Alle Internetagenturen hassen Projekte und machen sie trotzdem

Der Traum der Produktfirma

12.09.2016 von Alain Veuve
Ich kann Ihnen sagen, 20 Jahre Projektgeschäft gehen nicht spurlos an einem vorüber. Fast alle in der Branche mit denen ich spreche, haben es eigentlich satt. Fast alle Digitalagenturen hegen daher früher oder später den Wunsch, ein Produkt zu lancieren. Dies ist meist zwei Dingen geschuldet: Der Frustration mit dem bestehenden Geschäft und der fehlenden Vorstellung, was Produkt-basiertes Business wirklich bedeutet.

Ganz ehrlich, ich konnte in vielen Jahren nur ganz selten ein Projekt erleben, das auf ganzer Ebene wirklich gut lief. Das heisst nicht, dass die anderen Projekte fehlschlagen, sondern es hat eher mit der Definition eines guten Projekts zu tun.

Das Dilemma: Keine Win-Win-Win Situationen

Ich denke in einem wirklich erfolgreichen Projekt muss es drei Gewinner geben:

  1. Der Kunde, weil er ein Produkt, das ihm den gewünschten ROI bringt, «in time & budget» erhält.

  2. Der Anbieter, der einen zufriedenen Kunden gewinnt und mit dem Projekt einen Gewinn erwirtschaften konnte.

  3. Und die Mitarbeiter des Anbieters, die ohne großen Stress in guter Atmosphäre ein gutes Produkt entwickeln konnten, dazulernten und mit dem Kunden Spaß hatten

In den meisten Projekten, so meine Erfahrung, leidet jedoch eine der Parteien. Meistens sind das die Mitarbeiter, die sich schlicht durchbeißen und teilweise einen ziemlich stupiden Zirkus mitmachen müssen. Sehen Sie sich um, es gibt genug Agenturen, die eine hohe Fluktuationsrate haben.

Luftschlösser sind im Traum schnell gebaut. Aber in einer Projektumsetzung haben sie nichts mehr zu suchen.
Foto: Andrushaka - shutterstock.com

Ich sehe hier die Unternehmer in der Pflicht zwei Dinge zu tun:
a) nur wirklich gute Mitarbeiter einzustellen und
b) diese dann auch zu schützen - nicht selten, muss man auch sagen, vor sich selber. Denn manch einer, gerade in jüngeren Jahren, mutet sich einfach zu viel zu und kann den Druck nicht durchstehen.

Meistens leidet auch der Gewinn der Agentur. Wenn alle Agenturen auch wirklich durchverrechnen können würde diese Branche finanziell ganz anders dastehen. Das tut sie aber nicht.

In eher seltenen Fällen büßt der Kunde für die anderen zwei Parteien. In der Regel aber wissen die Agenturen zu verhindern, dass solches in allzu krassem Masse durchschlägt. Also büßen eben einfach alle Parteien ein bisschen dafür. Das Resultat ist die Projektfrustration. Und ich kann mit gutem Gewissen sagen, es gibt keine nennenswerte Agentur in Deutschland und der Schweiz über die ich nicht schon denkwürdige Projektgeschichten gehört hätte.

Nachhaltigkeit des Business'

Projekte sind auch aus unternehmerischer Sicht irgendwie wenig nachhaltig. Denn ein Projekt zeichnet sich dadurch aus, dass es einen definierten Anfangs- und Endpunkt hat. Und die allermeisten Kunden haben gar nicht genug Projekte, um auch für einen langfristig nachhaltigen Umsatz bei einer mittelgrossen Agentur zu sorgen. Hat eine Agentur einen solchen Kunden mal an der Angel, ist sie allzu schnell von diesem Kunden abhängig, was auch wieder nicht so gut ist.

Ein weiterer Punkt ist: Vor dem Projekt ist nach dem Projekt. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass am Anfang in einer Agenturgeschichte, oder wenn sie neu in die Branche komm, ziemlich viel «Excitement» vorhanden ist. Das erste verkaufte Projekt über 100k, das erste 500k, das erste über 1M, das erste über 5M.

"The ceiling is the limit"

Das sind Momente die man nicht wieder vergisst. Aber der Champagner - oder mit was Sie die Erfolge am liebsten begießen - fließt von Mal zu Mal weniger. Am Ende dieser Entwicklung, gehen Sie nach dem Closing eines riesigen Deals einfach nach Hause und sitzen am nächsten Morgen im Office und jagen dem nächsten Ding nach.

Skalieren über Manpower

Ein weiteres Problem ist, dass sich Agenturbusiness im Moment nur zu einem wesentlichen Teil über Manpower skalieren lässt. Das ist aus unternehmerischer Sicht stupid. Denn gute Leute finden, ihnen tolle Arbeit zu geben und sie zu einem Teil des Unternehmens zu machen ist sehr schwierig - und teuer.

Produkt FTW!

Ein Produkt scheint alle diese Probleme zu lösen. Besonders ein Software-Produkt. Es kann grenzenlos kopiert und verkauft werden, praktisch ohne einen zusätzlichen Mitarbeiter einzustellen. Oder als SaaS in der Subskription für regelmäßige, wiederkehrende Umsätze sorgen. Und man ist den Stress los, denn die Kunden nutzen ja einfach das Produkt. Das ist weit weniger komplex als ein multidimensionales Projekt zu führen. Und: Yesss, endlich keine stressigen Termine mehr.

Sie merken schon: alles zu schön um wahr zu sein. Denn Produktbusiness ist genauso hart - einfach auf andere Weise. In den letzten Jahren wurde ich mit unzähligen Ideen gepitcht und ich gebe sehr gerne Feedback (einfach Mail schreiben und mir den Lunch bezahlen) und versuche auch nettes aber trotzdem ehrliches Feedback zu geben. Das ist oft sehr hart, denn was da an Produkt-Business-Ideen kommt ist vielfach einfach ein «Scratch-your-own-Itch»-Ding von Agenturinhabern die eben projektgeplagt sind. Die meisten Unternehmer machen fundamentale Fehler und haben verklärte Vorstellungen.

Strategische Grundlagen

Meistens scheitern Ideen an der grundsätzlichen strategischen Konzeption. Weit verbreitet ist zum Beispiel das Digitalisieren von bestehenden Prozessen. Auf den ersten Blick eine logische und gute Sache - nur basieren die meisten Ideen darauf, alteingesessene Prozesse und Branchenkonstellationen nun digital abdecken zu wollen. Ich halte das für bloßen Unfug.
Eine strategische Konzeption muss sich immer danach richten ein Kundenproblem zu lösen. Je einfacher und günstiger, desto besser.

Das Digitalisieren bestehender Kundenprozesse - um des Digitalisierens Willen - muss nicht immer das gewünschte Ergebnis bringen.
Foto: ra2studie - shutterstock.com

Überlegen Sie ohne bestehende Lösungen und Best-Practice im Kopf zu haben: wie würde ich das Kundenproblem mit den technischen Möglichkeiten heute lösen? Und überlegen Sie eben nicht: wie kann ich einen bestehenden Lösungsweg digitalisieren?

Funktionierenden Code zu haben ist noch lange kein Produkt

Oft treffe ich auch auf Menschen, die eine Applikation bereits laufen haben. Jene meinen in der Regel, man müsse es nun nur noch ein wenig aufhübschen, die Doku schreiben, einen Support und einen Cart einrichten und dann könne es losgehen. Das ist natürlich Quatsch, werden Sie sagen. Es ist ja selbstverständlich, dass Vermarktung und Verbreitung etc. viel Aufwand und Geld bedeutet. Und so ist es auch.

Aber noch davor kommt das Hardening des Codes. Es stellen sich Fragen wie:

«Vielfach kann die Codebasis mit den Zielen in Businessplänen nicht mithalten.»

Starten Sie trotzdem, kann es - es muss aber nicht - relativ bald zum Crash kommen. Nämlich dann, wenn das Produkt rege genutzt wird, Sie aber permanent Qualitätsprobleme haben. Das fühlt sich dann in etwa so an, wie ein Projekt in Schieflage - einfach mit 20.000 Projekt-Stakeholdern auf Kundenseite.

Support

Support ist wichtig. Ich weiss natürlich, dass viele Start-Ups sich radikal auf autonom funktionierende Plattformen konzentrieren und aus verschiedenen Gründen möglichst wenig menschliche Interaktion wünschen. Auch VCs pushen das in der Regel. So sympathisch mir das grundsätzlich ist, so hoch gewichte ich trotzdem richtig guten Support. Dies aus zwei Gründen:

  1. Es ist eine von zwei fundamentalen Möglichkeiten die Customer Experience zu gestalten - die andere ist das Produkt selber. Es gibt nichts besseres für eine Kundenbeziehung, als ein Problem, das der Support des Anbieters zur Zufriedenheit des Kunden in kurzer Zeit gelöst hat.Es ist mir unverständlich, warum so viele Unternehmen auf der einen Seite Unsummen in ihr Image investieren und sich auf der anderen Seite die beste Gelegenheit dem Kunden ein Image zu vermitteln, entgehen lassen. Statt dessen arbeiten sie im Supportfall mit out-gesourctem, schlecht geschultem Personal und zweifelhaften Reglements.

  2. Nie ist man dem Kunden näher. In keiner Umfrage die man breit anlegt und in keiner Marktforschung. Es ist die ultimative Möglichkeit mehr über die Bedürfnisse und Sorgen der Kunden zu lernen. Das wiederum ist der Rohstoff mit dem Sie ein wirklich herausragendes Produkt erarbeiten.

Eine Produktfirma werden

Der grösste Irrtum aber ist, dass es möglich sei, organisch aus einem Agenturbusiness in ein Produktbusiness zu wachsen. Natürlich gibt es Beispiele. Sehr prominent sind zum Beispiel Magento oder auch 37Signals, aber in aller Regel funktioniert das nicht.

Wie smarte Produkte Unternehmen verändern
Wie smarte Produkte Unternehmen verändern
Auf Basis der unendlichen Datenströme, die vernetzte Produkte und Maschinen liefern, entstehen auch neue Geschäftsmodelle. Hier einige Beispiele.
Tesla Motors
Bei vernetzten Produkten wird eine kontinuierliche Weiterentwicklung auch nach Verkauf möglich. Der E-Autohersteller Tesla z.B. will seine Autopilotfunktionen im Laufe der Zeit mit Softwareupdates ausbauen. Die gegenwärtige Software-Version 7.1 fügt die Lenkautomatik und die Parallel-Einparkautomatik hinzu. Im Bild der hochauflösende 17-Zoll-Touchscreen, der als Kommandozentrale für die meisten Fahrzeugfunktionen dient.
Bosch Güterwaggons
Bosch ist eines der deutschen Unternehmen, die beim Thema IoT ‚vorn dabei‘ sind. Eine neue Lösung zur intelligenten, vernetzten Echtzeit-Zustandsüberwachung von Güterwagen geht Mitte 2016 in Serie. Sie bietet Funktionen wie eine exakte Lokalisierung der Waggons, Informationen über die Transportbedingungen der Ladung, das Erkennen von Erschütterungen beim Rangieren und das Aufzeichnen der gefahrenen Kilometer eines Waggons für eine kilometerabhängige und zustandsbasierte Wartung.
CIIT 3D-Montageanleitung
Cyberbrillen sind ‚von gestern‘: Bei den Augmented Reality-Lösungen gibt es eine erste an Holografie erinnernde mobile Projektion, entwickelt vom Institut für industrielle Informationstechnik (inIT) der Hochschule OWL und IOSB-INA/Fraunhofer, bei der alle (3D-) Informationen, die der Monteur benötigt, einfach auf seinen Arbeitsplatz projiziert werden.
GE Turbine Brilliant Factory
General Electric stattet im Rahmen seiner ‚Brilliant-Factories‘-Initiative die Maschinen mit vernetzten Sensoren aus. Die Rückmeldedaten werden ausgewertet, um Stillstandzeiten zu verringern bzw. die Effizienz zu erhöhen. Einem der Werke sei es damit gelungen, die Produktion fehlerfreier Einheiten zu verdoppeln. Im Bild der Bau von Turbinen in der Brilliant Factory.
John Deere
Vernetzte Produkte lassen sich kostengünstig variieren: Der Landmaschinenhersteller John Deere stellt nur noch eine Standardgröße seiner smarten Motoren her. Die PS-Zahl wird dann je nach Bedarf per Software eingestellt.
Smoove
Mit der IoT-Plattform ThingWorx von PTC erstellte die französische Firma Smoove ein Fahrrad-Verleihsystem für Clermont-Ferrand in der Auvergne. Da die vernetzten Räder bei diesem Dienstleistungsmodell im Besitz von Smoove bleiben, wurde der Konstruktionsprozess angepasst und besonders auf Langlebigkeit und Diebstahlschutz geachtet. Die Räder kommen u.a. ohne eine Kette aus, haben pannensichere Reifen und diebstahlsichere Schrauben.
KTM - Reparatur mit Augmented Reality
PTC hat die IoT-Plattform ThingWorx mit der Augmented-Reality-Plattform Vuforia erweitert. Damit erhält dann ein Techniker, dem über ThingWorx ein Problem vom KTM-Motorrad gemeldet wird, die dazu passenden einzelnen Reparaturschritte visuell auf sein Tablet oder seine Datenbrille.

Denn ein Produktbusiness aufzuziehen ist extrem aufwändig und benötigt stete Arbeit. Das ist in kleinen Firmen besonders schwierig, weil Projekte eben auch gemacht werden müssen und sobald etwas nicht rund läuft wieder 100 Prozent Aufmerksamkeit benötigen. Vernachlässigt wird dadurch: wie könnte das Produkt anders sein?

Warum machen wir in der Digitalbranche Projekte?

Und so bleiben viele, auch wenn sie neue Ideen haben, dem Projektgeschäft treu. Denn es ist eben sehr einfach. Jemand der sich verkaufen kann tut sich mit jemandem der programmieren kann zusammen. Und schon steht die Agentur.
Schon klar, ich übertreibe. Aber es geht doch in diese Richtung. Da die Nachfrage derart hoch ist und die Kunden ein tiefes fachliches Niveau aufweisen, kann fast jeder mit gutem Digital-Know-How schon im ersten Monat Umsätze generieren.

Die wirkliche Herausforderung für Agenturen

Auch wenn viele Agenturinhaber einen Produktvertrieb als eine Art von höherem unternehmerischem Dasein betrachten, denke ich diese Vorstellung ist verklärt. Vielmehr erachte ich als wirkliche Herausforderung die Verselbstständigung des Geschäfts. Das heißt, das Agenturteam kann Projekte durchführen, ohne dass das Management involviert ist. Es ist für mich unglaublich, in wie vielen grösseren Agenturen ohne Führungsköpfe nichts geht. Auf dem täglichen Level wohlverstanden.

Das sollte für viele Unternehmer die Herausforderung sein, die es zu meistern gilt. Denn wenn das geschafft ist wäre da auch die Zeit und Energie sich um ein Produkt zu kümmern. Hätte. Wäre. Wenn.