Low-Code Day 2023

"Der größte Paradigmenwechsel"

10.10.2023 von Heinrich Vaske
Kann die Low-Code-Entwicklung Behörden und Unternehmen helfen, ihren digitalen Rückstand schnell aufzuholen? Das war Thema beim ersten German Low-Code Day 2023 in Hannover.
Horst Baier, CIO des Landes Niedersachsen, bezeichnete die Low-Code-Softwareentwicklung als Chance, um den digitalen Rückstand der Behörden aufzuholen.
Foto: berlin-event-foto.de/Peter-Paul Weiler

Wie gelingt es, der öffentlichen Verwaltung den längst überfälligen Schub in Sachen Digitalisierung zu geben? Horst Baier, CIO des Landes Niedersachsen, hat da eine Idee: In seiner Keynote auf dem ersten German Low-Code Day bezeichnete er den Softwareentwicklungs-Ansatz als einen der drei Hebel, mit denen sich die Verwaltung schnell modernisieren lasse. Low-Code stehe hier gleichberechtigt neben künstlicher Intelligenz (KI) und Cloud Computing.

So wie bisher könne es nicht weitergehen, sagte Baier. Ohne moderne Ansätze würden die Behörden niemals das nötige Tempo erreichen. Die Schnelligkeit, mit der sich auch große Verwaltungslösungen aufsetzen ließen, mache den Einsatz von Low-Code-Technologien zu einer spannenden Option.

In Niedersachsen setzt die Politik auf schnelle Low-Code-Lösungen

Auf der Veranstaltung der Low-Code Association e. V., die ihren Kongress in Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsministerium Niedersachsen abhielt, kam diese Nachricht gut an. Im "Low-Code-Land Niedersachsen" stehe die Politik voll hinter dieser Entwicklung, ließ Baier durchblicken. So seien bereits mehrere auf Low-Code basierende Großverfahren im Einsatz, etwa bei der Polizei oder den Ausländerbehörden. Wie die Verwaltung auch in anderen Bereichen schneller digitalisiert werden kann, war eines der Schwerpunktthemen des Kongresses.

Diskutiert wurde etwa, wie IT-Lösungen für Fachverfahren von zwei entgegengesetzten Seiten aufgegriffen werden können. Als Beispiel für eine "Annäherung von unten" steht demnach der Bausteinansatz der Hamburger Verwaltung, der sich als leicht erlernbar und gut handhabbar erwiesen habe. Er scheint für eher einfache Fachverfahren der kommunalen Verwaltung gut geeignet. Dem gegenüber steht der Ansatz, "von oben": Darin wird eine High-end-Low-Code-Plattform bereitgestellt, um die großen Fachverfahren von Bund und Ländern umsetzen zu können.

Diesen Ansatz verfolgen etwa die Anbieter Scopeland und LCSI: Beide wollen die eher komplexen, individuell konzipierten Systeme bauen. Eine wichtige Rolle spielt hier auch MGM Technology Partners, bekannt durch das mithilfe von Low-Code umgesetzte Elster-Verfahren für die elektronische Steuererklärung. Dabei handelt es sich sicher um eines der populärsten Beispiele erfolgreich umgesetzter komplexer Anwendungen.

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Prozessmodellierung neu gedacht

Die Konferenz widmete sich auch Fragen zur Projektorganisation. Die SQL Projekt AG konnte mit Anwendungsszenarien aufwarten, die wohl die wenigsten Besucher dem Thema Low-Code zugeordnet hätten. Neuigkeitswert hatten auch die effizienten Methoden der Prozessmodellierung, die von der Job Router AG und der Allisa Software GmbH gezeigt wurden. Letztere nimmt für sich in Anspruch, Prozesse ohne vorherige Modellierung digitalisieren zu können.

Dass auch die KI ein Diskussionsthema sein würde, überraschte wohl niemanden. Eine Frage lautete, welche Auswirkungen künstliche Intelligenz auf die Low-Code-/No-Code-Entwicklung haben wird, ein andere, ob entsprechende Anwendungen künftig wohl selbst KI-Eigenschaften aufweisen würden. Tatsächlich gab es darauf noch recht wenige gute Antworten.

Ebenso wurde über Vorgehensmodelle gesprochen, die das gut planbare klassische Entwicklungs-Management mit der flexibleren agilen Softwareentwicklung vereinen. Die Anbieter gehen hier unterschiedliche Wege - von eher unstrukturierten Ansätzen bis hin zu einer Tool- und teils auch schon KI-gestützte Kommunikation zwischen den Projektbeteiligten. Auch ein durchgeplantes phasenagiles Vorgehensmodell ist schon ein Thema. Alle gezeigten Ansätze haben eines gemeinsam: Sie sind auf Low-Code-Entwicklungsprozesse zugeschnitten.

Selbstbewusster Auftritt von Karsten Noack, dem Vorstandsvorsitzenden der Low-Code Association e.V. Seine Botschaft: Die Anbieter aus dem deutschsprachigen Raum können im internationalen Vergleich gut mithalten.
Foto: berlin-event-foto.de/Peter-Paul Weiler

Der Mittelstand ergreift die Low-Code-Chance

Auffällig in Hannover war auch die große Resonanz, die das Thema Low-Code bereits im Mittelstand und in bestimmten Industrien hat. Neben Branchenriesen wie Oracle und Outsystems zeigten sich hier viele Low-Code-Anbieter aus dem deutschsprachigen Raum, ihre Stände waren genauso stark frequentiert wie die der Platzhirsche. Ungewöhnlich großen Andrang gab es etwa auf den Ständen von Vision X aus Wien, sowie von Simplifier, Necara und engomo zu beobachten.

Generell zeigte sich in der Niedersachsen-Hauptstadt, dass sich europäische und deutsche Low-Code-Anbieter nicht verstecken müssen. Da die Technologie- und Methodenvielfalt groß ist und die Projekte besonders eng entlang der Kundenbedürfnisse umgesetzt werden müssen, scheint die Dominanz der Großkonzerne weniger stark ausgeprägt zu sein als bei konventionellen, zielgruppenneutralen Entwicklungssystemen.

Was zeichnet einen Low-Code-Developer aus?

Auch die Wissenschaft war in Hannover präsent: Fraunhofer FOKUS stellte ein umfassendes Low-Code-Canvas zum Thema 'Gestaltungsaspekte von Low-Code-Plattformen' vor. Und die Hochschule Konstanz für Technik, Wirtschaft und Gestaltung (HTWG) wertete die Erkenntnisse aus mehr als zehn wissenschaftlichen Studien zum Einsatz von Low-Code Plattformen aus und gab so einen guten und umfassenden Überblick.

In den Diskussionen an den Ständen kreisten die Expertengespräche auffällig oft um das neue Rollenverständnis, das den Low-Code Developer auszeichnen müsse: Gefragt sind demnach Universalisten, nicht Spezialisten. Sie sollten - anders als klassische Software-Entwickler - eher offen und zugewandt als introvertiert sein. Ein breites Fach- und IT-Wissen ist wichtiger als Tiefenkenntnisse, da technisch schwierige Aufgaben von der Low-Code-Plattform übernommen werden. Wozu sollte man etwa seine Teams in Frontend- und Backend-Entwickler aufteilen, wenn die Plattform sich selbst organisiert und "weiß", was auf dem Server und auf dem Client abzuarbeiten ist?

Low-Code stellt bisherige Methoden und Rollen in Frage

Ein Höhepunkt der Veranstaltung war die abschließende Podiumsdiskussion, in der die Teilnehmer sich alle Mühe gaben, deutlich zu machen, dass der Low-Code-Ansatz Verwaltung und Wirtschaft schneller in die digitale Zukunft führen kann. Die Technologie sei zudem die vielleicht einzig realistische Antwort auf den allgegenwärtigen Fachkräftemangel.

An der Roundtable-Diskussion auf dem Low-Code Day 2023 in Hannover nahmen teil (v.l.n.r.): Markus Bernhart von Necara, Niedersachsens CIO Horst Baier, Jan Berger von Themis Foresight, Karsten Noack von Scopeland, René Ebert vom Verband SIBB, Gregor Lietz von LCSI und Mark Sewtz von Oracle.
Foto: Roundtable-Diskussion auf dem Low-Code Day 2023 in Hannover

Für viele überraschend kam auch das klare Bekenntnis von Mark Sewtz, Senior Director of Software Development bei Oracle: Er betonte, welch überragenden Stellenwert die hauseigene Low-Code-Plattform APEX inzwischen für das Unternehmen habe und wie konsequent sich Oracle auf Low-Code umstelle. Eine ähnliche Ankündigung war vorher so ähnlich auch von SAP zu hören gewesen.

"Low-Code stellt nicht nur die bisherige Entwicklungsmethodik in Frage, sondern auch alles drum herum: das Rollenverständnis der beteiligten Mitarbeiter, das Berufsbild von Softwareentwicklern, die Organisationsstrukturen im IT-Bereich und viele Aspekte des Anforderungs-, Projekt- und Qualitätsmanagements", sagte Karsten Noack, Vorstandsvorsitzender der Low-Code Association e.V., in seiner Keynote. Es handele sich um den größten und umfassendsten Paradigmenwechsel in der Softwareentwicklung seit Jahrzehnten. (hv)