Experten diskutieren Industrial IoT

Die Smart Factory braucht den richtigen Takt zwischen IT und OT

13.08.2024 von Julia  Sieber
Die Zeit der Improvisation im IIoT ist vorbei. Experten empfehlen dringend, IT- und OT-Systeme solide zu verzahnen, um in der Smart Factory langfristige Erfolge zu erzielen.
Viele produzierende Unternehmen träumen nach wie vor von der Smart Factory. Der Schlüssel dafür ist, IT- und OT-Zyklen in Einklang zu bringen.
Foto: metamorworks - shutterstock.com

Es ist schon mehr als 13 Jahre her, dass mit dem Begriff "Industrie 4.0" das große Digitalisierungszeitalter für das produzierende Gewerbe eingeläutet werden sollte. Die im Mittelpunkt dieser Überlegungen stehende "Smart Factory", die selbständig Entscheidungen trifft und sich selbst organisiert, klang Anfang der 2010er Jahre allerdings noch sehr nach Science-Fiction.

Und heute? So ganz sind wir immer noch nicht bei der autonom agierenden Fabrik angekommen, wie Rudolf Preuß von ACTEMIUM beim COMPUTERWOCHE-Roundtable zum Thema "IIoT" feststellt: "Wir haben in der OT sehr lange Lebenszyklen. Neu- und Ersatzinvestitionen werden teilweise erst nach mehr als 20 Jahren getätigt. Dem entgegen steht die IT, in der alle paar Jahre komplett neue Geräte und Technologien bereitstehen."

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Herausforderung: Produktionsanlagen verändern sich ständig

Doch nicht nur die unterschiedlichen Zeithorizonte von OT und IT stellen sich als hinderlich für Fortschritte in der Smart Factory heraus. Auch die Menschen hinter den Systemen sind häufig ein Grund, warum neue Lösungen nicht so schnell implementiert werden, wie sie es eigentlich könnten. "Nicht jede Neuerung erfährt sofort Akzeptanz und das erschwert die Überführung in den dauerhaften Betrieb", beschreibt Nicole Segerer von Revenera die Situation. Unternehmen müssten daher die Kennzahlen, an denen sie Erfolg und Misserfolg von Innovationen messen, langfristiger denken.

Doch selbst dann, wenn eine Innovation es dann doch in den Betrieb geschafft hat, offenbart sich die ein oder andere Tücke: "Produktionsanlagen sind nach spätestens zwei bis drei Jahren in einem völlig anderen Zustand, als wir sie übergeben haben, da hier von den Produktionsverantwortlichen permanent optimiert wird. Das ist unter anderem auch für die Anlagendokumentation eine Herausforderung", erklärt Preuß von ACTEMIUM.

Dies kann zu erheblichen Diskrepanzen zwischen der ursprünglichen Systemkonfiguration und dem aktuellen Betriebszustand führen, was die Notwendigkeit eines flexiblen und anpassungsfähigen IIoT-Systems unterstreicht.

Virtueller Roundtable "Industrial IoT"
Rudolf Preuß, ACTEMIUM
"Produktionsanlagen bestehen aus einer Vielzahl von komplexen Einzelsystemen , die aufeinander abgestimmt werden müssen. Wenn wir dann ein Update einspielen, kann es sein, dass es einfach nicht mehr läuft."
Marko Weisse, Avanade
"Bei den Plattformen und dem Datenaustausch bedarf es einer gewissen Standardisierung und Normalisierung auch in Hinblick auf die Skalierbarkeit."
Marc Meckel, Palo Alto Networks
"Ein großes Sicherheitsrisiko ist, wenn Systeme in Betrieb genommen werden, die seit Jahren ungepatcht sind. Deshalb setzen wir auf ein Plattform-basiertes Umfeld, um IoT und IT geschlossen betrachten zu können."
Nicole Segerer, Revenera
"Im IoT müssen relativ viele Daten vom Endpunkt ins Backoffice gebracht werden und in diesem Umfeld wird AI eine größere Rolle spielen. An anderen Stellen ist die Entwicklung allerdings noch nicht weit genug."
Christian Schmidt, Simplexion
"Ich halte im aktuellen Stadium noch nicht viel von KI in diesem Bereich, denn wenn bei Industrial IoT eine Sache gefordert ist, dann ist es harter Determinismus."
Thomas Berndorfer, TTTech
"Firmen wissen heute besser als noch vor 7-8 Jahren, was sie wirklich mit ihren Daten anfangen können, um Prozesse zu verbessern. Hier hat sich das Mindset deutlich geändert – der Fokus liegt bei den Investitionen vor allem im Condition Monitoring von Maschinen mit großem Impact."

KI-Lösungen zur Datenverarbeitung

Zudem wäre die Debatte keine des Jahres 2024, wenn nicht das Thema "Künstliche Intelligenz" bei allem mitschwingt. Und tatsächlich ist KI auch im Bereich IIoT zentraler Gegenstand vieler Diskussionen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass für Predictive Maintenance, also die vorausschauende Wartung, die Verarbeitung und Analyse immenser Datenmengen von Maschinen und Produktion zwingend erforderlich ist.

Mit der Masse der zu verarbeitenden Daten stehen Anwenderunternehmen vor einer besonderen Herausforderung, bei der KI eine große Rolle spielen könnte: "Bevor wir zu viele Daten wahllos in die Cloud schicken, spielt beim lokalen Vorverarbeiten AI ganz besonders mit hinein, weil wir dafür sorgen müssen, dass diese Daten später auch qualitativ AI-fähig sind", sagt Thomas Berndorfer von TTTech. Dabei geht es vornehmlich darum, die Datenmenge zu reduzieren und gleichzeitig die Qualität der Datenanalyse zu verbessern.

Doch von einem großflächigen Einsatz von KI sind wir laut Marko Weisse von Avanade noch ein Stück entfernt: "Mit AI oder Generative AI im Produktionsumfeld steht die DACH-Region noch ganz am Anfang. Es gibt schon einige interessante Projekte im kleinen Stil, bei denen AI genutzt wird, um Entscheidungen vorzubereiten. Hier erkennt das System Abweichungen vom Normalzustand und schlägt dem Mitarbeiter im Shopfloor Änderungen vor. Eine direkte Verbindung zum PLC ist dann der nächste Schritt."

Nichtsdestotrotz wird KI auch im Bereich IIoT, wie in den meisten anderen Arbeitsbereichen, in Zukunft nicht mehr wegzudenken sein. Wichtige Voraussetzung dafür ist jedoch, dass diese zuverlässig und präzise arbeitet. "Wenn in der IT eine E-Mail mit 20 Sekunden Verzögerung zugestellt wird, ist das zu verkraften. In der physischen Produktionsumgebung kann eine Verzögerung von wenigen Millisekunden jedoch schon eine gravierende Kettenreaktion Störung auslösen", hebt Preuß hervor. Der Faktor Zeit und die Verarbeitungsgeschwindigkeit spielen im IIoT-Bereich demnach eine deutlich größere Rolle als in anderen Bereichen.

Studie "Industrial IoT 2024": Sie können sich noch beteiligen!

Zum Thema Industrial IoT führt die COMPUTERWOCHE derzeit eine Multi-Client-Studie unter IT-Verantwortlichen durch. Haben Sie Fragen zu dieser Studie oder wollen Sie Partner werden, hilft Ihnen Julia Depaoli (julia.depaoli@foundryco.com, Telefon: +49 15290033824) gerne weiter. Informationen zur Studie finden Sie auch hier zum Download (PDF).

Vollkommene Sicherheit gibt es nicht

Weiterhin ist die Sicherheit von IIoT-Systemen ein zentrales Anliegen und wird von den Experten besonders kritisch diskutiert. "Wir stehen in der IT- und IoT-Branche alle in der Pflicht, entsprechende Security-Systeme zu liefern, die halten, was sie versprechen. Nicht zuletzt aufgrund der aktuellen und auch bevorstehenden Gesetzeslage und Änderungen im Rahmen des AI-Acts", erklärt TTTech-Manager Berndorfer.

Im IIoT gibt es obendrein viele sicherheitsrelevante Schnittstellen, die eine reibungslose Kommunikation und Interoperabilität zwischen verschiedenen Geräten und Systemen gewährleisten sollen. Gleichzeitig erfordert die Skalierbarkeit eine effiziente Integration verschiedener Technologien wie drahtlose Kommunikation und Datenanalyse.

Gerade drahtlose Kommunikation ist auf dem Vormarsch, wie Marc Meckel von Palo Alto Networks feststellt: "Viele bauen heute ihre eigene 5G-Infrastruktur, weil in neuen Gebäuden Kabelschächte nicht mehr gewünscht sind, aus Brandschutz- oder anderen Gründen. Der Sicherheitsaspekt bei der Vermaschung von IT und OT bliebe hier aber auf der Strecke, wenn nicht KI mit einer gemeinsamen Datenbasis zum Einsatz käme."

Eine "Software Bill of Materials" (SBOM) kann eine weitere Lösung für die Sicherheit der Netzwerkinfrastruktur sein, um IIoT-Systeme robust und zuverlässig zu machen. Sie bietet eine verlässliche Liste der Software-Komponenten, aus denen ein verschachteltes Software-System besteht. Diese Inventarliste macht transparent, aus welchen eindeutig identifizierbaren Komponenten in welchen Versionen sich ein Software-Produkt zusammensetzt.

Doch welche Bestreben es auch gibt, Christian Schmidt von der simplexion GmbH sieht das Thema Sicherheit nüchtern: "Natürlich steht vor jedem Projekt der Ansatz, die Architektur der Software von vornherein sicher zu bauen. Wir müssen allerdings unsere Systeme immer als kompromittiert betrachten. Einen völlig sicheren Zustand werden wir nie erreichen."

Anforderungen für die Zukunft

Die Zukunft des Industrial IoT liegt, wie in den meisten Wirtschaftszweigen in der weiteren Integration von KI und der Verbesserung der Datensicherheit. Zusätzlich müssen Unternehmen flexibel bleiben und kontinuierlich auch in andere neue Technologien investieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Berndorfer von TTTech hebt dabei auch hervor: "Die speicherprogrammierbare Steuerung (SPS) ist nach wie vor die, die den Produktionsablauf steuert. Implementierungen von IoT werden also nur parallel aufgesetzt. Es gäbe hier bereits Lösungen, die aber noch nicht angenommen werden."

Was schließlich wieder zum Faktor Mensch führt. Fachkräftemangel und demographischer Wandel verlangen ein zügiges Tempo. Zwar sind Augmented Reality und digitale Zwillinge vielerorts bereits gelebte Praxis, doch es gibt noch etliche weitere Ansätze. Schmidt von simplexion GmbH rät daher: "Unternehmen sollten auf selbstheilende Systeme setzen und dafür sorgen, dass sie beispielsweise zwei verschiedene Wege ins Internet haben, ihren eigenen Zustand monitoren können und sich im Zweifel auch neu starten können." Solche Systeme minimieren manuelle Eingriffe und reduzieren die damit verbundenen Kosten erheblich.

Die Experten der Runde sind sich abschließend weitgehend einig: Mit den richtigen Strategien und Technologien können Unternehmen die Vorteile von IIoT voll ausschöpfen und ihre Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig stärken. Die Integration erfordert eine sorgfältige Abstimmung zwischen OT und IT, statt improvisierter Lösungen, den Einsatz präziser und zuverlässiger KI sowie robuste Sicherheitsmaßnahmen.

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