Industrie 4.0 konkret

Diese drei Schritte bringen bis zu 30 Prozent höhere Produktivität

04.07.2018 von Franz Gruber
Wo verläuft der Königsweg in die Industrie 4.0? Wie starte ich die Smart Factory effektiv? Erfolgreiche Shop-Floor-Manager erreichen 20 bis 30 Prozent höhere Produktivität in kurzer Zeit. Ihr Erfolgsrezept sind drei Schritte.

Die digitale Evolution in der Fabrik im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends ist zur Revolution geworden, angeheizt durch immer neuen Möglichkeiten wie vorhersagende Wartung (Predictive Maintenance), Plattformlösungen und künstliche Intelligenz. Was vor gut zehn Jahren unter dem Stichwort MES (Manufacturing Execution System) begann, entwickelt sich weiter zu integrierten Gesamtlösungen aus Planung, Prozessen und Produktion - dem Advanced Shop Floor Management. Mehr und mehr Hersteller stellen ihre Lieferketten international auf die Möglichkeiten der Industrie 4.0 um, Zulieferer müssen mitziehen.

Mit IIoT oder Industrie 4.0 werden Fertigungsstellen zur Smart Factory und erreichen so eine höhere Produktivität.
Foto: Inspiring - shutterstock.com

Wer noch zögert, hat im weltweiten Wettlauf 4.0 schon verloren. Die digitale Transformation ist unumkehrbar und bewegt "die Fundamente der Fertigungsindustrie", schreibt die Marktstudie "IoT/Industrie 4.0 - der Weg zur digitalen Fabrik" der Information Services Group Germany (ISG). "Die Digitalisierung erfasst praktisch jede Branche, sie verändert Wertschöpfungsprozesse und definiert die Grenzen des Wettbewerbs neu."

Dabei stehen alle Unternehmen, ob in Augsburg, Atlanta oder Shanghai, zunächst vor der gleichen Frage: Wo verläuft der Königsweg in die Industrie 4.0? Wie starte ich die Smart Factory effektiv? Erfolgreiche Shop-Floor-Manager erreichen 20 bis 30 Prozent höhere Produktivität in kurzer Zeit. Ihr Erfolgsrezept sind drei Schritte.

1. Menschen motivieren - Smart Factory ist Chefsache

Ein weit verbreiteter Denkfehler ist: "Die Smart Factory ist ein IT-Projekt". Falsch! Vielmehr gilt: Die Smart Factory ist Chefsache (und kein IT-Projekt unter vielen). Gleichlautend bestätigen erfolgreiche Transformations-Manager: Industrie 4.0 gelingt nur durch einen umfassenden Change-Management-Prozess mit moderner Management-Kultur. Ein solcher Prozess aber muss in der Chefetage gewollt, vorgelebt und durchgesetzt werden. Der kontinuierliche Verbesserungsprozess (KVP) muss Top-down erfolgen.

Es gilt: Erst der Mensch, dann die Maschine. Denn, so Günther Manz von der KUKA Roboter GmbH: "Wer altes durch neues Denken ersetzen will, muss Widerstände überwinden." Jeder Einzelne im Unternehmen will auf die Reise zu höherer Ressourceneffizienz mitgenommen sein. Benötigt wird ein sozial anspruchsvoller Motivationsprozess, der die Belegschaft für den technologischen Paradigmenwechsel in der Produktion gewinnt.

Das Zauberwort heißt: Information. Heinz Adams von MANN+HUMMEL: "Sie müssen die Mitarbeiter laufend informieren und schulen. Sie verstehen dann sehr schnell, dass das Arbeiten leichter und besser wird."

Vor allem muss die Belegschaft davon überzeugt werden, dass neue Technologien und neue Prozesse für den Standort zum Einsatz kommen, nicht gegen ihn. Das stärkste Argumente lautet: Die Transformation erhöht unsere Wettbewerbsfähigkeit und sichert damit Standort und Arbeitsplätze. Auch in Deutschland konnten schon Produktionsstandorte erhalten werden, weil die Produktivität mit digitaler Fabriksteuerung signifikant, zum Teil um mehr als 30 Prozent, erhöht werden konnte.

Robert Stöhr, Geschäftsführer des Automobilzulieferers MSR Technologies in Laupheim bei Ulm: "Ein Vater des Erfolges war die frühe und intensive Einbeziehung der Mitarbeiter in das Projekt. So wurde das neue System schon in der Pilotphase sehr gut angenommen."

2. Maschinen mit einer Top-Technologie vernetzen

Ein weiterer häufiger Denkfehler lautet: "Unsere IT-Systeme schaffen das noch". Falsch. Denn die Digitalisierung ist vor allem eines: schnell. Das gilt insbesondere für die Softwareentwicklung. Daher sollten Unternehmen in Sachen IT-Lösung wählerisch sein, nicht auf alte Bekannte sondern auf Top-Performer setzen.

Unternehmen benötigen ein ganz neues IT-Rückgrat, wie es Karl-Heinz Land von der Initiative Deutschland Digital (IDD) treffend beschreibt. "Digitale Transformation braucht … eine Plattformlösung, die ins Unternehmen eingezogen ist wie ein Rückgrat, an das alle Programme angebunden sind."

Die Technologie von morgen steht bereits heute zur Verfügung: Echte 4.0-Lösungen verarbeiten webbasiert größte Datenmengen zentral im Hauptspeicher (Live-Cache) und visualisieren alle wesentlichen Produktionszustände in Echtzeit nutzerfreundlich über alle Schnittstellen in allen Sprachen - vom Computer des Werkers über das Smartphone des Vorstands bis hin zu den Systemen des Kunden.

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Hohe Anforderungen an eine IT 4.0

Die schon erwähnte ISG-Markttrend-Studie zählt sieben Anforderungen für IIoT-Plattformen auf. Drei sollten wir näher betrachten:

  1. Schnelligkeit: Kernaufgabe jeder IIoT-Technologie ist es, die Daten aus der physischen Produktion in Echtzeit auf allen Computer-Endgeräten zu spiegeln und ein sogenanntes Cyber-Physical-System zu schaffen. Darin werden aus voluminösen Big Data in Echtzeit nutzbare Smart Data. Die benötigte Geschwindigkeit ist nur durch eine Cloud-fähige Lösung zu erreichen, die benötigte Rechenleistung beispielsweise durch eine hauptspeicherbasierte In-Memory-Technologie in Verbindung mit einer Rule Engine (Complex Event Processing).

  2. Konnektivität: In den allermeisten Fabriken gibt es Maschinen unterschiedlicher Baujahre, Typen und Hersteller. Echte IT 4.0 ist in der Lage, solche heterogenen Maschinenparks in kürzester Zeit an die IIoT-Plattform anzuschließen und zugleich Produktion (Shop Floor) und Planung (Top Floor - ERP/SAP) nahtlos zu vernetzen.

  3. Offenheit: Oberstes Ziel ist die Nahe-Null-Fehler-Fabrik. Dafür sind erstens diverse Tools wie eine schnelle Rückverfolgbarkeit aller Teile und Prozesse oder automatische Alarmierungen notwendig. Zweitens muss eine IIoT-Plattform mit offenen Programmierschnittstellen arbeiten (Open Application Programming Interface - Open API). Nur so können alle internen Bereiche mit den erforderlichen Betriebs- und Prozessdaten versorgt und vor allem neue Technologien jederzeit integriert werden. Aktuelles Beispiel sind Lösungen für eine "Vorhersagende Wartung" (Predictive Maintenance)

Vorhersagende Wartung: "predict and prevent"

Wie wichtig die Anforderung Offenheit ist, zeigt sich am Beispiel der Predictive Maintenance. Ihr Konzept lautet: "Predict & Prevent" statt "Fail & Fix". So kann eine moderne Fabriksoftwarelösung, die mit offenen Schnittstellen ausgestattet ist, zusätzlich um eine Predictive-Maintenance-Lösung erweitert werden, welche mit Sensoren und mathematischen Schwingungsanalysen arbeiten. Durch Selbstlern-Effekte aus der künstlichen Intelligenz wird es ermöglicht, Störungen zu erkennen, bevor sie auftreten. Entsprechend vorzeitig kann gegengesteuert werden.

Beispiel: Den Energieverbrauch vorhersagen

Als zentrale Messgröße für höhere Produktivität und Ressourceneffizienz hat sich die Gesamtanlageneffektivität (OEE - Overall Equipment Effectiveness) durchgesetzt. Bislang gibt sie Auskunft über die drei Dimensionen Verfügbarkeit, Leistung und Qualität. Künftig werden noch zwei weitere Größen in die Fabriksteuerung mit einbezogen werden können: Energiebilanzen sowie die Vorhersage von Energieverbrauch und Leistungsfähigkeit der Anlagen.

Ein deutscher Automobilhersteller hat dazu mit unserem Haus sowie mit der University of Cincinnati ein innovatives Projekt gestartet. Ziel: Die Technologie berechnet im Voraus, wie die Leistungsfähigkeit sowie der künftige Energieverbrauch von Maschinen, Anlagen und Fabriken sein werden. Damit wird es möglich, bislang nur ungefähr zu klärende Fragen konkret zu beantworten: Wo wird die meiste Energie verbraucht? Wie viel Energie wird morgen/nächste Woche/nächsten Monat benötigt? Welche Energiebilanz hat meine Produktion insgesamt? Wo sind Fehler und Verschwendungen zu erwarten? Welche Maschine wird als nächstes ausfallen?

In einer Phase 1 wird eine 4.0-Lösung mit allen bekannten Merkmalen einer modernen Fabriksteuerung installiert - Echtzeit-Datenerfassung, Berichte zur Gesamtanlageneffektivität, nutzerfreundliche Echtzeit-Visualisierung. In Phase 2 wird die Lösung mit dem Tool der vorhersagenden Wartung verknüpft und bezieht auch den Energieverbrauch des Werks in die Analysen mit ein. Sensoren an ausgewählten Maschinen werten sekundengenau Vibrationen sowie den aktuellen und historischen Energieverbrauch aus und speisen sie in die Anlagensteuerung ein.

Unternehmen erreichen so wirtschaftliche wie politische Ziele: Sie erhalten einen Fabrik-Zustand, der als "Nahe-Null-Ausfall" (Near-Zero Downtime) beschrieben werden kann. Zweitens tragen sie zur "grünen Fertigung" (Green Manufacturing) bei, weil die Energiebilanz von ganzen Fabriken sichtbar wird und dadurch ein transparentes, nachhaltiges und kostenoptimiertes Produzieren.

3. Mit einem Piloten starten - Großer Erfolg durch kleine Schritte

Denkfehler Nummer 3 bei der Smart Factory lautet: "Die Einführung einer Smart Factory ist kompliziert und langwierig". Das ist nur dann richtig, wenn man es falsch anstellt. Der richtige Denkansatz ist folgender: Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Für die Industrie 4.0 gilt: Lieber in kleinen Schritten vorangehen als groß zu scheitern. Mit einem Augenzwinkern sagt Werner Pertek, ein erfahrener Interims-Manager in Automobilkonzernen: "Erstmal eine saubere Prozesskette definieren, bevor man das Chaos elektrifiziert."

Als erster Schritt sollte ein abteilungs- und funktionsübergreifendes Change-Team benannt werden. Dieses setzt einen Phasenplan auf, sucht die passende Technologie am Markt, definiert Kennzahlen und legt einen Pilotbereich in der Fabrik fest, in dem die digitale Transformation im Kleinen gestartet wird. Für den Piloten wird am besten ein besonders problembelasteter oder erfolgskritischer Produktionsbereich mit einem motivierten Produktionsleiter ausgewählt.

Im Piloten werden auch alle neuen Prozesse im Rahmen einer Regelkommunikation geübt. Tägliche Morgen-Meetings in eigens eingerichteten KVP-Ecken (Kontinuierlicher Verbesserungsprozess) sichern ordentliche Übergaben von Schicht zu Schicht. Werner Pertek: "Konferenzräume brauchen Sie nicht. Alles findet in der Fabrikhalle statt. Der Werkleiter sollte ständig auf dem Shop Floor unterwegs sein."

Mit einer IIoT-Technologie setzt ein Daten-Tsunami ein, der über die Regelkommunikation kanalisiert werden muss. Es gilt, alle Stellglieder der Verbesserungsorganisation vom Werker bis zum Geschäftsführer zum richtigen Zeitpunkt mit den für sie wichtigen Informationen zu versorgen. Die wichtigste Kennzahl ist dabei die Gesamtanlageneffektivität. Hat der Pilot seine technische und wirtschaftliche Wirksamkeit bewiesen, kann der Rollout über die gesamte Produktion beginnen. Wichtig dabei: Erfolge aus dem Piloten sollten breit kommuniziert werden. So wird die allgemeine Akzeptanz deutlich erhöht. (mb)