E-Learning braucht klare Regeln

05.08.2002 von Hans Königes
Die Einführung von Betriebsvereinbarungen zu E-Learning in Unternehmen sorgt unter Arbeitsrechtlern und Gewerkschaften für eine kontroverse Diskussion. Strittig sind unter anderem Datenschutzbestimmungen und die Frage, ob während der Arbeitszeit gelernt werden soll.

Vor einiger Zeit stellte ein amerikanischer Anbieter von Lern-Management-Systemen (LMS) vor Weiterbildungsexperten und Betriebsräten eines der größten deutschen Finanzdienstleister seine Lernplattform vor. Für diesen Termin reiste extra die amerikanische Geschäftsführung an, es ging immerhin um einen Millionenauftrag. Gleich zu Beginn erzählten die Amerikaner stolz von Leistungsmerkmalen, die die Personaler in Übersee begeisterten: Das Lernverhalten der Mitarbeiter lasse sich kontrollieren, und die Personalabteilung bekomme unverzüglich die Auswertung. Damit waren die LMS-Manager vor allem bei den deutschen Arbeitnehmervertretern unten durch.

„Lernzeit ist Arbeitszeit“

„Wozu eine Betriebsvereinbarung zu E-Learning, das ist doch nichts anderes als Weiterbildung“, hieß es bei einigen Unternehmensvertretern auf die CW-Frage, wie sie die organisatorischen Rahmenbedingungen für Web-based Training (WBT) regeln. Winfried Albrink beispielsweise, Leiter der technischen Aus- und Fortbildung beim Waschmittelkonzern Henkel in Düsseldorf, sieht keine Notwendigkeit für eine E-Learning-Vereinbarung. Training sei vor allem eine Angelegenheit zwischen dem direkten Vorgesetzten und dem Mitarbeiter. Alle Kenntnisse, die ein Mitarbeiter für seinen Job benötigt, hat er sich in der Arbeitszeit anzueignen. Das wichtigste Kriterium sei, ob jemand seine Arbeit gut verrichtet.

Auch andere Großunternehmen wie die Deutsche Telekom, die Dresdner Bank, Audi, Bosch und BMW kommen ohne Betriebsvereinbarung aus. Tenor der Aussagen: „Lernzeit ist Arbeitszeit“, und vor allem: Es bestehe kein Grund, in der Freizeit zu lernen. Wenn ein Mitarbeiter ein Lernprogramm etwa am Wochenende durcharbeiten möchte, soll er das mit seinem Vorgesetzen absprechen, der ihm dann unter Umständen einen Freizeitausgleich gewährt. Die Arbeitgeberseite geht von einer gut funktionierenden Unternehmenskultur aus, in der sich beide Seiten verstehen.

Arbeitsrechtler Stefan Nägele von der Rechtsanwaltsgesellschaft Pricewaterhouse-Coopers Veltins in Stuttgart wundert sich über so viel Gutgläubigkeit. Er kann sie sich nur mit der Unwissenheit beider Seiten erklären und empfiehlt auf jeden Fall, Vereinbarungen zu treffen. In seiner Praxis hat er schon erlebt, dass Arbeitgeber die Persönlichkeitsrechte der Mitarbeiter „vergaßen“. Auf der anderen Seite kann ein Unternehmen einem Mitarbeiter nicht kündigen, wenn dieser Inhalte eines Lernprogramms, das die neuesten Produktinformationen enthält, an die Konkurrenz weitergibt - eben weil keine Vereinbarung zu E-Learning existiert.

Schulung soll nicht zur Privatsache werden

„Es gibt gute Gründe, E-Learning in einer Betriebsvereinbarung zu regeln“, rät auch Mario Heller, Projektleiter beim DGB-Bildungswerk in Düsseldorf. Zum einen gelte beim Online-Training, was auch für die betriebliche Weiterbildung im Allgemeinen zutrifft: Es verleiht dem Thema Weiterbildung einen gewichtigeren Rang, als es derzeit oft der Fall ist. „Auch lässt sich oft nur so wirkungsvoll verhindern, dass Schulung zur Privatsache der Beschäftigten degradiert wird“, glaubt Heller.

Der DGB-Projektleiter gibt zu bedenken, dass das Wenigste durch die bestehenden Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) oder einschlägiger DIN- und ISO-Normen verbindlich definiert ist. Auch tarifvertragliche Normen gebe es bislang nicht. Seine Forderung lautet deshalb: „Diese Situation der Unsicherheit lässt sich nur durch Betriebsvereinbarungen für beide Seiten beseitigen. Auch wenn viele sich berufen fühlen: Nur die Sozialpartner können dies regeln - niemand sonst.“ Denn mit dem Aushandeln von Betriebsvereinbarungen werde eine Basis gelegt, um strittige Punkte später einvernehmlich zu klären.

Ringen um Betriebsvereinbarung

Es ist nicht selbstverständlich, dass alles so reibungslos läuft wie in den genannten Beispielen. Die Commerzbank diskutiert seit Wochen über eine E-Learning-Betriebsvereinbarung und hat das Thema nun auf den Herbst vertagt, weil keine Einigung in Sicht ist. Das Frankfurter Finanzinstitut vertritt einen Standpunkt, der von anderen Arbeitgebern geteilt und der in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird: Mitarbeiter müssen bereit sein, auch am Feierabend ein Lernprogramm zu beackern, ohne dass es dafür gleich einen Freizeitausgleich gibt.

Commerzbank-E-Learning Experte Andreas Woy findet es nicht zeitgemäß, wenn die Gewerkschaft darum kämpft, dass der Zugang der Mitarbeiter vom heimischen PC aus auf die Lernprogramme des Unternehmens unterbunden wird, nur damit alle gezwungen werden, in der Arbeitszeit zu lernen. Der Betriebsrat war bis Redaktionsschluss für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Ähnlich schwierig kann sich die Sache in einem anderen Fall gestalten, auf den Andreas Hohenstein, Herausgeber des „E-Learning-Handbuchs“, hinweist. Ein mittelständischer Produktionsbetrieb hat es geschafft, seine Vertriebsmitarbeiter davon zu überzeugen, sich gelegentlich am Samstag außerhalb der Arbeitszeit via Web-based Training weiterzubilden. Solange alle Verkäufer mitmachen, und das ist im Moment der Fall, gibt es keine Schwierigkeiten. Spätestens dann, wenn einer ausschert und darauf pocht, in der Arbeitszeit lernen zu wollen, weil er beispielsweise aus familiären Gründen am Wochenende keine Zeit hat, ist die heile Online-Lernwelt dahin. Denn der Arbeitgeber kann, wenn es nicht eigens vereinbart worden ist, keinen Mitarbeiter verpflichten, in seiner Freizeit zu lernen.

Selbstkontrolle der Mitarbeiter

Zweiter wichtiger Punkt neben der Diskussion um Lernen in der Freizeit ist der Datenschutz. Mit Hilfe eines LMS lässt sich das Lernverhalten der Mitarbeiter genau protokollieren; wann wurde das Programm gestartet, für welche Frage wurde wie viel Zeit aufgewendet, welche Testfragen waren schwierig etc. Die Gewerkschaft ist dagegen, dass der Arbeitgeber personenbezogene Daten erfasst. Sehr wohl aber spricht sich DGB-Mann Heller dafür aus, dass eine Art Self-Assessment stattfindet - eine Erfassung für den Mitarbeiter, damit dieser seine Lernfortschritte verfolgen kann.

Wie dieser Streit ad absurdum geführt werden kann, zeigt folgendes Beispiel: Ein großer norddeutscher Konzern, der E-Learning einführte, hat nach der Auseinandersetzung mit dem Betriebsrat auf jedwede Datenerfassung verzichtet - mit dem Ergebnis, dass jeder Mitarbeiter, der sich zu einem Online-Kurs anmeldet, automatisch eine Kursbestätigung erhält, auch wenn er nichts gelernt hat.