Big Data-Hype

Big Data - Big Illusion

26.08.2015 von Andreas Zeuch
Big Data verspricht die vollständige Kontrolle - und somit Sicherheit. Andreas Zeuch hält dagegen: Auch rationale Entscheidungen führen zu Fehlurteilen.

Im Jahr 2013 erschien im Wirtschaftsteil der österreichischen Zeitung ein Artikel über und die Zukunft intuitiver Entscheidungen. Diesem Beitrag zufolge hat Ginni Rometty, Chief Executive Officer (CEO) von auf einem Vortrag klargestellt, dass "vorhersehende Analysemethoden Instinktentscheidungen in Wirtschaft und Politik ablösen werden."

Das ist ja an sich nichts Neues, schließlich geistert die Vision von Big Data schon eine Weile durch die Welt. Aber sie wird zeitgeistig omnipräsent. In der Ausgabe Nr. 20/2013 des Spiegel war sie sogar Titelthema: Leben nach Zahlen.

Big Data - Big Illusion
Foto: Kurhan - Fotolia.com

Dabei geht es mir nicht darum, prinzipiell die Möglichkeiten von Big Data zu kritisieren. Es ist vielmehr die Aussage von Rometty, die äußerst fragwürdig ist: Wollen wir wirklich, "dass unsere Welt auf den unbewussten psychologischen Mechanismen und dem Instinkt einiger weniger Entscheidungsträger basiert?"

Damit nicht genug. Hal Varian, Chefökonom von Google, prophezeit für das 21. Jahrhundert den angeblich wichtigsten Beruf: Statistiker. Keine Frage, wenn man quantitative Daten analysieren will, braucht es Statistiker. Und Daten haben wir natürlich in Massen, quantitative und qualitative, mehr als je zuvor. Im Jahr 2010 entstanden noch 1200 Exabyte, wobei ein Exabyte einer Milliarde Gigabyte entspricht. Im Jahr 2020 sollen es der International Data Corporation (IDC) zufolge 40 Zettabyte sein. Das wären dann 40.000 Exabyte. Sprich: 40 Billionen Gigabyte. Ich glaube sie können sich ungefähr vorstellen, was das bedeutet. Denken Sie nur daran, was Sie alles auf Ihrem PC oder Laptop gespeichert haben.

Big Data: Neue Berufsbilder
Big Data: Neue Berufsbilder
In den teilweise euphorischen Einschätzungen von Markforschern und IT-Unternehmen ist immer wieder die Rede von neuen Berufsbildern, die Big Data mit sich bringen soll. Dazu zählen unter anderem folgende Tätigkeiten:
Data Scientist
Er legt fest, welche Analyseformen sich am besten dazu eignen, um die gewünschten Erkenntnisse zu erzielen und welche Rohdaten dafür erforderlich sind. Solche Fachleute benötigen solide Kenntnisse in Bereichen wie Statistik und Mathematik. Hinzu kommen Fachkenntnisse über die Branche, in der ein Unternehmen beziehungsweise tätig ist und über IT-Technologien wie Datenbanken, Netzwerktechniken, Programmierung und Business Intelligence-Applikationen. Ebenso gefordert sind Verhandlungsgeschick und emotionale Kompetenz, wenn es um die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen geht.
Data Artist oder Data Visualizer
Sie sind die "Künstler" unter den Big-Data-Experten. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Auswertungen so zu präsentieren, dass sie für Business-Verantwortliche verständlich sind. Die Fachleute setzen zu diesem Zweck Daten in Grafiken und Diagramme um.
Data Architect
Sie erstellen Datenmodelle und legen fest, wann welche Analyse-Tools Verwendung finden und welche Datenquellen genutzt werden sollen. Auch sie benötigen ein umfassendes Know-how auf Gebieten wie Datenbanken, Datenanalyse und Business Intelligence.
Daten-Ingenieur
Diese Aufgabe ist stark auf die IT-Infrastruktur ausgerichtet. Der Dateningenieur ist das Big-Data-Analysesystem zuständig, also die Hard- und Software sowie Netzwerkkomponenten, die für das Sammeln und Auswerten von Daten benötigt werden. Eine vergleichbare Funktion haben System- und Netzwerkverwalter im IT-Bereich.
Information Broker
Er kann mehrere Rollen spielen, etwa die eines Datenhändlers, der Kunden Informationen zur Verfügung stellt, oder die eines Inhouse-Experten, der Datenbestände von unterschiedlichen Quellen innerhalb und außerhalb des Unternehmens beschafft. Außerdem soll er Ideen entwickeln, wie sich diese Daten nutzbringend verwenden lassen.
Data Change Agents
Diese Fachleute haben eine eher "politische" Funktion. Sie sollen bestehende Prozesse im Unternehmen analysieren und anpassen, sodass sie mit Big-Data-Initiativen kompatibel sind. Nur dann lässt sich aus solchen Projekten der größtmögliche Nutzen ziehen. Wichtig sind daher ausgeprägte Kommunikationsfähigkeiten, Verständnis für Unternehmensprozesse sowie Kenntnisse im Bereich Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement (Six Sigma, ISO 9000).

Angeblich intuitive Entscheidungen

Rometty - stellvertretend für viele anderen Big Data-Fürsprecher - übersieht in Ihrer Argumentation jedoch folgenschwere Punkte:

Erstens sind Studien zur Risikoeinschätzung, so wie sie Rometty zitiert, häufig fragwürdig. Wenn Risk Manager nach dem häufigsten Risiko befragt werden und antworten, dies seien Geschäftsführungsentscheidungen auf der Basis von Intuition, dann sollten wir uns folgende Fragen stellen: Wie wurde von den Befragten eigentlich "Intuition", respektive "intuitives Entscheiden" definiert? Gibt es ein einheitliches, vergleichbares Verständnis? Wie wird belegt, dass die Entscheidungen tatsächlich intuitiv erfolgt sind? Wie kann sichergestellt werden, dass die angeblich intuitiven Entscheidungen nicht einfach falsche rationale Entscheidungen waren?

Denn das Hauptproblem sei angeblich der Ankereffekt, sprich: zufällige Daten, die bewusst oder unbewusst von einem Entscheider wahrgenommen wurden, beeinflussen ohne jeglichen inneren Zusammenhang darauf folgende Entscheidungen - siehe ausführlich: Der Ankereffekt. Nun sind Entscheidungen, die durch den Ankereffekt verzerrt werden, keineswegs automatisch intuitive Entscheidungen, sondern können auch rationaler Natur sein.

Zweitens ist es natürlich richtig, Einzelentscheidungen von großer Tragweite zu hinterfragen. Aber eben nicht nur, wenn diese intuitiv erfolgen, sondern auch (scheinbar) rational. Denn Fehlurteile können genauso gut entstehen, wenn die Entscheider ihre Entscheidungen begründen können. Schließlich sind nicht alle unternehmerischen Entscheidungen umgekehrt intuitiv. Nein, die meisten Entscheidungen werden vielmehr immer noch rational mit Zahlen, Daten und Fakten begründet - was ja auch seine Berechtigung hat.

Also können auch rationale Einzelentscheide Fehlurteile hervorrufen. Und vor allem: Sie entmündigen den allergrößten Teil der Mitarbeiter eines Unternehmens. Die Folge sind Sinnentkopplung und Entfremdung, was wiederum dazu führt, dass gemäß des Gallup Engagement Index2012 rund 85 Prozent aller deutschen Mitarbeiter nicht engagiert bei der Arbeit sind. Schließlich ist Mitgestaltung der eigenen Arbeit ein zentraler Aspekt der Arbeitszufriedenheit. Und dazu gehören auch die großen, wegweisenden Entscheidungen wie Strategieentwicklung, die bislang eben immer noch einer winzigen Elite der Geschäftsführung und des Vorstands vorbehalten sind.

Sieben Geschäftsmodelle für Big Data
Sieben Geschäftsmodelle für Big Data
Die von BCG identifizierten sieben Haupterfolgsmodelle beinhalten eine Mischung aus B2C- und B2B-Angeboten.
1. Build to Order:
Produkte und Services werden für Kunden maßgeschneidert - zum Beispiel, indem aus Location-Daten verschiedener GPS-Geräte eine individualisierte Verkehrsanalyse für ein städtische Planungsabteilung entwickelt wird. Vorteile dieses Modells seien der besondere Wert der Leistungen und die gesteigerte Kundenzufriedenheit. Dafür müssen die Kunden aber längere Wartezeiten in Kauf nehmen; überdies lassen sich die speziellen Produkte und Leistungen nur schwer weiterverkaufen.
2. Service Bundle:
Verschiedene Angebote werden miteinander verschmolzen. Energiehändler können beispielsweise die Gas- und Stromversorgung und die Energiesparberatung zu einem Service-Paket schnüren. Das kann laut BCG sehr profitabel sein, Konkurrenz aus dem Markt treiben und Cross-Selling-Möglichkeiten eröffnen. Hinterher ist es aber schwierig, die Verkaufspakete wieder aufzulösen. Und den Kunden muss nicht schmecken, dass sie den Wert der einzelnen Komponenten nicht mehr mühelos in Erfahrung bringen können.
3. Plug and Play:
Hier gibt es das immer gleiche Produkt für alle Kunden. Banken können beispielsweise Berichte über das Ausgabenverhalten ihrer Kunden verkaufen, die auf Basis gesammelter und anonymisierter Daten erstellt werden. Derartige Angebote lassen sich leicht zusammenstellen. Die Gefahr: Die Kunden könnte Personalisierung vermissen - und eventuell zur Konkurrenz flüchten.
4. Pay per Use:
Bezahlt wird nur, was auch gebraucht wird. BCG nennt als Beispiel ortsabhängige Skisportversicherungen. So lassen sich gute Margen realisieren; allerdings fehlen stabile Umsatzquellen - und die Akquisitionskosten können ausufern.
5. Commission:
Dauerhaftere Beziehungen lassen sich auf andere Weise etablieren. Zum Beispiel, indem Banken Kreditkartentransaktionen analysieren und Lokalen und Geschäften gegen Gebühr Rabatte gewähren. Diese basieren dann auf den generierten Umsätzen. Das Problem laut BCG ist hier die mangelnde Berechenbarkeit der Geldflüsse.
6. Value Exchange:
In diesem Modell bietet ein Dritter, der zwischen Unternehmen und Kunde steht, Rabatte oder zusätzliche Services an. So lassen sich die vom Marketing gewünschten Gruppen gezielt ins Visier nehmen. Langfristig kann es auch BCG-Sicht aber unerwünscht sein, bei diesen Geschäften einen weiteren Partner im Boot zu haben.
7. Subscription:
Abonnementlösungen sind laut BCG zum Beispiel im Healthcare-Segment möglich. So kann Patienten ein anonymisierter Informationsdienst angeboten werden, über den medizinische Befunde ausgewertet werden. Diese Geschäfte sind einerseits von stabilen und damit berechenbaren Umsätzen gekennzeichnet, dafür sind andererseits die Margen entsprechend niedrig.

Wollen wir uns degradieren?

Drittens ist Big Data nicht die Universallösung für Entscheidungsprobleme. Vorhersagende Analysemethoden haben ihre Berechtigung. Sie können sinnvoll sein. Aber sie werden uns nicht alle Entscheidungen abnehmen. Und damit bleibt immer ein Anteil an Entscheidungssituationen, in denen wir nicht rational entscheiden können, weil wir nicht ausreichende Informationen zur Verfügung haben, zu viele Daten haben, oder Daten widersprüchlich, unverständlich oder nicht vertrauenswürdig sind. Dann können wir, mein altes Mantra, würfeln oder auf unsere Intuition achten.

Viertens beißt sich die Katze in den Schwanz: Die Techniken, dank derer wir zunehmend mehr Daten verarbeiten können, führen gleichzeitig dazu, dass wir immer mehr Daten produzieren. Der Horizont endgültiger, allumfassender Datenverarbeitung wird damit immer vor uns hergeschoben. Wir werden immer mehr Daten haben, als wir verarbeiten können.

Fünftens gilt: Sollten wir wider Erwarten doch eines Tages alle, absolut alle unternehmerischen Entscheidungen via Big Data treffen können (was mir im Moment unmöglich erscheint), dann stellt sich die für uns alle wichtige Frage: Wollen wir uns selbst zum Erfüllungsgehilfen maschineller Entscheidungen degradieren? Dann wäre es nicht mehr weit bis zur Matrix-Dystopie. Folgerichtig müssten wir uns dann nur noch zum Energielieferanten für die von uns geschaffenen Maschinen selbst versklaven.

Sechstens sollte, wer Intuition hinterfragt, selbst genau wissen, was Intuition eigentlich ausmacht. Und das Intuition keineswegs gleichzusetzen ist mit "Instinkt". Letztere ist rein reaktiver, vorgefasster Natur. Instinkt ist im Gegensatz zu Intuition nicht kreativ. Sie benötigen auch keinen individuellen Erfahrungsschatz und damit verbundene Lernprozesse. Sie erfolgen rein automatisch. Die einzige Überlappung zur Intuition besteht darin, dass Instinkte ebenfalls unbewusst ablaufen.

Alles in Allem scheint mir der Big Data-Hype vor allem Zeugnis abzulegen für unsere Sehnsucht, doch noch die vollständige Kontrolle zu erlangen. Wer die Zukunft exakt vorhersagen kann, ist allmächtig. So wären wir endlich der lästigen Unsicherheit entronnen, die das Leben bislang noch so mit sich bringt.

Foto: Andreas Zeuch,Wiley, Weinheim, 2010

von Andreas Zeuch.

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Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag von CFOworld.de. (mhr)