Offshoring

Die merkwürdigen Ideen der Deutschen

04.10.2010 von Dr. Andreas Kotulla und Sudarshan Bhide
Wie erlebt ein indischer Progammierer Offshoring-Projekte mit deutschen Anwendern? Ein fiktives Fallbeispiel klärt auf.
Taj Mahal Quelle: Fotolia, Labelverde
Foto: Fotolia, Labelverde

Mumbai, Nariman Point, im Mai 2010. Die Stadt hat die vierthöchsten Gewerbeimmobilienpreise der Welt. Es ist kurz vor 24 Uhr. John sitzt im 20. Stockwerk eines der modernen Bürogebäude. Draußen hat es seit Wochen über 42 Grad Celsius, doch das spürt er im Luftzug der Klimaanlage kaum. Es sind nur noch wenige Wochen bis zum Monsun, das Klima ist schwül und drückend. Die Klimaanlage kühlt so kräftig, dass sich ein Durchschnittseuropäer erkälten würde, doch die Inder mögen es so.

Glücklicherweise reißt der frische Luftstrom dank einer eigenen Energieversorgung kaum ab. In diesem Stadtviertel muss kaum jemand auf Strom verzichten - im Gegensatz zu vielen Orten anderswo in Indien. Bis zur Auslieferung der Software, die John programmiert, sind es nur noch wenige Stunden. Schon seit zwei Wochen arbeitet John jeden Abend bis spät in die Nacht.

Konkurrenz der Offshore-Regionen
Indien: Trend- und Taktgeber
Indien ist Pionier sowie Trend- und Taktgeber im Offshore-Markt. Doch das Land muss sich neuer Konkurrenz erwehren, denn Offshore-Services lassen sich weitgehend ortsunabhängig beziehen. Längst haben auch andere Länder das Geschäft entdeckt und bieten IT-Dienste an.<br/><br/> (Foto: T.Gründer)
Malaysia: Der Staat fördert die IT
Als Konkurrenz für Infrastrukturservices hat sich seit geraumer Zeit Malaysia positioniert. In Cyberjaya, einem staatlich eingerichteten IT-Park vor den Toren von Kuala Lumpur, haben sich vorwiegend Data-Center-Betreiber angesiedelt. Sie bieten von dort aus ähnliche RZ-Dienste an wie die Provider in Singapur, allerdings in der Regel zu etwas günstigeren Bedingungen.<br/><br/> Foto:Torsten Gründer
Dubai: Teueres Pflaster
Dubai startete vor wenigen Jahren mit der Gründung der Dubai Internet City in das Geschäft mit IT-Offshoring. Der Wüstenstaat vergibt für die Ansiedlung in dem Industriepark Lizenzen an internationale IT-Dienstleister. Die in den Emiraten für den globalen Markt betriebenen Services ranken sich vornehmlich um die IT-Infrastruktur und das Projekt-Management.<br/><br/> Foto:Torsten Gründer
Südafrika: Gute Voraussetzungen, wenig Ertrag
Die gleiche Zeitzone wie Mitteleuropa und eine enorme Sprachenfülle sind eigentlich ideale Voraussetzungen für einen erfolgreichen Offshore-Standort, doch bislang konnte Südafrika seine guten Möglichkeiten nicht ausschöpfen. Das Land kommt kaum über den Betrieb von einfachen Call-Center-Services etwa für amerikanische Banken hinaus. Nach wie vor behindern große Bildungsunterschiede, ein aus historischen Gründen teilreglementierter Arbeitsmarkt sowie eine schwache IT-Branche die Entwicklung der Offshore-Industrie.<br/><br/> Foto:Torsten Gründer
Fundierte Standortwahl
Torsten Gründer: "Die Zahl der IT-Offshore-Standorte nimmt weiter rasch zu. Nicht alle lokalen Anbieter sind indes reif genug, um IT-Dienste für Anwender betreiben zu können. Die Offshore-Dienstleister unterscheiden sich erheblich, so dass Unternehmen, die IT-Services aus entfernten Regionen nutzen möchten, sich intensiv informieren sollten. Der Entscheidung sollte eine detaillierte Nutzenanalyse und eine fundierte Standort- und Dienstleisterwahl vorausgehen. Unbedingt dazu gehört ein Besuch vor Ort."

John hat am IITB (Indian Institute of Technology Bombay) Informatik studiert und als einer der Besten seines Jahrgangs ein Stipendienjahr in den USA verbracht. Dort wurde er nach seinem Abschluss sofort von einer Technologiefirma in Boston eingestellt. Sein Spezialgebiet waren Geschäftsprozesse, bis er vor fünf Jahren den Schritt zurück in die Heimat wagte. Aber momentan ist er nicht in bester Stimmung, weil er seine Aufgabe nicht entsprechend den üblichen Standards erledigen kann.

John arbeitet für Kiri Technologies Limited, einen jener indischen Aufsteiger der IT-Dienstleistungsbranche, die in wenigen Jahren von einer Garagenfirma zu einem Unternehmen mit knapp 1000 Mitarbeitern gewachsen sind. Sein richtiger Name ist Ajatashatru Kumar Gupta. Seit er jedoch zuerst für amerikanische, und jetzt hauptsächlich für Firmen in Europa Software entwirft, häuften sich die Probleme: Seine Kunden konnten seinen Namen nicht verstehen und schon gar nicht aussprechen. So hat er sich einen kurzen und im westlichen Sprachgebrauch leicht zu merkenden und einfach auszusprechenden Zweitnamen zugelegt: John Gupta - Senior Development Architect.

Bei Dycolo in Frankfurt

Frankfurt am Main Quelle: Fotolia
Foto: Fotolia/Mundi

Momentan arbeitet John an den letzten Zeilen einer Software für Dycolo, einen Hersteller von Textilfarben nahe Frankfurt am Main, dessen hausinternes Entwicklungsteam im letzten Jahr von 15 auf acht Mitarbeiter geschrumpft ist. Ursache waren die fehlenden Karrieremöglichkeiten der Programmierer, Großbanken haben die begehrten Experten abgeworben. Gleichzeitig muss Dycolo durch den verschärften Wettbewerb in den letzten Jahren mehr kundenspezifische Anpassungen vornehmen, und damit fallen mehr Aufgaben für die IT an.

Michael, der IT-Leiter von Dycolo, sieht sich mit vielerlei Herausforderungen konfrontiert. Mit seinem IT-Budget kann er nicht die hohen Gehälter der Banken zahlen. Nicht zuletzt deshalb fällt es ihm schwer, junge Mitarbeiter für seinen Betrieb zu begeistern. In seiner Not hat er erstmals eine Offshore-Firma mit der Betreuung und Erweiterung der hausinternen Programme beauftragt. Die Qualität und Funktionalität, die er verlangte, wurden vorbehaltslos garnatiert und schnell ein erster Vertrag unterschrieben. Michael war erleichtert, weil der indische Partner ihm die Kapazitäten und Flexibilität bot, die er vor Ort nicht mehr finden konnte.

John stöhnt. Schon wieder erreicht ihn eine kurze Nachricht mit einer letzten kleinen und dringenden Erweiterung. Der ursprüngliche Funktionsumfang hat sich fast verdoppelt, der Liefertermin ist indes gleich geblieben. Von der anfangs sauberen und durchdachten Softwarestruktur ist nach den vielen kleinen Änderungen nicht mehr allzu viel übrig. Der lokale Vertriebler von Kiri Technologies hat es nicht geschafft, die Anforderungen an die erste Lieferung einzufrieren. Anfragen zu Änderungen und Erweiterungen hat er stets bereitwillig zugesagt: "No problem, my friend. We can implement this in no time", lautete seine Standardantwort gegenüber dem Kunden. Michael nahm es mit Freuden auf, wenn Pläne und Lieferumfang wieder einmal zu seinen Gunsten angepasst wurden.

Fresher und Hardcoding

Mehrere "Freshers" - das sind im Entwickler-Slang die unerfahrenen Uni-Absolventen - wurden für das Projekt abgestellt und mussten ohne ausführliche Einführung loslegen. Noch vor einigen Jahren war es selten ein Problem, gute neue Mitarbeiter zu finden, doch mittlerweile gehen die Besten lieber zu den Produktherstellern. Der Job bei einem Dienstleister ist häufig nur noch zweite Wahl. Zu Johns Verdruss hat vergangene Woche auch sein Freund Prashnat kurzfristig gekündigt. Sein neuer Arbeitgeber, gleich auf der anderen Straßenseite, zahlt 20 Prozent mehr und hat auch ihn schon angesprochen.

Quelle: Fotolia, Microimages
Foto: Fotolia, Microimages

John ist frustriert. Dennoch möchte er die Aufgabe erfolgreich abschließen. Aus vielen früheren Projekten weiß er, wie wichtig es ist, dass Kunden eigenes technisch versiertes Personal zur Betreuung und Steuerung der Offshore-Partner abstellen. Je genauer sich Mitarbeiter mit firmeninternen Prozessen und dem Umfeld auskennen, desto besser können sie dem entfernten Team Besonderheiten und Abläufe in persönlichen Treffen darstellen. John arbeitet gerne mit solchen Spezialisten, um Entwürfe zu diskutieren und gemeinsame Entscheidungen zu fällen. Leider sind diese Rollen selten besetzt, so dass er immer wieder selbst Annahmen treffen muss.

John konzentriert sich wieder. Mittlerweile ist es selbst für ihn schwierig geworden, die Software zu verstehen. Die ursprüngliche Dokumentation hat kaum noch etwas mit dem aktuellen Projektstand zu tun. Im Code selbst gibt es nur wenige Kommentare, von denen einige zudem durch häufiges Hin- und Herkopieren nicht mehr passen. Wegen Zeitdrucks wurden viele Texte und Parameter "hart" in den Code implementiert. Für den Kunden bedeutet das, dass er später, wenn neue Anforderungen hinzukommen, nicht einfach die Konfiguration ändern kann.

Er muss jedes Mal den Programmcode überarbeiten oder überarbeiten lassen. Das ist zeitaufwendig und wenig flexibel. Große Teile der Funktionen wurden aus anderen Projekten zusammenkopiert und angepasst. Der Code mancher Module umfasst mehrere Seiten und enthält teilweise auch Programmzeilen, die gar nicht ausgeführt werden können. Das missfällt John, doch konnte er sich mit seinen Qualitätsansprüchen leider nicht durchsetzen: Er hätte sich weniger Änderungen und regelmäßige Treffen und Reviews mit dem Kunden gewünscht.

Termin eingehalten ...

Nun gibt es viele Abhängigkeiten zwischen Programmteilen, so dass jede Erweiterung einen endlosen Rattenschwanz an Änderungen und Tests an unvermuteten Stellen nach sich zieht. Schlimmstenfalls beeinträchtigt ein Eingriff andere Funktionen der Software. Schon jetzt weiß John, dass Programmierer, die später die Software betreuen, viel Zeit benötigen werden, um den Code zu verstehen.

Der Kunde bemerkt davon zunächst einmal nichts. Er wird die vorher abgestimmten Testfälle durchspielen und bei Erfolg die Abnahme unterzeichnen. Spätere Erweiterbarkeit und Flexibilität interessieren Anwender und Lieferanten erst dann, wenn es zu spät ist. John übersetzt den Code. Das Programm läuft und besteht die automatischen Testfälle. Daraufhin startet John den Transfer zum Kunden.

In Deutschland steht Michael wie immer unter schwerem Zeitdruck. Anfangs war er skeptisch. Er hatte viel über die Probleme in Offshore-Projekten gelesen. Nun ist er froh, dass die Software termingerecht geliefert wurde. Die im Code eingebetteten Probleme wird er erst viel später bemerken und sich über die hohen Folgekosten ärgern. (jha)

Dr. Andreas Kotulla und Sudarshan Bhide sind Geschäftsführer und Gründer der international agierenden Acellere GmbH. Acellere unterstützt Kunden bei der Vorbereitung, Durchführung und dem Controlling von IT-Offshoring-Projekten. Bhide war viele Jahre Softwarearchitekt bei einem der größten indischen IT-Anbieter. Kotulla war mehrere Jahre bei internationalen Großkonzernen in leitenden Positionen in der Softwareentwicklung tätig. Er ist zudem Buchautor.

Keine Tiger in Indien

Dr. Andreas Kotulla
Foto: Andreas Kotulla

Kommunikationsprobleme, interkulturelle Missverständnisse und unterschiedlich interpretierte Spezifikationen - die Gründe für gescheiterte Offshore-Projekte sind vielfältig. In seinem Buch "Keine Tiger in Indien" führt Andreas Kotulla die Leser durch ein Offshore-Projekt voller Überraschungen, beginnend mit der schwierigen und aufregenden Phase der Provider-Wahl.

Keine Tiger in Indien
Foto: Andreas Kotulla

Immer wieder das Scheitern vor Augen, wird das Vorhaben auf unvorhersehbare Weise in vielen kleinen Schritten doch noch erfolgreich abgeschlossen, wenn auch viel später als geplant. Der Autor mischt Analysen mit Blog-Einträgen und anekdotischen Reiseberichten. Das Ganze garniert er mit Kochrezepten, denn die Errungenschaften der lokale Küche machen leere Versprechungen in Bangalore, Bestechung in Moskau, harte Bandagen in Sofia und peinliche Pannen in Polen erträglicher, so die Erkenntnis von Kotulla.