Scrum

Abschied von der Hierarchie

12.05.2012 von Lothar Lochmaier
Eine Fachlaufbahn in der agilen Softwareentwicklung bedeutet weder ein anarchisches noch bürokratisches Unterfangen. In einer meist unübersichtlichen Projektumgebung stellt sich der Erfolg nur mit einem durchdachten Herangehen ein.

Scrum als agiles Vorgehensmodell in der Produktentwicklung hält Einzug in Konzerne und in den Mittelstand. "Der Vorteil liegt vor allem in der Flexibilität, mit der die Projektbeteiligten auf Änderungen reagieren können, lobt IT-Projektcoach Marcus Raitner von der evolving systems consulting group (esc solutions). Der Diplominformatiker und Partner bei esc nennt auch gleich den Nachteil: "Der Umfang eines Softwareprojekts ist wachsweich formuliert, was insbesondere bei Festpreisprojekten eine Herausforderung darstellt." Neben den rein monetären Aspekten seien jedoch auch grundsätzliche Klippen zu umschiffen, bevor die agile Softwareentwicklung greifen könne.

Manfred Schlaucher, Pentasys: "Der Einsatz von Scrum erfordert den Mut, neue Dinge auszuprobieren."
Foto: Stephan Daniel, München

"Beim Einsatz agiler Methoden wie Scrum muss man sich vom Hierarchie- und Rollendenken verabschieden", gibt Manfred Schlaucher, Projektleiter beim IT-Spezialisten Pentasys zu bedenken. Erforderlich dazu sei eine Kultur des Vertrauens ebenso wie der Mut, neue Dinge auszuprobieren. Dazu gehöre auch das Aufbrechen alter Strukturen im Management und in der Belegschaft.

Allerdings hätten Zertifizierungen zum Certified Scrum Master oder Professional Scrum Master nur eine geringe Aussagekraft, wenn es darum ginge, ein passendes Team jenseits der klassischen Muster zusammenzustellen. "Derartige Zertifikate täuschen darüber hinweg, dass man nach so einem Training zwar fahren gelernt hat, aber noch lange kein guter und sicherer Fahrer ist", betont Scrum-Coach Alexander Kriegisch.

Scrum-Schnellkurse nur bedingt gut

Im Klartext: Nur mit einem Schnellkurs belegte "Scrum-Frischlinge" eignen sich kaum für wichtige Projekte, die dann weit hinter ihren Möglichkeiten zurück bleiben. Nach Einschätzung von Kriegisch funktioniert die Methode Scrum zwar am besten bei eng miteinander kooperierenden Teams. Es eigne sich aber auch bei verteilten Projektgruppen, sofern sich die Entfernung mit technischen Hilfsmitteln überbrücken lässt.

Um die räumliche Distanz zu überbrücken reicht allein die Abstimmung via E-Mail, Telefon oder Voice Chat jedoch nicht aus, um das Projektteam auf Tuchfühlung zu halten. "Die fortlaufend enge auch persönliche Rückkoppelung der Beteiligten ist zwingend notwendig, wenn Scrum funktionieren soll", gibt Kriegisch zu bedenken. Generell aber habe auch ein verteiltes Team gute Chancen, mit Scrum produktiv zu arbeiten.

Scrum-Master Alexander Kriegisch bringt die Unterschiede zur klassischen Projektorganisation auf den Punkt: "Was bringt es, wenn ein Team fähig ist, iterativ-inkrementell Software zu bauen, aber die Spezifikation nach wie vor nur einmal zu Projektbeginn vom Auftraggeber über den Zaun geworfen wird, dieser sich ein halbes Jahr nicht mehr meldet und am Ende das fertige Produkt sehen will?"

Kleine Unternehmen im Vorteil

Laut Experte Alexander Kriegisch eignet sich Scrum besonders gut für kleinere Unternehmen mit kurzen Entscheidungswegen.
Foto: Privat

Im Vorteil sind nach Einschätzung der Scrum-Experten gerade kleinere Unternehmen, die ihre Verhältnisse rasch umgestalten. Denn dort sind die Entscheidungswege ohnehin kurz, weil es niedrige administrative und technische Hürden gibt und die Infrastruktur im Unternehmen überschaubar ausfällt.

Mister Spex: Die Scrum-Einführung hat sich bezahlt gemacht

Thilo Hardt, IT-Chef von Spex, einem Online-Shop für Markenbrillen, erläutert, was er sich von Scrum verspricht.

CW: Welche Strategien setzen Sie ein, um das Arbeiten in den zwangsläufig immer mehr verteilten und dezentral organisierten Teams erfolgreich zu bewältigen?

Thilo Hardt, Spex: "Die Mitarbeiter profitieren von einer selbst bestimmten Arbeitsweise mit Eigenverantwortung und ohne klassische hierarchische Strukturen."
Foto: Privat

HARDT: Aufgrund des schnellen Wachstums in den ersten Jahren war die Priorisierung bei der Softwareentwicklung unerlässlich. Bei der agilen Projekt-Management-Methode Scrum ist genau dies die Grundlage. Also stellten wir auf diese Methode um. Software lässt sich so in kurzen Intervallen liefern, wodurch sich die Planbarkeit und die Erwartungen deutlich verbessern.

CW: Welche Kosten-Nutzen-Bilanz bietet die agile Softwareentwicklung denn grundsätzlich?

HARDT: Nach einer relativ aufwändigen Einführungsphase, bei der wir mit einer externen Beratung zusammengearbeitet haben, hat sich die Einführung der Methode schnell bezahlt gemacht. Wir planen jetzt zuverlässig sechs bis zwölf Monate im Voraus, wohingegen es vorher nur für wenige Wochen verlässlich möglich war.

CW: Wie profitieren Mitarbeiter, Partner und Kunden vom projektorientierten Arbeiten jenseits der klassischen Hierarchien?

HARDT: Die Mitarbeiter profitieren von einer selbst bestimmten Arbeitsweise mit Eigenverantwortung und ohne klassische hierarchische Strukturen. Die Entwickler arbeiten nicht auf ein finales Resultat am Ende eines langen Entwicklungszeitraums hin, sondern stellen in kurzen Abständen Resultate vor, was sowohl für den Entwickler als auch für den Auftraggeber zufriedenstellend ist.

Agile Methode
Fünf Gründe für den agilen Ansatz
Neue Methoden der Softwareentwicklung begeistern die Mitarbeiter und die Kunden. Da stellt sich die Frage, woher es kommt, dass "Agilität" derartig beliebt ist? Alexander Ockl nennt Fünf Gründe:
Weniger Prozess - dafür mehr Mensch
Offenbar haben wir gelegentlich das Prozessrad zu weit gedreht. Mit Know-how in den Prozessen wollten wir gute Software wie am Fließband im "billigen Ausland" herstellen lassen. Probleme lassen sich mit noch ausgefeilteren Prozessen und Rollen beseitigen, so dachten wir. Aber inzwischen wissen wir, dass wir am so genannten Fließband meist individuell arbeiten. Und talentierte Mitarbeiter haben auch im Ausland inzwischen ihren Preis.
Persönliche Motivation statt Existenzangst
In der agilen Welt zählt der Mensch wieder etwas. Statt verteilt zu sitzen, schauen sich agile Teams wieder in die Augen. Effektive, direkte Kommunikation ersetzt endlose, anonyme Telefonkonferenzen und überlaufende E-Mail-Postkörbe. Größerer Gestaltungsspielraum und überschaubare Rollen geben Mitarbeitern das Gefühl, endlich wieder etwas bewegen zu können. Das setzt Kräfte frei. Und motiviert, anstatt zu frustrieren.
Entfaltete Stärken statt Fesseln
Endlich wieder kreativ sein und nicht starre Prozesse befolgen müssen! Kein Wunder also, dass gerade Entwickler und Analysten diesen Ansatz lieben. Im agilen Umfeld sind sich alle bewusst, wie wichtig ein gut zusammengestelltes Team ist. Das übersehen wir in der "alten IT-Welt" häufig - zwischen den vielen Prozessdetails und virtuellen Teams. Unsere Kunden freuen sich auch, denn schließlich steht wieder die Lösung ihrer Probleme im Vordergrund.
Gemeinsam entwickelte Arbeitsweise
Neue Prozesse bedeuten in unserem herkömmlichen Alltag häufig neue Rollen. So entstehen Teamveränderungen und Umstrukturierungen. Die vorgegebene Arbeitsweise passt aber vielfach nicht zum Team. Agile Methoden wie Scrum zeigen, dass es auch anders geht. Den "Toyota-Weg" als Vorbild, organisieren sich schlanke Teams innerhalb eines groben Rahmens am besten selbst.Es lohnt es sich, ein funktionierendes Team - wie im Fußball - nicht zu stark zu verändern. Gemeinsam entwickelt, richtet sich die Arbeitsweise nach den Möglichkeiten der Mitarbeiter.
Eine nachvollziehbare Teamleistung
Schreit unser Umfeld nach Agilität, so sollten wir nicht dagegen reden, sondern genau hinschauen. Agilität und gute Prozesse wollen das Gleiche. Müssen wir dennoch verteilt arbeiten, so sollten wir unbedingt auf die menschliche Komponente achten. Frei nach Felix Magath bei der Vorstellung des Spielers Raul sollte es "unsere Verpflichtung sein", die Mitarbeiter "so in Szene zu setzen", dass Sie "ihre Fähigkeiten voll ausspielen können". Andernfalls schließt auch Raul keine Tore, sondern wird zu einem mittelmäßigen und schließlich frustrierten Mitspieler.

Was für eine Scrum-Einführung spricht

Ein verteiltes Team kann in bestimmten Szenarien gleichwertige oder sogar bessere Resultate im Vergleich zu einer klassischen Projektgruppe erwirtschaften.
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Wissenschaftlich belastbare Studien zu einzelnen Projekt-Management-Methoden sind aufgrund der wenig realistischen Vergleichbarkeit nicht möglich. Dennoch lohnt sich ein Vergleich. Die Auswertungen vom Scrum-Erfinder Jeff Sutherland haben aufgezeigt, dass bei einer klassischen Function Point-Analyse ein Scrum-Team das Mehrfache an Produktivität bei gleichem Geschäftswert und geringerer Fehlerrate sowie einer deutlich kleineren Anzahl an Code-Zeilen erzielte. Damit belegte der Experte, dass ein verteiltes Team in bestimmten Szenarien gleichwertige oder sogar bessere Resultate gegenüber einer klassischen Projektgruppe erwirtschaften kann.

Weitere Argumente

Quelle: Alexander Kriegisch, Scrum Master