Hannover Messe 2023

Deutsche Industrie muss digitalen Rückstand aufholen

24.04.2023 von Martin Bayer
Nachhaltiger, effizienter, digitaler – die deutsche Industrie will sich transformieren. Daten-Ökosysteme sollen dabei helfen. Doch viele Unternehmen sind verunsichert, welche Initiative die Richtige ist.
Die deutsche Industrie soll nachhaltiger und grüner werden - so die Botschaft von der diesjährigen Hannover Messe. Der entscheidende Habel dafür soll die Digitalisierung sein.
Foto: Hannover Messe

Steigende Energiepreise, Störungen in den Lieferketten und die anhaltenden Wirtschaftskrisen rund um den Globus - die Rahmenbedingungen für die deutsche Industrie waren schon einmal besser. Nichtsdestotrotz versprühte Bundeskanzler Olaf Scholz zum Auftakt der diesjährigen Hannover Messe Optimismus. "Die Transformation bietet eine riesige Chance für unser Land", sagte der deutsche Regierungschef. "Sie ist der große Treiber für Beschäftigung und Wachstum."

Kanzler Scholz: Vom Reden ins Machen

Scholz will diese industrielle Transformation "hier in Deutschland nun wirklich anpacken". Es gehe darum, vom Reden ins "Doing" kommen. Der SPD-Politiker räumte ein, dass in den vergangenen Jahren viel liegen geblieben sei. "Aber das holen wir jetzt auf." Dabei helfen sollen drei Dinge, die Scholz voranbringen will:

  1. klare, verlässliche, konkrete Ziele, um Investitionen sicher planen zu können,

  2. "Druck auf dem Kessel", um Geschwindigkeit aufzunehmen - O-Ton Scholz: "Deutschland-Tempo", und

  3. genügend Fachkräfte, die mit anpacken.

Die Ziele sind ambitioniert und dürften auch die hiesige Industrie vor einige Herausforderungen stellen. Scholz bekräftigte in Hannover, Deutschland bis 2045 zu einem der ersten klimaneutralen Industrieländer machen zu wollen. Dafür müssten dem Kanzler zufolge jeden Tag vier bis fünf Windräder, mehr als 40 Fußballfelder Photovoltaik-Anlagen, 1.600 Wärmepumpen und vier Kilometer Übertragungsnetze gebaut werden. "Das wird ein Kraftakt", räumte er ein.

Bundeskanzler Olaf Scholz taucht ab in virtuelle Welten - vielleicht hat er dort die goldenen Zeiten für die deutsche Industrie gesehen.
Foto: Deutsche Messe

Damit diese Herkulesaufgabe gelingt, will der SPD-Mann an zwei Stellschrauben drehen. Bürokratische Hindernisse sollen abgebaut, Genehmigungsverfahren beschleunigt werden. Darüber hinaus verwies Scholz auf eine umfassende Reform zur Fachkräftesicherung. Ausbildung und Weiterqualifikation gilt es auszubauen sowie Experten aus anderen Ländern nach Deutschland zu locken. Zu guter Letzt ließen milliardenschwere Zukunftsinvestitionen hoffen. Scholz nannte als Beispiele den Aufbau neuer Produktionsanlagen für Chips und Halbleiter bei Infineon in Dresden und bei Apple in München. Positive Zeichen gebe es außerdem in der KI-Forschung, der Robotik und der Mikroelektronik.

Olaf Scholz will digitalisieren und regulieren

In Sachen Digitalisierung herrscht in den Reihen der deutschen Industrie durchaus Zuversicht. Fast jeder zweite Produktionsbetrieb hierzulande (48 Prozent) sieht die eigene Branche bei digitalen Innovationen im internationalen Vergleich an der Spitze oder als Vorreiter. 29 Prozent verorten sie im Mittelfeld, 19 Prozent unter den Nachzüglern oder bereits abgeschlagen. Das sind Ergebnisse einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom unter 603 Unternehmen in Deutschland.

"Manufacturing-X" lässt hoffen

"Digitalisierung und Produktion gehören zusammen, Digitalbranche und Industrie rücken näher zusammen", sagte Bitkom-Präsident Achim Berg. Große Hoffnungen setzt man in der Branche auf die Initiative "Manufacturing-X", die anlässlich der Hannover Messe ihre nächste Entwicklungsstufe zündete. Dabei geht es ähnlich wie bei "Catena-X" in der Automobilbranche darum, eine durchgängige und unternehmensübergreifende Datenvernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Betriebe zu erreichen.

"Die deutsche Industrie wird fit für die Datenökonomie", hofft Bitkom-Chef Berg. Derzeit finde ein Datenaustausch zwischen Unternehmen nur punktuell statt und es gestalte sich in der Praxis noch schwierig, Daten entlang der Lieferketten zu teilen. Das soll sich mit Manufacturing-X ändern. Das Datenteilen werde deutlich einfacher und es ließen sich ganze Wertschöpfungsnetzwerke besser aufeinander abstimmen, so die Erwartungshaltung der Beteiligten. "So können Unternehmen zum Beispiel auf Störungen in Lieferketten frühzeitig reagieren, die Produktion schneller anpassen und Lieferverzögerungen vermeiden", sagte Berg. "Gleichzeitig werden mit Manufacturing-X aber auch völlig neue, datenbasierte Geschäftsmodelle in der Industrie möglich."

Neben mehr Effizienz und einem daraus resultierenden besseren Standing im weltweiten Wettbewerb, könne Manufacturing-X dem Bitkom zufolge auch an anderer Stelle unterstützen. Die Initiative sei auch ein wichtiger Schritt in Richtung einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft und nachhaltigeren Produktion. Damitkönne sie einen bedeutenden Beitrag für das Erreichen der Klimaziele leisten.

IT-Branche ist skeptisch - deutsche Industrie verliert den Anschluss

An anderer Stelle sieht man die digitalen Fortschritte der hiesigen Industrie allerdings deutlich skeptischer. "Die deutsche Industrie droht in Sachen Digitalisierung international den Anschluss zu verlieren", warnte Oliver Süme, Vorstandsvorsitzender des eco Verbands. Das Meinungsforschungsinstitut Civey hatte anlässlich der HMI im Auftrag des eco rund 250 Expertinnen und Experten aus der IT-Branche befragt - mit einem ernüchternden Ergebnis. 83,7 Prozent der Befragten sehen die deutsche Industrie im internationalen Vergleich eher schlechter aufgestellt, lediglich 3,7 Prozent besser.

Die deutsche Industrie droht in Sachen Digitalisierung international den Anschluss zu verlieren, warnt eco-Vorstandsvorsitzender Oliver Süme.
Foto: eco Verband

Auch Süme setzt auf Datenökosysteme, um das zu ändern und die digitale Transformation der Industrie voranzubringen. Allerdings bringt der eco an dieser Stelle mit Gaia-X eine europäische Initiative ins Spiel. Es gehe um einen souveränen und sicheren Austausch von Daten unter allen beteiligten Akteuren, sagt Süme, dessen Verband federführend an der Steuerung von Gaia-X beteiligt ist. Unternehmen behielten volle Souveränität und Kontrolle über ihre wachsenden Datenmengen, so das Versprechen. "Es entsteht ein transparentes und offenes System nach europäischen Standards, in dem alle Teilnehmenden unabhängig entscheiden können, über welche Plattformen und Cloud Ressourcen sie mit Partnern zusammenarbeiten", steht in einer Mitteilung des Verbands.

Die Qual der Wahl beim Ökosystem

Angesichts der verschiedenen Initiativen müssen die beteiligten Akteure aufpassen, die deutschen Industrieunternehmen nicht zu verwirren. Ende März war Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz mit einem anderen Vorhaben vorgeprescht. Im Rahmen des bereits 2021 gestarteten Projekts mit dem etwas sperrigen Kürzel IPCEI-CIS will der Minister von den Grünen eine Industrial Cloud bauen. SAP soll für die standardisierte europäische Industrie-Cloud eine passende offene Referenzarchitektur (ORA) entwickeln.

Habeck zufolge geht es dabei um mehr Resilienz und eine stärkere digitale Souveränität in der EU. Außerdem hätten andere Anbieter, insbesondere kleinere und mittelgroße Unternehmen, die Möglichkeit, sich mit einer niedrigen Eintrittsbarriere in ein dezentrales Ökosystem einzuklinken. Unklar bleibt allerdings, inwieweit die verschiedenen Initiativen und Projekte zusammenhängen, Schnittmengen bilden oder isoliert voneinander vorangetrieben werden. Das macht es für die Industrie allerdings schwierig zu bewerten, auf welches Ökosystem-Pferd sie setzen sollen und könnte im schlimmsten Fall dazu führen, dass viele Betriebe von vornherein gar nicht mitmachen.

"Unternehmen stehen vor einem Dschungel von digitalen Lösungen für den herstellerübergreifenden Informationsaustausch in der Produktion", bestätigte Andreas Faath, Leiter der Abteilung Machine Information Interoperability beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA). Die Betriebe bräuchten Unterstützung, um den richtigen Pfad der digitalen Transformation zu finden. "Noch besser wäre eine umfassende Landkarte mit Beschreibungen der verschiedenen Ansätze und den daraus resultierenden Mehrwerten, sodass Unternehmen eigenständig agieren können", so Faath.

Regularien und Unklarheiten bremsen Fortschritt aus

Die deutschen Industrieunternehmen haben derzeit noch ganz andere Sorgen als sich zu überlegen, welches Datenökosystem ihnen eventuell in einer nahen oder fernen Zukunft weiterhelfen kann. Zumal gerade höhere Anforderungen an den Datenschutz für die Hälfte der Betriebe laut eco-Umfrage eine große Herausforderung darstellt. Kopfzerbrechen bereiten den Verantwortlichen ferner bürokratische Hürden (55,2 Prozent), fehlendes Know-how (53,2 Prozent) sowie der Fachkräftemangel (48,2 Prozent).

Aus Sicht von eco-Mann Süme muss sich einiges ändern, um die Digitalisierung in der deutschen Industrie und eine bessere Datennutzung in Schwung zu bringen. "Mangelnde Datenverfügbarkeit sowie Rechtsunsicherheiten bei der Nutzung von Daten, fehlende einheitliche Standards, sowie insbesondere regulatorische und finanzielle Anreize für das Teilen von Daten mit anderen Teilnehmern von Wertschöpfungsprozessen halten viele innovative Unternehmen aktuell davon ab, Datensilos aufzubrechen und in diesen Bereich zu investieren", sagte der eco-Chef. Die Bundesregierung müsse endlich klare und verhältnismäßige Regeln für den Austausch von Daten sowie Anreize für Standardisierung und den Aufbau von Datentreuhändern schaffen und auch die Verfügbarkeit von Daten der öffentlichen Hand erhöhen.

Raus aus dem Krisenmodus

Auch in Industriekreisen sieht man die Politik in der Pflicht. Es sei kein Selbstläufer, dass die hiesige Industrie stark bleibe, hieß es beim Bundesverband Deutsche Industrie (BDI). Deshalb sollte die Ampel-Koalition schleunigst vom Krisen- in den Gestaltungsmodus wechseln. "Die deutsche Politik ist in der Verantwortung, die Rahmenbedingungen für die Industrie am Standort Deutschland zu verbessern", sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm und erklärte 2023 zum Jahr der Entscheidungen. Es gehe um nichts weniger als die Resilienz und Zukunft des Industrie-, Export- und Innovationslands Deutschland.

BDI-Präsident Siegfried Russwurm fordert von der Bundesregierung bessere Rahmenbedingungen für die Industrie - sonst sehe es schlecht aus mit weiteren Investitionen.
Foto: BDI

"Innovation war und ist der stärkste Trumpf der deutschen Industrie im globalen Wettbewerb", unterstrich Russwurm. Die Politik müsse ihren Beitrag leisten, dass dieser Motor weiterlaufe. Der BDI-Chef nennt die Dekarbonisierung, die man dringend benötige, um die Klimaschutzziele zu erreichen, und den digitalen Wandel, bei dem man aufholen müsse. Es komme auf die langfristigen Perspektiven und Rahmenbedingungen für die Unternehmen bei der Transformation an.

Von den von Scholz angekündigten Erleichterungen - klarere Ziele, höheres Tempo und mehr Fachkräfte - sieht man beim BDI bislang wenig. "Die Industrie, die massiv investieren will, benötigt für mehr Investitionen Bürokratieabbau, spürbare Steuersenkungen sowie verlässliche und bezahlbare Energieversorgung", forderte Russwurm. Tue sich hier nichts, drohe die Transformation in der Industrie zu missglücken. Vom neuen Deutschland-Tempo, das Kanzler Scholz versprochen hat, sei derzeit noch wenig zu spüren.

Verbände fordern weniger Bürokratie

"Statt immer neue bürokratische Ungetüme großzuziehen, sollte sich die Bundesregierung auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren und für wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen sorgen", sekundierte ZVEI-Präsident Gunther Kegel und klagte, die Politik würde die unternehmerische Freiheit durch sich hinschleppende Genehmigungsverfahren und überbordende Dokumentations- und Meldepflichten ausbremsen. "Die Überbürokratisierung und der in Teilen entfesselte Regulierungseifer lähmen und gehen zulasten von Wettbewerb und Innovation", so Kegel.

Karl Haeusgen, Präsident des VDMA, sieht Deutschland mitten in einer erneuten Standortdebatte - Ausgang derzeit ungewiss.
Foto: VDMA

Klare Aussagen von der Politik, wie die Industriestandorte Deutschland und Europa in den kommenden Jahren gesichert und gestärkt werden sollten, forderte auch der VDMA. "Wir stehen mitten in einer neuen, intensiven Standortdebatte", sagte VDMA-Präsident Karl Haeusgen. Deutschland und Europa müssten sich im globalen Wettbewerb mehr anstrengen, um mit anderen Weltregionen mithalten zu können. Haeusgen verlangte unter anderem eine deutliche und Beschleunigung von Genehmigungsverfahren sowie einfachere administrative Prozesse und weniger Bürokratie. Zudem müsse sich der Ausbau der digitalen Infrastruktur enorm beschleunigen - gerade im ländlichen Raum, in dem viele mittelständischen Maschinenbaufirmen ihren Sitz haben.

Die Industrie soll investieren

Große Hoffnungen setzt man beim VDMA in die Digitalisierung. Datenökosysteme wie Manufacturing-X würden die nächste Stufe von Industrie 4.0 einläuten, hieß es in einem abschließenden Statement des Verbands zur Hannover Messe. Datenplattformen würden insbesondere dem industriellen Mittelstand die Tür zu neuen, digitalen Geschäftsmodellen eröffnen.

So recht will der digitale Funke noch nicht überspringen. Die deutsche Industrie tut sich nach wie vor schwer mit der digitalen Transformation, das wurde einmal mehr auf der diesjährigen Hannover Messe deutlich.
Foto: Hannover Messe

"Die Vernetzung von Softwareindustrie und Maschinenbau gewinnt immer weiter an Bedeutung", erklärte Claus Oetter, Geschäftsführer VDMA Software und Digitalisierung, verwies aber auch darauf, dass an dieser Stelle noch viel zu tun sei. "Um die digitale Transformation in der Industrie in der ganzen Breite umzusetzen, muss noch mehr in digitalen Ökosystemen gedacht werden. Datenerfassung und -verarbeitung, Geschäftsmodelle und Datenschutz sind die zentralen Herausforderungen der gesamten Industrie."

Bundeskanzler Scholz gab sich zuversichtlich, dass diese Herausforderungen gelöst werden könnten, und warb um Vertrauen. Aus den klar vorgegebenen Zielen könne ein "großer Aufschwung für unser Land" entstehen. Die Transformation werde das große Wachstumsprojekt für unser Land. Scholz rief die Unternehmen dazu auf, in neue Anlagen und Produktionen zu investieren: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Oder etwas positiver gewendet: Wer früh dran ist, der ist Teil des Aufschwungs."