"Der Kunde ist mächtiger als je zuvor", heißt es in einem Report der beiden Gartner-Analysten Ed Thompson und Jake Sorofman. Er kann Angebote schneller miteinander vergleichen und ist besser informiert. Auch die Erwartungshaltung hat sich verändert. Kunden erwarten heute unter anderem schnellen und einfachen Service. Zudem sollen Angebot und Produktinformationen speziell auf sie zugeschnitten sein.
Unternehmen können sich kaum noch allein über ihre Produkte oder Dienstleistungen voneinander abgrenzen. Für die Firmen wird es daher zunehmend wichtiger, den Käufern ein umfassendes Kundenerlebnis zu bieten. Die Rede ist an dieser Stelle von der Customer Experience, die Gartner als die Gesamtheit aller Interaktionen zwischen dem Kunden und der jeweiligen Marke definiert - sei es im Vertrieb, im Kundenservice oder im Marketing. Sie umfasst alle Kanäle, über die der Kunde angesprochen wird, wie E-Mail, Website oder Social Media. Und sie umfasst die gesamte so genannte Customer Journey - vom ersten Kontakt, den der Kunde mit einer Marke oder einer Firma hat, über den kompletten Kaufprozess bis zum After-Sales-Service.
Customer Experience als zentraler Erfolgsfaktor
"Unternehmen müssen den Kunden ins Zentrum stellen", sagt Frank Engelhardt, Vice President Enterprise Strategy bei Salesforce. Customer Experience wird zum beherrschenden Thema - in den Studien, Whitepapern oder Präsentationen der IT-Anbieter, aber offenbar auch bei den Anwenderunternehmen selbst. Laut einer PAC-Studie im Auftrag von Adobe haben mehr als zwei Drittel der deutschen Unternehmensentscheider die Customer Experience als zentralen Erfolgsfaktor ausgemacht. Und auch die Marktbeobachter von Gartner identifizieren als Ergebnis ihrer CEO-Umfrage, dass Customer Experience Management ganz oben auf der Agenda der Vorstandsvorsitzenden steht.
Ohnehin ist das Thema offenbar auf höchster Ebene angesiedelt. Engelhardt berichtet, dass sich zum Beispiel auf der CeBIT auffallend viele CEOs an den Salesforce-Ständen über Customer Experience informierten. "Bei den erfolgreichsten Unternehmen ist Transformation Chefsache", meint der Salesforce-Manager.
Junge Kunden haben komplett andere Kaufgewohnheiten entwickelt
Relevant ist das Thema nicht nur für Unternehmen mit Consumer-Produkten. Auch Großhändler wie zum Beispiel die mittelständische Adolf Pfeiffer GmbH aus Mannheim arbeiten daran, ihre Kunden besser zu erreichen. Das Unternehmen handelt mit Werkzeugen sowie Werkzeugmaschinen und hat mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie Firmen aus anderen Branchen. Reine Online-Player machen dem Mittelständler Konkurrenz.
Geschäftsführer Thomas Schmidt benutzt zwar nicht den Hype-Begriff Customer Experience. Doch die von ihm gestartete Initiative zielt genau in diese Richtung. Mit großen Investitionen in einen Webshop sowie CRM- und Analytics-Technologie will er seinen Kunden einen besseren Service bieten und diese individueller ansprechen. Auch er berichtet von einer veränderten Erwartungshaltung der Kunden. Die Leute, die jetzt zwischen 20 und 30 Jahre alt sind, hätten komplett andere Kaufgewohnheiten entwickelt als die Generation vor ihnen. "Und der kommerzielle Handel muss nun relativ hohe Summen investieren, um diese Erwartungen zu erfüllen", so Schmidt.
Customer Experience braucht richtige Technik und Organisation
Doch wer dem propagierten Idealbild der Customer Experience folgen will, sieht sich mit großen technischen und organisatorischen Herausforderungen konfrontiert. Customer Experience sei Teamsport, ist im Gartner-Report zu lesen. Will heißen: Das umfassende Kundenerlebnis lässt sich nur realisieren, wenn alle Abteilungen im Unternehmen zusammenarbeiten. Und das bezieht sich nicht nur auf Marketing und Vertrieb. Es gilt zum Beispiel auch für das Personalwesen, die Finanzabteilung, die Produktentwicklung, die Logistik und die IT. Auch diese Bereiche haben direkt oder indirekt Einfluss darauf, welche Erfahrung der Kunde mit dem Unternehmen macht.
Doch schon an diesem Punkt hapert es in vielen Firmen. Laut PAC-Studie ist jeder zweite der befragten Unternehmensentscheider unzufrieden mit der Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen. "Es herrscht häufig Konkurrenzdenken, das man erst auflösen muss", erklärt Bernd Schlösser, der bei IBM als Senior Client Solutions Professional für das Thema Customer Engagement zuständig ist.
Datensilos müssen aufgebrochen werden
Aber nicht nur die Denkmuster der Mitarbeiter müssen sich ändern. Auch die Datensilos in den einzelnen Abteilungen müssen aufgebrochen werden. Denn überall liegen Informationen, die erst in ihrer Gesamtheit einen "ganzheitlichen Blick auf den Kunden" ermöglichen, wie es Johann Wrede nennt, Vice President Marketing bei SAP Hybris - der Commerce-Sparte des Walldorfer Softwareanbieters. Laut PAC-Studie haben die meisten Unternehmen das Problem, dass CRM-Daten, die Kontakthistorie der Kunden und individuelle Kundenprofile nicht in allen Abteilungen zur Verfügung stehen. Jeder zweite Entscheider, der für die Untersuchung befragt wurde, hält daher den Aufbau eines einheitlichen IT-Systems für zwingend erforderlich, das alle relevanten Informationen verknüpft und unternehmensweit bereit stellt.
IT-Anbieter wie SAP oder Salesforce verfolgen dabei ein Plattformkonzept. SAPs Lösung Hybris Profile etwa zieht Daten aus verschiedenen Quellen im Unternehmen wie CRM oder ERP und kombiniert diese mit Kundeninformationen aus Social-Media-Kanälen wie Twitter oder Facebook. Hinzu kommen Daten, die der Kunde übermittelt, wenn er sich auf der Firmen-Website einloggt. All diese werden miteinander verknüpft und analysiert.
Bei Salesforce spricht Engelhardt von einem plattform-basierten Portfolio aus Lösungen wie Sales Cloud, Service Cloud, Marketing Cloud oder Analytics Cloud. Das Ganze bezeichnet der Software-as-a-Service-Spezialist (SaaS) als Customer Success Platform. Alle Systeme greifen laut Engelhardt "auf eine flexible offene Plattform und einheitliche Datenbasis zu" und sind auch durch "eingewobene Collaboration-Funktionen" miteinander verbunden. So sollen sich die verschiedenen Abteilungen "miteinander sowie auch das Unternehmen mit seinen Kunden und Partnern leichter austauschen können, um durchgängig eine exzellente Customer Experience zu verwirklichen", erklärt Engelhardt.
CRM ist nur ein Teil des Ganzen
Klassisches Customer Relationship Management (CRM) ist in diesen holistischen Ansätzen nur ein Teil des Ganzen. "CRM allein reicht nicht mehr aus", glaubt SAP-Mann Wrede. Man brauche weitere Systeme für eine gute Kundenbindung, die sich um CRM herum gruppieren.
Eine zunehmend wichtigere Rolle spielen dabei Analysetechnologien. Die aggregierten Informationen müssen schließlich möglichst genau analysiert werden, um die eigenen Aktivitäten individuell an jeden einzelnen Kunden anpassen zu können - und dies möglichst in Echtzeit. Im Idealfall soll auch eine vorausschauende Analyse möglich werden, um schon vorhersagen zu können, was der Kunde tun wird. "Wenn der Nutzer eines Produkts zum Beispiel über ein Problem twittert, lässt sich sofort ein Service Ticket generieren und an den Kundenservice schicken, der dem Sachverhalt dann nachgehen kann", erklärt Wrede.
Die Möglichkeiten gehen noch weiter. IBM integriert beispielsweise kognitive Technik in seine Commerce-Lösungen. Einsatzbeispiel: Die Website eines Sportartikel-Herstellers erkennt einen User als Anfänger beim Thema Bike-Sport und unterbreitet ihm die passenden Angebote. Im Laufe der Zeit registriert sie dann sein verstärktes Interesse an Ernährungsthemen und an Infos über anspruchsvolle Touren. Dank kognitiver Technik lernt die Website aus diesen Daten, dass sich die Bedürfnisse des Kunden verändert haben. Auf Basis dieser Erkenntnis lässt sich nun wieder ein Angebot direkt auf seine Person zuschneiden.
IBM-Manager Schlösser berichtet sogar von einem Pilotprojekt, in dem die IBM-Technologie Watson als Einkaufsberater bei einem Hersteller von Outdoor-Kleidung fungiert. Der Kunde gibt in diesem Fall zum Beispiel nur an, wo er demnächst seinen Urlaub verbringen wird. Watson stellt ihm dann die passende Ausrüstung zusammen.
Solche Beispiele zeigen, dass Customer Experience viele Entfaltungsmöglichkeiten für Technologien aller Art bietet. Sie lassen aber auch erahnen, dass Unternehmen eventuell tief in die Tasche greifen müssen, wenn das Kundenerlebnis umfassend verbessert wollen. Und das gilt nicht nur für Systeme, die Funktionen wie Machine Learning bieten.
Gute Kundenbindung geht ins Geld
Für den Aufbau seines neues Web-Shops zum Beispiel hat Adolf Pfeiffer fünf Millionen Schweizer Franken gezahlt. Auch der Werkzeuggroßhändler will die Kundendaten eingehend analysieren, um sein Angebot personalisieren zu können. Dafür nutzt das Unternehmen neben der Sales- und Marketing-Cloud von Salesforce die Datenbank Hana von SAP. Doch dabei ist nicht von der Cloud-Version die Rede. Adolf Pfeiffer arbeitet mit der Onpremise-Variante von Hana - für einen Mittelständler ein durchaus ambitioniertes Unterfangen.
Im Moment sei die Technologie auch noch "ein bißchen oversized", räumt Geschäftsführer Schmidt ein. "Doch spätestens in drei bis fünf Jahren werden wir Hana brauchen, um Daten in Echtzeit zu verarbeiten." Die Investition konnte sich das Unternehmen vor allem deshalb leisten, weil es durch die Schweizer Holding Brütsch Rüegger von einem finanzstarken Mutterkonzern unterstützt wird.
Die IT-Anbieter verweisen gerne auf die Cloud, dank der Technologien auch für Firmen mit begrenztem Budget erschwinglich sein sollen. Salesforce und SAP heben zum Beispiel ihre jeweiliges Angebot an Einzelapplikationen aus dem weiten Feld an CRM- und Commerce-Technik hervor.
Trotzdem darf der Aufwand nicht unterschätzt werden. Firmen starten in der Regel nicht auf der grünen Wiese und müssen eine ganze Reihe von Bestandssystemen in eine Customer-Exprience-Strategie einbinden.
Werkzeug- und Maschinenhändler Schmidt glaubt dennoch, dass sich der Aufwand lohnen wird. Er berichtet von Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass allein eine individuelle Ansprache der Kunden den Umsatz um 20 bis 30 Prozent steigern kann. Ob die Strategie aber erfolgreich sein wird und die Rechnung aufgeht, werde erst die Zukunft zeigen. "Die kommenden drei bis fünf Jahren werden entscheidend sein für uns."