Social Media ist weit mehr als Technik

Brechts Social Web

01.01.2014 von Jan-Bernd Meyer
Social Media sind kein technisches Phänomen. Die Sprengkraft steckt in der Wirkung, die partizipatives Denken und Handeln entfaltet - im Guten wie im Schlechten.

Die Redaktion der COMPUTERWOCHE hat in den vier QUADRIGA-Sonderpublikationen aufgezeigt, welche Möglichkeiten den großen IT-Entwicklungen Cloud, Mobility, Big Data und Social innewohnen. Social ist von den drei anderen Trends abzuheben. Cloud Computing, Mobility und Big Data definieren sich zunächst einmal über neue technische Möglichkeiten. Social hingegen weist grundsätzlich über den Technik-aspekt hinaus. Dies gilt sowohl für Unternehmen als auch für die private und die gesellschaftliche Sphäre.

Social Media - eine Entwicklung verändert die Welt
Heute ist klar: Social Media kann Gesellschaften ebenso auf den Kopf stellen wie Geschäftsprozesse radikal ändern. Einen Weg zurück gibt es nicht.
Was im Internet in 60 Sekunde passiert
Quellen: www.pcmag.com, www.go-gulf.com, www.businessinsider.com, www.dailymail.co.uk, www.4mat.com, www.scoop.intel.com, IDC, Gartner, eigene Recherche
Genutzt Internet-Dienste
n = 6.739; Mehrfachnennungen; Angaben in Prozent
Die 20 Firmen mit den meisten Fans bei Facebook im Oktober 2013
Weltweit; Angaben Millionen Fans
Die Top 10 der deutschsprachigen Leitmedien der Social-Network-Nutzer im September 2013
Welche Magazine, Nachrichten-Websites und Blogs werden bei Facebook, Twitter und Google+ am häufigsten empfohlen, geliket, verlinkt?

Business kontra IT: 3 Top-Gründe
Angaben in Prozent; Untersuchung von Experton bei 309 deutschen Unternehmen mit mindestens 100 Mitarbeitern.

Welche sozialen Medien besuchen Nutzer am häufigsten?
Unique Visitors pro Monat in Tausend vom Dezember 2012 bis Mai 2013
Haben sich Ihre Social-Media-Aktivitäten für Ihr Unternehmen bisher gelohnt?
2012In Prozent (Anteil der Befragten); Deutschland; Basis 2012: n = 124, Basis 2011: n = 13;Forschungswerk; Business Intelligence Group; 2011 und 2012

Nutzer von sozialen Netzwerken von 2011 bis 2017 weltweit
Internet-Nutzer, die ein soziales Netz mit irgendeinem Gerätetyp mindestens einmal im Monat besuchen.

Internet und Gewalt
n = 1.953; Angaben in Prozent; Kategorie „weiß nicht“ wurde nicht berücksichtigt

Welche sozialen Netze nutzen die Fortune 500-Unternehmen?
Prozentanzeil der Nutzung von jedem der sozialen Netze im Juli 2013

Welche der folgenden Social-Media-Marketing-Instrumente setzen Sie ein?
Anteil der Befragten in Prozent; Deutschland; n 0 536 Unternehmen
Warum sind Sie "Fan" oder "Follower" von einem Unternehmen oder einer Marke?
In Prozent

Wenn Facebook eine Nation wäre ...

Welche genauen Ziele verfolgen Sie mit Ihrem Social-Media-Marketing-Maßnahmen?
Anteil der Unternehmen in Prozent; Deutschland; n = 616 Unternehmen
Wichtigstes Medium
In Prozent; alle Befragten (n = 3.050; 70.214 Mio. Personen ab 14 Jahre); 2011: 3.076 Befragte; 2009: 2.000 Befragte; In Prozent; alle Befragten (n = 3.050; 70.214 Mio. Personen); Max. VS / HS: n = 589; 26,706 Mio.); Mittlerer Bildungsab-schluss (n = 1.039; 23,760 Mio.); (Fach-) Hochschule (n= 1.388; 18,312 Mio.)

Kann man soziale Medien ignorieren?

Sehr eindrücklich zeigt beispielsweise die Ausstellung des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe "Kairo. Neue Bilder einer andauernden Revolution", welch politische Bedeutung Beiträge, Fotos und Posts in sozialen Medien wie Twitter, Flickr, Facebook etc. haben können. Die "Instrumentalisierung dieser Bilder im Kampf um die öffentliche Deutungshoheit des Geschehens zeigt ihre Macht und die Widerständigkeit, die ihnen zugetraut werden", schreiben die Ausstellungsmacher.

Alan Rusbridger, Chefredakteur des "Guardian", hat schon sehr früh beschrieben, was es bedeutet, wenn die breite Öffentlichkeit politische Geschehnisse wahrnimmt und deutet. Mit Blick auf die sozialen Medien fragt er: "Natürlich können wir das ignorieren. Aber sollten wir das?"

Inzwischen dürfte die Frage eher lauten, ob man das Social Web überhaupt noch ignorieren kann. Adornos Satz von der normativen Kraft des Faktischen gibt darauf die passende Antwort: Nein.

Social Media ist weit mehr als Technik
Foto: fotografiedk, Fotolia.com

Den Namen Rebecca Marino dürften nur die wenigsten kennen. Die Kanadierin hatte es vor zwei Jahren in der WTA-Rangliste des Frauentennis immerhin bis auf Rang 36 der weltweit besten Tennisspielerinnen geschafft. Anfang 2013 gab Marino mit nur 22 Jahren ihr Karriere-ende bekannt. Der Grund: Depressionen. Einer der Auslöser war das, womit Prominente aus den unterschiedlichsten Bereichen heute ständig konfrontiert sind: mit Kommentaren in sozialen Medien: "Ich habe dort Kommentare bekommen, die sehr verletzend waren." Sie seien nicht der Grund ihres Rücktritts gewesen, aber "von mir haben die sozialen Netzwerke ihren Tribut gefordert".

Das Beispiel der deutschen Hochspringerin Ariane Friedrich zeigt, wie elementar soziale Medien in persönliche Lebensgeschichten eingreifen können. Gegenüber den Medien sagte sie, je bekannter man werde, "desto mehr muss man sich anscheinend gefallen lassen". Der Fall Friedrich war insofern ein elementarer Aufreger, als sie Namen und Adresse eines Stalkers auf ihrer Facebook-Seite veröffentlicht hatte. Hiermit löste sie aber erst recht einen Aufruhr aus. Zum Verhängnis wurde ihr wohl, dass praktisch gleichzeitig der Fall der elfjährigen Lena aus Emden publik wurde, die in einem Parkhaus geschändet und ermordet worden war. Hier hatte die Polizei zunächst einen falschen Verdächtigen festgenommen. Dieser wurde daraufhin im Internet massiv gemobbt und bedroht.

Solche Vorfälle gibt es zuhauf. Deutschlands Tennishoffnung Angelique Kerber bekam auf ihrer Facebook-Seite Todesdrohungen, nachdem sie in Wimbledon 2013 in der zweiten Runde ausgeschieden war - manche vermuten dahinter die Wettmafia. Mario Götze und Manuel Neuer wurden nach ihren Wechseln zum FC Bayern übelst beschimpft. Und gerade erst musste der Leverkusener Stürmer Stefan Kießling nach seinem "Phantomtor" gegen Hoffenheim einen Shitstorm über sich ergehen lassen. Die ZDF-Redaktion erntete 2012 nach einem Interview von Claus Kleber mit Irans damaligem Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad binnen weniger Stunden über 1000 teilweise hasserfüllte Kommentare.

In großen Unternehmen weiß man heute, was solche Übergriffe im Social Web bedeuten können, und trifft Vorkehrungen. Der britische Versicherer XL Group gab dazu im Oktober 2013 eine Studie in Auftrag und fand heraus: Fast ein Viertel der befragten 18- bis 34-Jährigen nutzen soziale Netze, um sich über Unternehmen und deren Produkte zu beschweren. Tendenz steigend.

Menschen interagieren mit Marken

Ed Mitchell von der XL Group sagt: "In dem Maße, in dem Menschen soziale Medien in ihr Alltagsleben integrieren, werden sie mehr und mehr mit Unternehmen und deren Marken interagieren." Für Firmen, die via Like-Button positive Rückmeldungen erhielten, sei das natürlich großartig. Wenn ihnen im Social Web aber etwa wegen Produkt- oder Servicemängeln der Wind ins Gesicht wehe, "brauchen sie Werkzeuge und Kompetenzen, um zu reagieren" - und das möglichst schnell.

Die Macht des Geldes
Wir haben einmal die Treiber der „Social-Media-Bewegung“ aufgeführt und sie nach ihrer Marktkapitalisierung eingeordnet. Außerdem haben wir den am 29. Oktober 2013 ermittelten Aktienkurs angegeben.
Platz 4: Facebook
Marktkapitalisierung in Milliarden Dollar: 126,51 <br> Aktienkurs in Dollar (per 29.10.2013): 50,29
Platz 2: Google
Marktkapitalisierung in Milliarden Dollar: 340,91 <br> Aktienkurs in Dollar (per 29.10.2013): 1017,01
Platz 1: Apple
Marktkapitalisierung in Milliarden Dollar: 477,83 <br> Aktienkurs in Dollar (per 29.10.2013): 530,81

Radikale Antworten sind nicht die Lösung

Die Antwort, die das amerikanische Wissenschaftsmagazin "Popular Science" auf die unberechenbare Crowd gab, ist so radikal wie einzigartig: Man entschied schlicht, keine Kommentare mehr zuzulassen. Als Erklärung hieß es, es gebe wissenschaftliche Belege dafür, dass Minderheiten die Wahrnehmung von Beiträgen beeinflussen könnten. Soziale Netze seien das optimale Biotop für solche Minoritäten, sie könnten dort ihre Wirksamkeit voll entfalten.

Beraterin Julia Johnson, die eng mit dem Versicherer XL Group zusammenarbeitet, gibt den Leuten von "Popular Science" insofern recht, als sie feststellt: "Wenige negative Kommentare in sozialen Medien können unverhältnismäßig große Auswirkungen auf eine Firma haben."

Social Media Blueprints by Salesforce.com
Die Bloggerin Jennifer Burnham zeigt in ihrer Vorlagensammlung „Blueprints for the perfect Posts“ von Salesforce zeigt wie optimale Beiträge auf Facebook, Twitter, Linkedin & Co aussehen.
Facebook Blueprint
Darin ist zu sehen, dass sich ein Facebook-Beitrag deutlich...
Twitter Blueprint
...von einem Tweet unterscheidet.
Follow Buttons
Addthis erzeugt auf Knopfdruck schicke Buttons, um von der Website aus Fans und Follower zu gewinnen.
Share Buttons
Das Rüstzeug zum Weiterempfehlen hat Addthis ebenfalls parat.
Social Plug-Ins
Die Social-Plug-Ins-Übersichtsseite bietet Weiterempfehlungs-Werkzeuge für die eigene Website.
Like-Box
Auch die bekannte Like-Box kann hier zusammengeklickt und dann auf der eigenen Seite eingebunden werden.
Twitter Developers
Auch Twitter hat einen Entwicklerbereich, aus dem sich Follow-Buttons und vieles mehr kostenlos per Quellcode holen lassen.
Twitter Follow Button
Hier findet sich der bekannte Follow-Button. Es lassen sich aber auch komplette Twitter-Zeitleisten in die eigene Website einbinden.
Beitrag hervorheben
Facebook gibt im Klappmenü zum Hervorheben von Beiträgen schon eine Schätzung der potenziellen Zielgruppe und mit welchem Budget welche Reichweite erzielt werden kann.
Werbeanzeige Facebook
Facebook bringt bei Werbeanzeigen für eine Seite schon eine Schätzung, wie viele Fans pro Tag vermutlich dazu kommen werden.
Twitter Werbung
Schade: Twitter legt interessierten Werbepartnern noch einige Steine in den Weg.

United Breaks Guitars

Bezeichnend ist die Geschichte des kanadischen Musikers David Carroll und seiner Band Sons of Maxwell. Carroll und den Bandmitgliedern war es vom United-Airlines-Bordpersonal verboten worden, ihre Gitarren mit in die Kabine zu nehmen. Sie mussten dann mit ansehen, wie die teuren Instrumente beim Verladen zu Bruch gingen. Der Beitrag von "CNN" über die Geschichte wurde zu einem Hit im Web. Das von Carroll fabrizierte Video "United Breaks Guitars" auf Youtube wurde mehr als 13,5 Millionen Mal angeklickt. Für die PR von United Airlines war der Vorfall ein Desaster.

Allerdings lernte die Fluggesellschaft aus dem Flop. Sie nutzte das Video als Anschauungsmaterial für die eigenen Mitarbeiter, um die Servicequalität zu erhöhen.

Kampagnen gezielt ausrollen

Es geht aber auch anders: Lufthansa-Systems-CIO Jörg Liebe, dem das United-Airlines-Debakel natürlich bekannt ist, nennt das Mercedes-Beispiel der Markteinführung eines neuen Autos. Um den Launch möglichst wirkungsvoll in Szene zu setzen, habe der Autokonzern sich zunächst ein paar Fragen gestellt: Wer hat sich in den sozialen Netzen als Autobegeisterter zu erkennen gegeben? Wer von diesen sind die "Influencer"? Wer ist also bei Twitter oder Facebook ein Meinungsführer, wenn es um Fragen zu Autos geht?

Als das klar war, startete Mercedes eine gezielte Kampagne an vergleichsweise wenige Adressaten. Die aber traten als Multiplikatoren auf, indem sie diese Kampagne via Retweets verbreiteten. Liebe: "Mit diesem Vorgehen hatten sie einen Effekt, den sie mit einer teure Marketing-Kampagne nicht hätten haben können."

Julia Johnson sagt denn auch: "Social Media können zum einen ein wertvoller Indikator sein, um auf Probleme aufmerksam zu machen." Zum anderen aber sei es auch ein effizienter Kanal, um mit Konsumenten zu kommunizieren.

Die Unternehmensansprache muss aber nicht nur nach außen, sondern auch nach innen gerichtet sein. Peter Schütt skizziert in seinem Buch "Der Weg zum Social Business", an welchem Wendepunkt die Menschen angekommen sind. Der bei IBM für Social-Business-Strategien verantwortlich zeichnende Manager beschreibt diesen Wendepunkt als "Transformation von Organisationen und Unternehmen von überwiegend hierarchisch-zentralistischen Strukturen hin zu partizipativen Prozessen, hin zum Mitmach-Unternehmen".

Bertolt Brecht als Ideengeber

Übrigens stammt, wenn man so will, eine sehr frühe Kommunikationstheorie der sozialen Medien von Bertolt Brecht. Der forderte in seinen Radiotheorien: "Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen." Ersetzt man den Begriff Rundfunk durch soziale Medien, hätte man deren Charakter definiert. (mhr)