar kein Gehalt. Lieferantenrechnungen konnten nicht mehr bezahlt werden, in der Buchhaltung herrschte pures Chaos. Das Finanz-Reporting war so schlecht, dass NGUSA aufgrund seiner Unfähigkeit, zufriedenstellende Finanzberichte vorzulegen, den Zugang zu kurzfristigen Krediten verlor.

NGUSA musste ein Notfallprogramm starten, um das SAP-System irgendwie zu stabilisieren. Dieses Programm dauerte mehr als zwei Jahre und kostete fast 600 Millionen Dollar - deutlich mehr als das eigentliche ERP-Projekt. Der SAP-Albtraum verfolgte den US-Versorger noch etliche Jahre. Ende November 2017 verklagte NGUSA seinen Systemintegrator Wipro. Der Vorwurf lautete unter anderem, Wipro habe seine SAP-Implementierungsfähigkeiten und sein Know-how über die Geschäftsabläufe und üblichen Praktiken der US-Versorgungsunternehmen falsch dargestellt. 2018 wurde der Streit außergerichtlich beigelegt. Wipro zahlte NGUSA 75 Millionen Dollar. Der ERP-Schaden war jedoch beträchtlich größer.

Learning: Den Start eines neuen ERP-Systems nicht um jeden Preis erzwingen wollen. Auch wenn es Zeit und Geld kostet, lohnt es sich in manchen Situationen, lieber eine Extra-Runde im Projekt zu drehen.

Worth & Co.

Foto: Worth & Co. / Screenshot

Worth & Co., ein im US-amerikanischen Pennsylvania ansässiges Fertigungsunternehmen, benötigte ein neues ERP-System und beauftragte 2014 den Dienstleister EDREi Solutions mit der Implementierung von Oracles E-Business Suite. Der erste Go-Live-Termin war für November 2015 angesetzt. Doch daraus wurde nichts. Die Frist wurde auf Februar 2016 verschoben. Aber das Jahr 2016 kam und ging - die E-Business-Suite lief aber immer noch nicht. Im Jahr 2017 wechselte Worth & Co. EDREi den Integrator. Aber auch Monument Data Solutions brachte das ERP-System nicht zum Laufen. Ein weiteres Jahr wurde erfolglos mit dem Versuch verbracht, die Oracle-Suite für die Zwecke von Worth & Co. anzupassen.

Nachdem die Amerikaner das ERP-Projekt schließlich aufgegeben haben, verklagten sie im Februar 2019 Oracle. Oracle habe es versäumt, ein geeignetes und funktionsfähiges Softwaresystem zu liefern, heißt es in den vor Gericht eingereichten Unterlagen. Worth habe mehr als 4,5 Millionen Dollar für den Kauf und die Implementierung des letztlich nicht funktionierenden Oracle-ERP-Produkts zahlen müssen. Die Klage läuft noch.

Learning: Flexibel sein - wer merkt, dass das ausgewählte ERP partout nicht auf die eigenen Anforderung passen will, sollte zügig umplanen und auch einmal sich selbst und seine ERP-Wünsche kritisch hinterfragen.

Target

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Als der US-amerikanische Handelsriese Target 2011 Pläne offenlegte, seine Geschäfte nach Kanada auszuweiten, waren die Erwartungen groß. Es wurden über 200 Ladengeschäfte vom Kanadischen Retailer Zellers Inc. übernommen. 2013 sollten über 100 Target-Stores an den Start gehen.

Dreh- und Angelpunkt der Expansion war das ERP-System. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Verbraucher wie in den USA gut bedient würden. Gute Qualität zu niedrigen Preisen - damit wollte Target auch im nördlichen Nachbarland punkten. Doch die Verantwortlichen unterschätzten die Komplexität eines solchen Projekts - gerade hinsichtlich des ERP-Systems.

Die Target-Verantwortlichen beschlossen, das in den USA eingesetzte SAP-System einfach auf Kanada auszuweiten. Doch vor allem die Integration und der Import von Daten misslang gründlich. Als Target 2013 in Kanada startete, ging man davon aus, es müssten keine Daten konvertiert werden, sondern nur neue Informationen in das SAP-System eingegeben werden.

Doch das funktionierte nicht. Die Mitarbeiter waren völlig überfordert. Außerdem brachte der kanadische Markt durchaus einige Besonderheiten mit sich: andere Währung, teilweise andere Sprache (französisch), andere Präferenzen der Konsumenten, andere regulatorische Vorgaben und andere Herausforderungen in Sachen Logistik angesichts der Geographie. All das wurde zu wenig berücksichtigt. Die Lieferketten brachen zusammen. Ursache waren in erster Linie fehlerhafte Daten. Artikel waren mit falschen Abmessungen, Preisen, Herstellern usw. gekennzeichnet.

Es stellte sich heraus, dass Tausende von Einträgen unter extremen Zeitdruck von Einsteigern ohne Erfahrung manuell in das System eingegeben wurden. Untersuchung ergaben im Nachhinein, dass nur etwa 30 Prozent der Daten im System tatsächlich korrekt waren. 2014 berichtete Target für sein Kanada-Abenteuer einen Verlust von über 900 Millionen Dollar. Ein Jahr darauf meldete Target Canada Konkurs an und schloss seine Läden. Insgesamt dürfte Target der Ausflug in den Norden Milliarden Dollar gekostet haben.

Learning: Rahmenbedingungen genau checken - ein ERP, das an einer Stelle gut funktioniert, muss das nicht automatisch überall tun.

PG&E

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Auch bei The Pacific Gas and Electric Company (PG&E) war es eine Datenpanne, die dem Energieversorger zum Verhängnis wurde. Im Zuge einer fehlerhaften Oracle-ERP-Implementierung waren mit einem Mal sensible Produktionsdaten frei einsehbar.

Im Mai 2016 entdeckte Chris Vickery, Risikoanalyst bei UpGuard, eine öffentlich zugängliche Datenbank, bei der es sich offenbar um das Asset-Management-System von Pacific Gas and Electric handelte. Sie enthielt Details zu über 47.000 PG&E-Computern, virtuellen Maschinen, Servern und anderen Geräten - und war vollständig offen über das Netz zugänglich - ohne Benutzername oder Passwort.

Offenbar hatte ein Drittanbieter im Zuge der Entwicklung des Asset-Management-Systems Live-PG&E-Daten erhalten, um eine "Demo"-Datenbank zu füllen. Dabei ging es wohl um einen Test, wie das System in der realen Produktionspraxis funktionieren und reagieren würde. Über zwei Monate lagen die Informationen frei verfügbar im Netz. Das rief auch die Behörden auf den Plan. Die North American Electric Reliability Corporation (NERC) verdonnerte PG&E zu einer Strafzahlung in Höhe von 2,7 Millionen Dollar.

Learning: Auf Daten, andere Daten und noch Mal Daten achten - wenn die Daten schlecht sind, kann das ERP-System noch so gut sein: Das Projekt wird trotzdem scheitern.