Interview

Finanzkrise - hat die IT versagt?

15.07.2009 von Heinrich Vaske
Wie konnte die Weltwirtschaft in eine Krise historischen Ausmaßes rauschen, wenn es gleichzeitig ein Überangebot an intelligenten Analyse- und Simulationstools gibt? Das wollten wir von Thomas Balgheim wissen, dem Geschäftsführer der Münchner Cirquent GmbH (ehemals Softlab).

Wir schreiben seit Jahren über Unternehmenssteuerung mit Hilfe von Business Intelligence, Frühwarnsystemen, Simulationssoftware etc. Jetzt haben wir live erlebt, wie die Banken und mit ihnen die ganze Weltwirtschaft in eine historische Krise gerauscht sind. Haben die IT-Hilfsmittel versagt?

Balgheim: Es wäre natürlich bequem zu sagen, die IT bietet lediglich die Werkzeuge an, entscheidend ist, ob sie richtig genutzt werden. Die Wahrheit ist aber komplexer. Die IT hätte dazu beitragen können, dass diese Krise nicht in diesem Ausmaß eintritt. Ich glaube nicht, dass die Banken zu wenige Analysesysteme haben. Eher werden zu viele Werkzeuge eingesetzt, aber man macht sich zu wenig Gedanken über Nutzung und Handling. So gab es jede Menge Informationen, so dass der Blick für das Wichtige verlorenging.

Die totale Vernetzung der Systeme ist zum Bumerang geworden, sagt Cirquent-Chef Thomas Balgheim.
Foto: Cirquent GmbH

Das Problem liegt aber nicht nur im Umgang mit Tools und Werkzeugen, sondern auch in der immensen Vernetzung. Das Management dieser Interdependenzen und die Informationslücken, die dabei entstanden sind, damit hat sich niemand richtig beschäftigt. Der IT-Experte weiß, dass er die Daten aus 150 Systemen zusammenziehen muss, und dass ein Data Warehouse Informationen zeitverzögert ausgibt. Es kennt die Informationsmechanismen, die für eine Business-Intelligence-Umgebung typisch sind. Die Anwender kennen sie nicht und können die damit zusammenhängenden Implikationen nicht beherrschen.

Die IT ist natürlich nicht die Ursache für die Bankenkrise, aber sie hat nicht im nötigen Maße zur Transparenz beigetragen und so ihren Beitrag geleistet. Vieles, was passiert ist, wurde ja durch die IT erst möglicht

Die Banken waren und sind weltweit nicht imstande, Prognosen über die zu erwartenden Wertberichtigungen und Geschäftszahlen herauszugeben...

Balgheim: Bankgeschäfte folgen ihren eigenen Gesetzen, sie lassen sich nicht mit dem Handel realer Güter vergleichen. Die toxischen Papiere sind Konstrukte, die auf verschiedenen Ebenen aufeinander aufbauen. Und jede dieser Ebenen hat eine eigene Bewertung in sich und eigene Faktoren, die diese bedingen. Wenn die Banken nicht sagen können, wie groß die Risiken sind, hängt das damit zusammen, dass nicht absehbar ist, auf welchen Ebenen diese Papiere überall ausfallen.

Mit der Lehman-Pleite beispielsweise mussten die Banken ihre Risiken neu bewerten, was dadurch zustande kam, dass andere Banken als Geschäftspartner plötzlich hohe Risiken bargen. Dann kam die nächste Welle: Ganze Länder waren plötzlich Risiken. Man musste jetzt die Länderrisiken abschreiben, die sich mit der Zahlungsunfähigkeit von Nationen wie beispielsweise Island, ergaben. Die dritte Welle waren dann die Firmenrisiken, die uns jetzt aktuell beschäftigen.

Von Kopf bis Fuß auf Finance eingestellt...

  • Thomas Balgheim ist seit Anfang 2009 Geschäftsführer der Cirquent GmbH, München. Wichtige Stationen in seinem Berufsleben waren zuvor die SAP AG, wo Balgheim das weltweite Geschäft mit Finanzdienstleistern betreute, und Pricewaterhouse-Coopers (PwC), wo er ebenfalls den Bereich Financial Services bediente.

  • Cirquent war 1971 unter dem Namen Softlab GmbH gegründet und 1992 an BMW verkauft worden. Seit Mitte letzten Jahres gehört das umgetaufte Software- und Beratungshaus zu knapp 73 Prozent dem japanischen IT-Dienstleister NTT Data. Der TK-Großkonzern aus dem Land des Lächelns ins in Deutschland auf Expansionskurs: Neben Cirquent standen auch das SAP-Beratungshaus Itelligence sowie zuletzt der Sicherheitsspezialist Integralis AG auf der Einkaufsliste.

  • Nach Angaben Balgheims erwirtschaftet Cirquent rund 50 Prozent seines Umsatzes mit Banken und Versicherungen, 30 Prozent mit der Automobilindustrie und den Rest mit TK-Konzernen, Versorgern und Medienunternehmen. Durch das erfolgreiche Entwicklungs-Tool "Maestro" hatte seinerzeit schon Softlab eine immer engere Verbindung zur Finanzbranche aufgebaut. Der Zukauf der rund 300 Mitarbeiter starken, hoch spezialisierten Entory AG aus Frankfurt brachte dann 2005 den endgültigen Durchbruch in diesem Markt.

Das Problem sind demnach unkontrollierbare Kettenreaktionen.

Balgheim: Genau. Auf die Immobilen- folgte die Finanz- und schließlich die Wirtschaftskrise. Heute sind es die Firmenrisiken, die die Banken beschäftigen. Das ist eine Lawine, die durch das System gebrochen ist. Die weltweite Vernetzung birgt die eigentlichen Risiken. Neu ist die Geschwindigkeit und Gleichförmigkeit der Krise, die um die Welt geht. Die Finanz- und Wirtschaftsmärkte sind ja erstmals synchron zusammengebrochen.

Für die Globalisierung und die weltweit vernetzten Waren- und Informationsströme spielt die IT eine immense Rolle. Die Weltwirtschaft ist total vernetzt, ebenso die Informationsflüsse. Damit haben sich Viele nicht auseinandergesetzt. Die dadurch entstandene Komplexität wurde nicht richtig eingeschätzt.

Analyseverfahren haben ihre Schwächen

Bringen Simulations- und Analysetools kein Licht ins Dunkel?

Balgheim: Die Analyseverfahren haben ihre Schwächen. Sie sind genauso wie die Risikobewertungs-Tools so strukturiert, dass sie die Risiken auf der Basis von Daten aus der Vergangenheit simulieren. Man nimmt historische Extremschwankungen und überträgt sie auf die Zukunft. Dabei hat man letztendlich die Vernetzung außer Acht gelassen. Früher sind Wirtschafts- und Finanzkrisen um die Welt gewandert. Die Erfahrung lehrte: Es beginnt in Amerika, wandert über Europa nach Asien - und in Amerika erholt sich’s wieder. Die Globalisierung erschien als Ausweg aus dieser Situation, durch internationale Verlagerung der Geschäfte ließ sich das Risiko senken. Jetzt ist das anders: Innerhalb weniger Wochen oder Monate erfasste die Krise den gesamten Erdball.

Wie exakt können Unternehmen denn heute ihre Risiken bewerten?

Balgheim: Da fällt eine pauschale Aussage schwer. Man kann aber beobachten, dass heute Analyse und Simulation noch immer Back-office-Tätigkeiten sind, relativ entkoppelt von der eigentlichen operativen Entscheidungsfindung. Man hat eine strategische Controlling-Abteilung und ein strategisches Risk-Management, das Simulationen vornimmt. Ich glaube, dass das heutige Management diese Tools und Simulationen durchaus zur Entscheidungsfindung verwendet - der eine mehr und der andere weniger.

Es gelingt aber noch immer nicht, Simulation und Analyse in die operative Entscheidung hineinzubringen. Man redet ja schon seit einiger Zeit von Embedded Analytics und diesen Themen. Es ist relativ transparent geworden, dass wir damit in den Unternehmen noch nicht weit sind.

Erwarten Sie, dass sich das jetzt entwickelt?

Balgheim: Ich sehe drei Trends. Wir werden eine stärkere Regulierung bekommen, wobei nicht nur Entscheidungen der Vergangenheit, sondern auch aktuelles, proaktives Handeln beurteilt wird. Bisher sind die Regulierungsmechanismen Analysen gewesen, die auf statistischen Daten aus der Vergangenheit beruhten. Die neuen Regelungen gehen in eine andere Richtung: Wie muss sich das Management verhalten? Was liegt in seiner Verantwortung? Wie muss ein Unternehmen organisiert sein? Der Trend bei den Banken geht mit MIFiD und teilweise auch mit Basel 2 in diese Richtung. Er wird sich verstärken.

Der zweite Punkt: Embedded Analytics werden zunehmend verwendet. Das wird geschehen müssen, denn im Rahmen der zunehmenden Regulierung wird von Managern erwartet, dass sie nachträglich belegen können, welche Entscheidungen sie wann und warum getroffen haben. Sie müssen nachweisen, dass sie alle wichtigen Implikationen berücksichtigt haben.

Und drittens: Ich glaube schon, dass sich Banken und andere Unternehmen bewusster mit Analyse- und BI beschäftigen werden. Dabei gilt: Weniger ist mehr. Welche Reports brauche ich wirklich und was mache ich damit? Es geht darum, Entscheidungsgrundlagen für Management-Handlungen zu haben. Vor diesem Hintergrund muss ich meine gesamte analytische Landschaft anschauen und mich fragen: Was brauche ich eigentlich? Was ist der Mehrwert, den ich erwarte?

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