"Unternehmen haben das Thema E-Mail nach wie vor nicht unter Kontrolle", stellt die Association for Information and Image Management (AIIM) in ihrem Branchenreport fest. "55 Prozent der Unternehmen haben nur wenig oder gar kein Vertrauen darin, dass wichtige E-Mails gespeichert werden - vollständig und wieder auffindbar. Das Management von Inhalten wie SMS oder Textnachrichten, Blogs und Wikis steht bei 75 Prozent der Unternehmen weitgehend außerhalb ihres Fokus. Die mangelnde Berücksichtigung der genannten Medien in den Unternehmensarchiven stellt ein enormes Risiko dar."
Riskant wird es für die Firmen beispielsweise, wenn sie Aufbewahrungsvorschriften missachten, es an Transparenz bei Wirtschaftsprüfungen mangelt oder Informationen und Dokumente mit Beweiskraft bei Rechtsstreitigkeiten fehlen. "Die Unternehmen erhalten heute viel mehr Willenserklärungen per E-Mail als auf Papier", erklärt Bernhard Zöller, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Zöller & Partner. Darüber hinaus bringen mangelhafte Archivierung und Verwaltung von Informationen auch wirtschaftliche Nachteile. "Unternehmen, die die tägliche Informationsflut gut organisieren und es verstehen, sie zu kontrollieren und zu nutzen, arbeiten rentabler", sagt Merten Slominsky, Director ECM Segment bei IBM.
Der ECM-Expertenrat
Der ECM-Expertenrat der COMPUTERWOCHE setzt sich zusammen aus Vertretern der Hersteller, Mitarbeitern von Systemhäusern, Beratern sowie Hochschullehrern. Das Gremium verfolgt das Ziel, den Nutzen von Enterprise Content Management (ECM) unter den deutschen Unternehmen bekannter zu machen. ECM ist ein Sammelbegriff für Techniken, die Dokumente, Inhalte und Informationen jeglicher Art erfassen, verwalten, speichern, bewahren und bereitstellen und damit Unternehmensprozesse unterstützen.
Das sind die Experten:
Wolfgang Hackenberg, Rechtsanwalt und stellvertretender Leiter Steinbeis Transferzentrum für Projektgestaltung und Vertragsmanagement,
Ulrich Kampffmeyer, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Project Consult,
Edgar Jager, Vice President Third Party Solutions & Software Technology Partners bei SAP,
Stefan Jamin, Business Development Manager Enterprise Information Management im Beratungshaus Cenit,
Manfred Leisenberg, Hochschullehrer an der Fachhochschule des Mittelstands in Bielefeld und Unternehmensberater,
Andreas Nowottka, Vorstand der Easy Software AG,
Heiko Robert, Senior Consultant beim Systemhaus dmc digital media center,
Merten Slominsky, Director ECM Segment bei IBM,
Bernhard Zöller, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Zöller & Partner.
ECM setzt sich durch
Ulrich Kampffmeyer, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Project Consult, ist sich deshalb sicher, dass sich ECM über kurz oder lang im Markt durchsetzen wird: "Es ist nicht die Frage, ob die Unternehmen ECM nutzen werden, sondern lediglich, wann sie ein solches System installieren werden." Allerdings ist die Resonanz derzeit noch verhalten. Beispielsweise ergab eine Umfrage des Beratungshauses Pentadoc, dass ECM-Projekte in vielen Firmen angesichts einer wirtschaftlichen Flaute schnell auf die lange Bank geschoben werden. Auf die Frage "Wie wichtig schätzen Sie aktuelle Investitionen in ECM ein, um nach der Krise wichtige Wettbewerbsvorteile zu garantieren?", antworteten 21 Prozent der Befragten, dass Investitionen in ECM-Projekte eher unwichtig seien. Der Nutzen von ECM-Lösungen scheint also noch nicht in jedem Unternehmen bekannt zu sein oder gilt derzeit nicht als ausschlaggebend, folgern die Marktforscher.
Die Zahlen muss man allerdings mit Vorsicht interpretieren, warnen Experten. Im Zweifel steht nicht die Seriosität der Studie, sondern vielmehr, ob der Begriff ECM sich im Markt bereits durchgesetzt hat und ob die Entscheider in den Unternehmen ihn überhaupt kennen oder wissen, was er genau bedeutet. "Oft merkt der Unternehmer gar nicht, dass er bereits ein ECM-Projekt betreibt", sagt Kampffmeyer. Die Zahl derjenigen, die eine Investition in ECM trotz oder wegen der Wirtschaftskrise für wichtig erachten, könnte also höher liegen, als die Zahlen der Pentadoc-Studie vermuten lassen.
"Der Begriff ECM ist insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft noch nicht verankert", konstatiert Manfred Leisenberg, Hochschullehrer an der Fachhochschule des Mittelstands in Bielefeld und Unternehmensberater. "Die Fragen drehen sich meist um Einzelprobleme aus dem Gesamtkomplex ECM." In der Sprache vieler Unternehmen machen sie also kein ECM, sondern nutzen ein Archivierungssystem, eine elektronische Personalakte, eine E-Mail-Management-Lösung oder setzen auf Wikis zur Bündelung der Informationsflut. "Viele Anwender sprechen von Archiv, wenn sie ein Dokumenten-Management suchen", nennt Stefan Jamin, Business Development Manager Enterprise Information Management beim Beratungshaus Cenit, ein Beispiel.
Dass die potenziellen Kunden von den Begriffen verwirrt sind, darüber sind sich die versammelten Experten einig. Wie ein typisches Kundengespräch abläuft, beschreibt Wolfgang Hackenberg, Rechtsanwalt und stellvertretender Leiter der Steinbeis Transferzentrums für Projektgestaltung und Vertragsmanagement: "Zunächst kommt das Unternehmen auf die Berater oder Hersteller mit dem Wunsch nach einem unternehmensweiten elektronischen Dokumentensystem zu. Bohrt man dann etwas nach, stellt sich heraus, dass der Kunde eigentlich eine elektronische Akte oder Archivlösung benötigt, und die auch nicht unternehmensweit, sondern nur punktuell, zum Beispiel für Finanzdaten, Personalakten oder E-Mails." Sich auf den Begriff ECM zu fixieren ist in der Praxis also wenig hilfreich. "Wir brauchen weniger Schlagworte und mehr Problemorientierung", fasst Zöller das Problem zusammen.
Anwender suchen Problemlösungen
"Vor allem der Mittelstand verfolgt meist eine sehr pragmatische Herangehensweise und möchte nicht ECM einführen, sondern einfach sein gegenwärtiges Problem gelöst sehen. Und genau dafür müssen wir ihm eine Lösung anbieten", erklärt Andreas Nowottka, Vorstand der Easy Software AG. "Die wenigsten Unternehmen haben eine übergreifende ECM-Strategie - weder technisch noch organisatorisch noch rechtlich", bestätigt Hackenberg.
Aufklärungsbedarf besteht aus Sicht der Experten außerdem beim Nutzen von Enterprise-Content-Management. In ihrem Lagebericht stellt die AIIM fest, dass Kosteneinsparungen ganz klar der Haupttreiber für Investitionen in Dokumenten- und Records-Management sind. Die Fixierung auf die Kosten ist eine Entwicklung, die den Experten am Runden Tisch der COMPUTERWOCHE nicht gefällt. "Es ist zu kurz gedacht, wenn man die Kostenreduktion als Projektziel für eine ECM-Lösung ausgibt", sagt Jamin. Auch Kampffmeyer glaubt, dass ein einseitiger Blick auf Kosten und Return on Investment wenig hilfreich sei, und verweist auf die viel zu ungenaue und unvollständige quantitative Erfassung der erzielten Vorteile.
Fünf Thesen zu ECM
"Unternehmen, die die tägliche Informationsflut gut organisieren und es verstehen, sie zu kontrollieren und zu nutzen, arbeiten rentabler." Merten Slominsky, IBM
"Es ist nicht die Frage, ob die Unternehmen ECM nutzen werden, sondern lediglich, wann sie ein solches System installieren werden." Ulrich Kampffmeyer, Project Consult
"Der Begriff ECM ist insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft noch nicht verankert." Manfred Leisenberg, Fachhochschule Bielefeld
"Wir brauchen weniger Schlagworte und mehr Problemorientierung." Bernhard Zöller, Zöller & Partner
"Es ist zu kurz gedacht, wenn man die Kostenreduktion als Projektziel für eine ECM-Lösung ausgibt." Stefan Jamin, Cenit
Klassisches Controlling versagt
Dem widerspricht Nowottka mit einem Beispiel aus der Praxis: Ein Beratungsunternehmen prüfte nach einem ECM-Projekt bei einem Finanzdienstleister die Ergebnisse durch ein Benchmarking und stellte fest, dass dieser mit den neu geordneten Abläufen pro erstellter Rechnung rund vier Euro einspart. Aber auch Nowottka schränkt ein, dass das Entscheidende nicht alleine die Kosteneinsparung ist, sondern die verbesserten und sichereren Prozesse, die menschliche Fehler verhindern. Dank der installierten ECM-Lösung muss sich der Mitarbeiter nicht mehr mit Routinearbeiten beschäftigen, sondern kann sich auf die Spezialfälle konzentrieren. "Damit hat der Kunde am Ende des Jahres vielleicht nicht wie in diesem Fall 400.000 Euro mehr in der Kasse, aber er hat seinen Kundenservice verbessert", resümiert Nowottka. "Es geht nicht um den Abbau von Personal durch straffere und automatisierte Prozesse, sondern es geht darum, den Angestellten die Arbeit zu erleichtern und ihnen Freiraum für wichtige Aufgaben zu schaffen", ergänzt Hackenberg.
Merten Slominsky zweifelt die unterstellte Kostenfixierung der Unternehmen bei den ECM-Projekten allerdings an: "Die CIO-Erhebungen der IBM zeigen, dass die Kosten gar nicht unbedingt im Vordergrund stehen, sondern die Unternehmen vielmehr die Verbesserung von Prozessen und die Agilität im Fokus haben." Sie wollen ihre Reaktionsgeschwindigkeit in sich schnell verändernden Märkten verbessern. Dabei würden quantitative Aspekte genauso eine Rolle spielen wie qualitative Kriterien, zum Beispiel eine verbesserte Kundenzufriedenheit.
Dass die Unternehmen besonders die qualitativen Verbesserungen im Blick haben, illustriert Leisenberg anhand eines Computermarktes, der Teil eines mittelständischen Franchise-Unternehmens ist. "Mit einer ECM-Lösung kann der Händler heute auf Unterlagen elektronisch zugreifen, die der Computermarkt für die Kundenberatung benötigt und die früher auf Papier vom Franchise-Geber geschickt wurden. Zusätzlich kann der Händler damit seine Beratungskompetenz verbessern, weil das System sogar externe Informationsquellen des Web 2.0, wie beispielsweise Weblogs, Soziale Netze oder Internetforen einbinden kann."
Jamin berichtet von einem Kunden, für den qualitative Aspekte ausschlaggebend bei der Einführung einer ECM-Lösung waren. "Er wollte sich mit einer Lösung Vorteile erarbeiten, die ihn schneller und besser auf Kundenanfragen reagieren lässt als sein Wettbewerb. Die Kostenfrage war für ihn eher sekundär."
Nutzen liegt in den Prozessen
"Der größte Nutzen von ECM-Systemen besteht darin, dass sich die Unternehmen mit ihren Prozessen beschäftigen müssen", sagt Hackenberg. "Jede Abteilung hat eigene Abläufe, aber niemand sieht den Geschäftsprozess der anderen Abteilungen." Nur selten habe jemand die gesamte Wertschöpfungskette im Blick. Bezüglich der Eingriffe in die Unternehmensprozesse weist Leisenberg auf ein grundsätzliches Problem hin: "Die Einführung von ECM zieht auch für ein mittelständisches Unternehmen zunächst eine Prozess-Reorganisation nach sich." Während der Kunde und der betroffene Mitarbeiter sehr schnell vom überarbeiteten Prozess profitieren und eine Verbesserung sehen, registriert die Geschäftsleitung aber erst einmal die anfallenden Mehrkosten. "Hier müssen wir vor allem bei mittelständischen Unternehmen Widerstände aus dem Weg räumen."
"Mit klassischem Controlling kommen wir jedenfalls nicht weiter", bestätigt Heiko Robert, Senior Consultant beim Systemhaus dmc digital media center. "Am Anfang eines Projekts ist es sehr schwer zu überschauen, welche Verbesserungen es überhaupt bewirken kann." Der Nutzen von ECM-Lösungen setzt sich aus einer Mischung aus Kostenreduktionen, Qualitätsgewinn und Prozessbeschleunigung zusammen. "Rentbilitätsberechnungen, die man im Vorfeld anstellt, helfen nicht", ist Robert überzeugt. Ein Ausweg aus dem Dilemma ist die Arbeit mit Success-Stories. Sie könnten den am Entscheidungsprozess beteiligten Personen die Vorteile von ECM anhand von bereits realisierten Projekten mit einer ähnlichen Ausgangslage verdeutlichen.
"Man muss dem Geschäftsführer oder Inhaber mit Beispielen aufzeigen, wie sich das Geschäftsverhalten ändert und wie sich vorher nicht exakt zu prognostizierende Kostenvorteile realisieren lassen", empfiehlt Jamin. Ansprechpartner sind also vermehrt die Geschäftsführer oder die Verantwortlichen in den Fachabteilungen und nicht mehr ausschließlich die CIOs. "Die IT schafft die Infrastruktur, aber die Schmerzen und die Entscheider sitzen in den Fachabteilungen", berichtet Slominsky. Deshalb müssen die Hersteller verstärkt die Rolle als Mittler zwischen den Fachabteilungen oder Geschäftsführern und den IT-Verantwortlichen einnehmen. "Wir dürfen den Nutzer selbst nicht vergessen", sagt auch Edgar Jager, Vice President Third Party Solutions & Software Technology Partners bei SAP. Es müsse darum gehen, dem Mitarbeiter ein benutzerfreundliches System zur Verfügung zu stellen, bei dem der Nutzer im Idealfall nicht einmal merke, dass seine Aktionen in ein ECM-System eingebettet seien. "ECM muss nahtlos in die Business-Prozesse integriert sein", betont Jager.
In kleinen Schritten zum ECM-Erfolg
Man müsse ECM als eine Strategie verstehen, sagen die Experten. Dann man sich leichter, dem Kunden zu erklären, dass es heute um Einzellösungen geht und man erst dann von ECM spricht, wenn es um eine unternehmensweite Gesamtlösung geht, die die einzelnen Systeme zusammenführt. Schwierig werde es nämlich dann, wenn man Enterprise Content Management als Technologie oder gar als Produkt darstellt. Dann müsse man es immer ganzheitlich diskutieren, obwohl man nur ein einzelnes Problem lösen möchte. Betrachte man ECM dagegen als Strategie, nimmt das den Projekten die Komplexität. "Abgesehen davon, dass es wohl keinen einzigen Hersteller gibt, der das gesamte Spektrum von ECM abdecken kann. Und schon gar nicht mit einem einzelnen Produkt", gibt Zöller zu bedenken.
Der ECM-Einstieg muss demnach nicht unbedingt über die ganz große Lösung erfolgen. "Es ist sinnvoller, dem Kunden Einzellösungen aus einem umfassenden ECM-Portfolio anzubieten, die sein akutes Problem lösen, ihn aber gleichzeitig in die Lage versetzen, später eine andere Lösung hinzuzunehmen. So bildet sich dann nach und nach eine runde ECM-Lösung", schildert Hackenberg. "Deshalb müssen wir standardisierte Pakete entwickeln, die einen einfachen Einstieg erlauben und später erweitert werden können", ergänzt Nowottka.
Ein Einstieg in ECM könnte über ein E-Mail-Management-System erfolgen, das der AIIM-Studie zufolge in vielen Unternehmen noch immer fehlt. "Wir alle dachten, das E-Mail-Problem wäre seit fünf Jahren gelöst. Aber das ist es genauso wenig, wie die Collaboration gelöst ist", gibt Jager zu bedenken. In vielen Unternehmen werde das E-Mail-System als eine Art Dokumenten-Management verwendet. "Wir müssen den Unternehmen zeigen, dass sie zwar denken, mit E-Mail eine Art Dokumenten-Management-System zu haben, in Wahrheit aber lediglich eine Krücke nutzen", sagt Robert. "Das schaffen wir aber nur, wenn wir den Nutzen von ECM einfach, pragmatisch und verständlich darstellen."