Zur Holtzbrinck-Gruppe gehören mehr als 400 Unternehmen weltweit, die ständig juristische Beratung brauchen. Als Sascha Theißen 2013 die Leitung der Rechtsabteilung übernahm, stand der Flut an Anforderungen - von Software-Entwicklungverträgen bis zum Urheberrecht - ein neunköpfiges Nicht-Team gegenüber. Jeder Anwalt arbeitete juristisch exzellent und hoch spezialisiert, aber in gut gehegten Silos - und der Ruf der Abteilung litt darunter. Die Konzernkollegen warteten lange auf Antworten, die dennoch nicht ihre Probleme lösten. Theißens Vision war aber eine businessnahe Rechtsabteilung, in der Menschen einander vertrauen und sich gegenseitig helfen, um das Business - also den "Kunden" der Abteilung - aktiv voranzubringen.
Foto: fotogestoeber - Fotolia.com
Bei der Betreuung der Digitalaktivitäten von Holtzbrinck , wie zum Beispiel StudiVZ oder gutefrage.net, hatte Theißen agile Methoden kennengelernt und er ahnte, dass die Arbeits- und Denkweisen seiner Abteilung helfen könnten. Er vertiefte sich in die - meist IT-lastigen - Prinzipien agilen Arbeitens und suchte nach Wegen, um sie auf die Arbeit der Juristen zu übertragen. Timeboxing à la Scrum kam wegen der täglich wechselnden Anforderungen nicht in Frage, daher fiel seine Wahl auf eine angepasste Variante von IT-Kanban. Als die Idee gereift war, suchte und fand Theißen Mitstreiter auf drei Ebenen: Zunächst holte er die Unterstützung der HR-Abteilung, dann führte er mit allen Mitarbeitern Vieraugengespräche über seine Pläne. Und schließlich fand er mit Robert Misch von gutefrage.net einen Agile Coach direkt in der Holtzbrinck-Gruppe.
Mit Kanban beim Status Quo starten
"Wir ändern vorerst nichts", lautete Mischs Antwort. Allerdings sollten Theißens Mitarbeiter sehen, wo die Abteilung in puncto Abläufe, Arbeitsbelastung und -verteilung stand. Misch startete den eintägigen Workshop mit dem Agilen Manifest und ließ es von den Anwälten neu formulieren. So wurde die Working Software zur Working Solution. Der für Juristen schwierige Punkt "Customer collaboration over contract negotiation" wurde so übersetzt: "Ziel ist nicht der juristisch perfekte, sondern der bestmögliche Vertrag, der für beide Seiten akzeptabel und praktikabel ist und unnötigen Verhandlungsaufwand vermeidet." Anschließend übertrug Misch agile Prinzipien wie direkte Kommunikation, Vertrauen, Selbstorganisation und Zusammenarbeit mit dem Kunden auf die Abteilung und zeigte, welche Veränderungen, aber auch welche Vorteile sie mit sich bringen.
Gemeinsam entwickelte das Team sein erstes Kanban-Board. In den Zeilen - den Swimlanes - wurden die Rechtsgebiete eingetragen. Alle Team-Mitglieder klebten ihre aktuellen Aufgaben als Tickets - personalisiert durch Farben und Buttons - ans Board und sahen diese ab sofort über das Board laufen. Eines erkannten die Juristen durch die Visualisierung sofort: Vieles hing in der Spalte "Waiting". Bei vielen Projekten ging also nichts weiter - ein Hinweis auf externe Abhängigkeiten. Aber Misch ließ es vorerst dabei bewenden. Sich dessen bewusst zu werden, war ein guter Anfang.
Eine Vorgabe machte Theißen seinem Team: Von nun an sollte es sich mit ihm jeden Tag für 15 Minuten vor dem Board treffen, um die Aufgaben zu besprechen. Zunächst dauerte dieses "Daily" eine Stunde, nach kurzer Zeit pendelte es bei 15 Minuten ein. In den Dailys erzählt jedes Teammitglied, woran es gerade arbeitet oder nicht weiterarbeiten kann, was am Vortag erreicht wurde und welche Fragen geklärt werden müssen. Auch eine Kollegin in Berlin wird über Videochat eingebunden.
Die Prinzipien von Kanban
1. Starte mit dem, was du jetzt machst.
2. Verfolge inkrementelle, evolutionäre Veränderung.
3. Respektiere die initialen Prozesse, Rollen, Verantwortlichkeiten und Jobtitel.
4. Fördere Leadership auf allen Ebenen der Organisation.
Die Kernpraktiken von Kanban
1. Visualisiere den Fluss der Arbeit.
2. Begrenze die Menge begonnener Arbeit.
3. Miss und steuere den Arbeitsfluss.
4. Mache Prozessregeln explizit.
5. Implementiere Feedbackmechanismen.
6. Verwende Modelle, um Chancen für Verbesserungen zu erkennen.
Die Retrospektive: Quelle der Erkenntnisse
Nach zwei Wochen fand die erste Retrospektive statt und es geschah, worauf Theißen gehofft hatte:
Die Teammitglieder verstanden, dass jeder allein kämpfte. Wegen der personenbezogenen Tickets am Board fühlte sich immer nur der jeweilige Mitarbeiter verantwortlich und war er ausgelastet, ging nichts weiter. Es fehlte auch an Wissen, um Aufgaben anderer übernehmen und aushelfen zu können.
Das Team erkannte, dass das 15-minütige Daily den dreistündigen Jour Fixe ablösen konnte, der jeden Donnerstag stattfand. Das ergab für das gesamte Team einen Zeitgewinn von rund 16 Stunden pro Woche und trotzdem waren alle besser informiert als vorher.
Der Jour Fixe kehrte nach einer nächsten Retrospektive zurück. Allerdings trifft sich das Team nun für 45 Minuten zum Wissensaustausch über definierte Themen, die allen helfen, Vorgänge richtig abzuschließen. Zwar müssen die Juristen weiterhin mit dem Strom der Aufgaben leben, der jeden Tag in der Input Queue landet. Definierte Iterationen sind nicht möglich, weil oft nicht absehbar ist, wann etwas abgeschlossen werden kann. Aber das Kanban-Board und das tägliche Update machen die Prozesse transparenter, wiederkehrende Aufgaben werden sichtbar.
Damit jeder Anwalt wiederkehrende Vorgänge durchgängig bearbeiten kann, setzt das Team auf "Pair Contract Writing", bei dem zwei Anwälte an Verträgen arbeiten, um voneinander zu lernen. Dem Team wurde außerdem klar, dass viel Zeit auf nicht-juristische Aufgaben wie zum Beispiel Kostencontrolling verwendet wurde - das erledigt jetzt eine Betriebswirtin. Standardaufgaben durchlaufen so schneller den Arbeitsprozess und jeder spürt die Entlastung - etwa in Form ungestörter Urlaube.
Die zunächst farblich personalisierten Tickets sind weitgehend einer einheitlichen Farbe gewichen, sodass klar wird, dass nicht eine bestimmte Person die Aufgabe erledigen muss. Heute bringen alle die Aufträge ans Board, das Team priorisiert diese kurz und stellt die nicht personalisierten Tickets ins Backlog, bis sie jemand in die Bearbeitung zieht und mit seinem Button versieht.
Raus ins Business
Nun bemerkte Theißens Team: Wir müssen wissen, was in den Unternehmensbereichen der Holding passiert. Zunächst spontan und schließlich regelmäßig organisierte das Team ein Mal im Monat informelle Meetings mit Kollegen aus den drei großen Abteilungen der Holding. Das Unternehmen spendierte das Essen, der jeweilige Abteilungsleiter erklärte, woran gerade gearbeitet wurde und welche Projekte mit welchem Zweck und Ziel geplant waren. Allmählich verstanden die Anwälte die Anliegen hinter den Anfragen ihrer "Kunden" besser und mittlerweile wird die Zusammenarbeit proaktiv gestaltet.
So bietet das Team Workshops zu häufigen Fragen, etwa zu Bildrechten oder geänderten rechtlichen Anforderungen an Webshops und wie man diese geschäftsfördernd und pragmatisch umsetzen kann. Mit großer Wirkung: Der Ruf der Rechtsabteilung ändert sich. Das Team wird wieder als kompetenter Partner gesehen, die Kollegen suchen aktiv Rat und themenspezifische Schulungen.
Alle diese Veränderungen vollzogen sich innerhalb von 14 Monaten - angesichts der eingebrannten Silostrukturen eine bemerkenswert kurze Zeitspanne. Vieles erledigt das Team inzwischen völlig selbstorganisiert und es sucht laufend nach Verbesserungsmöglichkeiten. Und die Idee verbreitet sich. Auch die HR-Abteilung macht erste Gehversuche mit Kanban.
Tipps für Ihren eigenen Weg
Theißens Vorgehensweise hat große Ähnlichkeit mit der Fallstudie "Lehman Brothers (A): Rise of the Equity Research Department" der Harvard Business School. Sie beschreibt die Neuausrichtung dieses Departments durch Jack Rivkin in den Jahren 1990-1992. Diese Schritte haben sich auch bei agilen Transitionen bewährt:
Vision: Theißens Vision war es, die Rechtsabteilung als Serviceeinheit neu zu etablieren. Welche Vision haben Sie? Was genau wollen Sie erreichen?
Erlaubnis: Holen Sie sich vom Topmanagement die Erlaubnis für einen neuen Weg und das Commitment, dass nötige Ressourcen bereitgestellt werden. So minimieren Sie das Risiko von Querschüssen.
Unterstützung: Suchen Sie Verbündete für Ihr Vorhaben. Sascha Theißen fand sie auf drei Ebenen: bei seinen Mitarbeitern, in der HR-Abteilung und bei Robert Misch.
Sichtbarkeit: Man kann nur ändern, was man sieht. Die Visualisierung von Prozessen der Wissensarbeit hilft den Betroffenen, selbst etwas zu verändern.
Regeln: Ein System, das sich verändern soll, kann nicht nach alten Regeln funktionieren. Wenige, aber klare und unumstößliche neue Regeln sind meist der Hebel, der die Veränderungsbereitschaft anstößt.
Neue Kollegen: Es klingt hart, aber: Wer Veränderungen nicht mittragen will, muss gehen. Holen Sie Kollegen ins Team, die offen für die neue Kultur sind.
Wissenstransfer und Ausbildung: Pair-Techniken fördern den Wissenstransfer in vielen Bereichen. Sorgen Sie dafür, dass sich Kollegen gegenseitig ausbilden.
Investieren: Eine neue Kultur entsteht nicht am Reißbrett. Unternehmen Sie mit Ihrem Team etwas! Es muss kein teures Teambuilding sein - gemeinsame Abende oder Wanderungen sind wirksamer. Investitionskosten: Zeit und Herzblut.
Abschließend ist zu sagen: Das neue Arbeiten mit Scrum und Kanban ist nicht nur etwas für die Softwareentwicklung. (bw)