CW: Wie steht es derzeit um die deutsche Cloud-Szene?
BERND BECKER: Die Wolke ist angekommen in Deutschland, so viel kann man sagen. Cloud-Services haben bei den Anwendern erheblich an Bedeutung gewonnen. Mehr als zwei Drittel aller Unternehmen haben Cloud-Services bereits im Einsatz oder planen dies in der nächsten Zeit. Den Schwerpunkt bildet dabei mit Software as a Service (SaaS) die Nutzung von Anwendungen aus der Cloud, während virtuell bereitgestellte Infrastruktur und Middleware (IaaS und Platform as a Service = PaaS) mit noch deutlichem Abstand folgen.
CW: Agieren hier eher Newcomer, oder suchen Systemhäuser, Internet-Service-Provider (ISPs) und andere lediglich neue Geschäftsfelder?
BECKER: Cloud Computing ist so heterogen wie die ICT-Branche insgesamt. Sicher kann man Deutschland angesichts der hohen Sicherheitsstandards im europäischen Vergleich zu den führenden Cloud-Nationen zählen, dennoch ist der deutsche Cloud-Markt heutzutage noch bestimmt durch die Anbieter selbst.
Kaum ein ICT-Unternehmen am deutschen Markt, das nicht sein Angebotsportfolio durch Cloud-Angebote erweitert und sich so für den Zukunftsmarkt aus der Wolke in Position bringt. Unter ihnen findet man unabhängige Softwareunternehmen und Systemhäuser, Colocation-Anbieter und Hosting-Provider, ISPs und Telcos, alle wollen gewappnet sein.
Aber es gibt auch die reinen Cloud-Player, Unternehmen, die ihr Angebot komplett in die Cloud verlagert haben. Zu ihnen gehören insbesondere Start-ups mit oft pfiffigen neuen Services; aber auch etablierte ISVs haben die Transformation hin zu reinen Cloud-Anbietern zwischenzeitlich erfolgreich vollzogen.
Allerdings bestimmen nach wie vor die globalen Cloud-Anbieter mit ihren standardisierten, horizontalen Services die öffentliche Wahrnehmung, sie sind die eigentlichen Wegbereiter der Cloud. Dies gilt im positiven Sinne hinsichtlich der gebotenen Funktionalität und Flexibilität und der preislichen Attraktivität, die sich aus der schieren Größe der Cloud-Rechenzentren dieser Marktführer ableitet. Aber diese internationalen Anbieter verunsichern andererseits die Anwender, werden doch ihre Namen in den Diskussionen über die Zuverlässigkeit und Sicherheit von Cloud-Services immer wieder auch in einem negativen Kontext zitiert. Dabei ist es schon fast unerheblich, ob dies zu Recht oder zu Unrecht geschieht.
CW: Wie hoch schätzen Sie die Zahl an echten Startups, also Neugründungen?
BECKER: Die vielfältigen Möglichkeiten, die sich mit der Cloud erschließen, werden die schon immer hohe Innovationsgeschwindigkeit der Informations- und Kommunikationstechnik noch einmal erheblich beschleunigen. Dass mit so genannten Developer Clouds bereits Entwicklungsumgebungen als Cloud-Services bereitgestellt werden, bietet für kreative Köpfe eine ideale Plattform, ihre Ideen ohne vorheriges Eigeninvestment zu realisieren und innerhalb kürzester Zeit auf den globalen Markt zu bringen - der Apple App Store lässt grüßen. Schließt man die bereits begonnene, zunehmende IP-Fähigkeit vieler Maschinen und Gerätschaften ein, so lässt sich erahnen, welche neuen Möglichkeiten sich mit der Cloud eröffnen.
Wie viele echte Startup-Neugründungen es gibt, kann ich leider nicht schätzen. Allerdings haben wir im Rahmen unseres EuroCloud-Kongresses im Mai 2011 und der Bewerbungen um den EuroCloud Award in der Kategorie Startup eine ganze Reihe solcher junger Unternehmen kennen gelernt.
CW: Wie beurteilen Sie die Finanzierungssituation für neue Cloud-Unternehmen - ist das ein Problem oder womöglich gar kein Thema?
BECKER: Cloud-Services sind für mittelständische Anbieter nur durch Partnerschaften zu realisieren. Unabhängige Softwarehäuser und Rechenzentrumsdienstleister müssen zueinander finden, um Software as a Service auf den Markt bringen zu können. Dies geht nicht ohne vorheriges Investment, die Independent Software Vendors (ISVs) müssen ihre Anwendungssoftware fit machen für den Cloud-Einsatz (Multi-Tenancy, Operational Framework), ebenso müssen RZ-Dienstleister moderne, virtualisierte und energieeffiziente Leistungen zu attraktiven Preisen bieten können.
Hinzu kommt für ISVs der langsame Abschied von kurzfristigen Umsätzen aus dem Lizenzgeschäft, mit dem sie bislang ihre laufenden Betriebskosten abdecken konnten. Mit einer Transformation zum Cloud-Service-Provider erfolgen die Zahlungen durch die Kunden auf monatlicher Basis und abhängig vom jeweiligen Verbrauch. Dies ist bei ausreichend großem Kundenstamm sehr komfortabel, in der Ramp-up-Phase aber eine zusätzliche Herausforderung.
Die Verlagerung von Capex auf Opex als eines der wesentlichen Argumente für Cloud-Services kommt uneingeschränkt den Anwendern zugute. Dies bedeutet jedoch auch, dass die Anbieter entsprechende Investitionen tragen müssen. Dieser Investment-Bedarf stellt vor allem für mittelständische Anbieter eine beträchtliche Herausforderung dar, wenn sie mit ihren Cloud-Business-Plänen bei den Finanzinstituten um Kreditlinien vorstellig werden. Nicht alle Banken haben das Geschäftsmodell Cloud und die damit verbundenen Chancen und Risiken verinnerlicht.
EuroCloud Deutschland
EuroCloud Deutschland_eco e.V. ist als Verband der Cloud-ComputingIndustrie in Deutschland hervorgegangen aus dem eco e.V. als Verband der Internet-Wirtschaft in Deutschland und Teil eines europäischen Netzwerks von EuroCloud-Organisationen in 27 Ländern Europas.
EuroCloud hat zum Ziel, das Vertrauen der Anwender in Cloud Computing zu fördern. Vor diesem Hintergrund sind sowohl der Leitfaden "Recht, Datenschutz und Compliance in der Cloud" wie auch das Zertifizierungsprogramm EuroCloud Star Audit SaaS entstanden.
Anbieter, Datenschutz und Sicherheit
CW: Agieren die deutschen Cloud-Player eher als Private- oder als Public-Cloud-Anbieter?
BECKER: Cloud ist nicht gleich Cloud. Die gängigen Cloud-Angebote mittelständischer Anbieter sind als Public-Cloud-Services vorrangig für kleine mittelständische Unternehmen gedacht. Allerdings ist erkennbar, dass sich zunehmend so genannte Community-Clouds bilden, bei denen einzelne Public-Cloud-Services gebündelt und mittels Single-Sign-on (SSO) Funktionen und Interoperabilitäten veredelt werden, um als spezialisierte Pakete für einzelne Branchen umfassende Funktionen zu bieten.
Im Gegensatz hierzu stehen große, oftmals international agierende Anwenderunternehmen, die Private-Cloud-Services im Eigenbetrieb quasi als das Internet 2.0 in ihren Unternehmen einsetzen. Werden zusätzliche individuelle Public-Cloud-Services adaptiert, entstehen so genannte hybride Clouds, die den Unternehmen größtmögliche Flexibilität erschließen. Allerdings sind die Umsetzungsprozesse bei Großunternehmen aufgrund der höheren Komplexität langfristiger und wesentlich stärker prozessorientiert.
Insofern stehen heute sicher die Private-Cloud-Services im Vordergrund, aber auch in der Private-Cloud-Landschaft ist erhebliche Bewegung wahrnehmbar.
CW: Mächtige Player wie Amazon und Co. bestimmen das Bild und die Berichterstattung. Was sollte ein Startup als Mehrwert beziehungsweise Unique Selling Point offerieren, um gegen diese Konkurrenz zu bestehen?
BECKER: Die Chancen, die durch die Cloud erschlossen werden können, sind vielfältig. Insbesondere für Startups der ICT-Branche bietet die Cloud vielfältige Aussichten. Wer als Startup auf dem deutschen Markt erfolgreich sein will, muß neben aller Kreativitiät der Lösung und den Unique Selling Points, die sich aus den gebotenen Funktionen ergeben, vor allem deutlich machen, dass seine Cloud-Services sicher und verlässlich bereitgestellt werden.
CW: Apropos Konkurrenz - können die Cloud-Player aus der EU von der momentanen Sicherheitsdiskussion über die US-Anbieter, etwa was den Patriot Act betrifft, profitieren?
BECKER: Cloud-Services basieren auf etablierter und ausgereifter Technik. Sie stellen ein neues Geschäfts- und Bereitstellungmodell dar, welches die bisherige Nutzung von IT vollkommen neu definiert. Und genau hier setzt die derzeitige Diskussion um Zuverlässigkeit und Sicherheit der Kundendaten ein, hier liegt die eigentliche Herausforderung für die Cloud. Die gebotenen Services müssen sicher und rechtskonform bereitgestellt und betrieben werden, hier sind Cloud-Anbieter wie Cloud-Kunden in gleichem Maße gefordert.
Die neuerliche Diskussion um den US Patriot Act, nach dem ein staatlicher Zugriff aus den USA auf Daten in europäischen Rechenzentren amerikanischer Unternehmen möglich ist, zeigt den noch erheblichen Handlungsbedarf auf rechtspolitischer Ebene. Eine Harmonisierung der Rechtsrahmen ist im Interesse von Kunden und Anbietern dringend geboten und unumgänglich. Anlass zu Optimismus gibt die Initiative der Europäischen Kommission zur Erweiterung der Digitalen Agenda um das Themenfeld Cloud Computing, welche Anfang 2012 der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll.
CW: Und was empfehlen Sie den Anwendern?
BECKER: Cloud-Kunden sollten sich vor Vertragsabschluss über die Zuverlässigkeit der gebotenen Services kundig machen. Leider ist dies leichter gesagt als getan. Auch müssen nach heutiger Rechtslage die Standorte der Datenhaltung auf europäischem Territorium liegen und den Cloud-Kunden bekannt gegeben werden. Vor allem globale Player halten sich daran nicht immer.
Ein Höchstmaß an Verlässlichkeit und Sicherheit besteht dann, wenn die Anbieter über eine Zertifizierung wie das EuroCloud Star Audit SaaS verfügen, bei dem insbesondere die vertrags- und datenschutzrechtlichen Gegebenheiten auditiert und an den technischen Gegebenheiten gespiegelt werden. Wer sich für einen so zertifizierten Cloud-Service entscheidet, kann sicher sein, dass er den Service eines "Trusted Providers" bezieht.
CW: Ihr Verband hat sich an einem EU-weiten Cloud-Wettbewerb beteiligt. Konnten Sie grundsätzliche Unterschiede zwischen deutschen und anderen EU-Cloud-Anbietern feststellen?
BECKER: Deutschland verfügt im europäischen Vergleich über ein hohes Datenschutzniveau, insgesamt werden Cloud-Services aus Deutschland als sicher und zuverlässig betrachtet. Trotzdem unterscheiden sich die nationalen Rechtsrahmen voneinander. Zum Beispiel sind im Rahmen des EuroCloud Star Audit SaaS individuelle Cloud-Services bei Vermarktung in europäischen Ländern immer auch entsprechend dem jeweiligen nationalen Recht zu zertifizieren.
CW: Kristallisierte sich im Wettbewerb ein Kochrezept heraus, wie Cloud-Startups zum Erfolg geführt werden können?
BECKER: Mit dem EuroCloud Award wurde 2011 erstmalig ein Wettbewerb ausgelobt, um auf jeweils nationaler Ebene die besten Cloud-Services, die besten Cloud-Case-Studies im Business- und im Public-Sector sowie das beste Cloud-Startup zu prämieren. Die deutschen Gewinner wurden im Rahmen der EuroCloud Gala am 17. Mai in Köln geehrt und stehen nun im Wettbewerb mit den nationalen Gewinnern aus den anderen EuroCloud-Ländern. Die europäischen Gewinner werden im September 2011 bekanntgegeben.
So wie Wolken keine nationalen Grenzen kennen, so kennen auch Kreativität und die Innovationskraft keine Grenzen. Alle Bewerber um den europäischen EuroCloud Award verbinden hochwertige und innovative Services mit hohem Nutzungsvorteil für die Kunden. Dabei spielen Mentalitäten eine untergeordnete Rolle. Die fehlende Mehrsprachigkeit eines gebotenen Dienstes kann da schon eher eine Hürde für einen möglichen multinationalen Marktauftritt bedeuten.
Insgesamt kann aber festgestellt werden, dass hinter den Cloud-Ansätzen junger Startups oft sehr erfolgversprechende Cloud-Services stecken, die aufgrund ihrer gebotenen Funktionen auf hohe Marktakzeptanz treffen dürften.
CW: Aus Ihrer Erfahrung als Verbandschef: Gibt es typische Fehler, die ein Cloud-Startup vermeiden sollte?
BECKER: Es gibt kein Patentrezept für erfolgreiche Cloud-Services, gefragt sind kreative Lösungen mit hohem Nutzwert.
Wenn eine Empfehlung an die Adresse von Startups auszusprechen ist, dann diese: Um Gottes willen nicht unbedingt selbst versuchen, ein Operational Framework zu entwickeln, hier können schnell Fehler gemacht werden, welche in einem späteren Produktivbetrieb kaum noch korrigierbar sind. Vielmehr bietet es sich an, hierfür eine der vorhandenen Platforms as a Service auszuwählen, die für genau diesen Zweck am Markt angeboten werden: Prozesskunde werden, Nutzer registrieren, Nutzungsdaten ermitteln, aus Nutzungs- und Vertragsdaten die nutzungsbasierte monatliche Abrechnung erzeugen, die Erfüllung der Service-Level-Agreements (SLAs) überwachen und bereitstellen. Mittlerweile sind eine ganze Reihe solcher Operational Frameworks als Platform as a Service verfügbar.
CW: Als Anwender muss ich große Anbieter wie Microsoft oder Amazon wählen oder auf eher unbekannte Player aus der EU setzen - wie machen Sie als Verbandschef mir Letzteres schmackhaft?
BECKER: Ich würde mich daran orientieren, ob der Anbieter über eine Euro-Cloud-Star-Audit-SaaS-Zertifizierung verfügt. Wenn ja, kann man davon ausgehen, dass alle sicherheits- und datenschutzrelevanten Notwendigkeiten erfüllt sind und bereits im Vertrag hinterlegt ist, auf welchem Weg und in welchem Format dem Kunden seine Daten nach Ablauf des Vertrags wieder bereitgestellt werden. (mhr)