CIO-Agenda 2009

Flexibilität um jeden Preis verursacht Folgekosten

20.11.2008 von Karin Quack
Im Spiegel der Anwenderbefragungen erscheint die IT starr und langsam - teilweise zu Recht. Mehr Flexibilität und Agilität sind also nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus Imagegründen sinnvoll.

Angesicht des immer kurzlebigeren Geschäfts wird eine IT, die nicht flexibel und agil ist, dem Business immer hinterherhinken. Diese Feststellung hätten die etwa 30 Teilnehmer der Veranstaltung "CIO-Agenda 2009" ohne Wenn und Aber unterschrieben. Auch in diesem Herbst hatte die COMPUTERWOCHE wieder CIOs und IT-Vorstände nach Zürich eingeladen, wo sie unter der Leitung des Malik Management Zentrum St. Gallen, im Rahmen eines "Syntegration"-Workshops ihre Ziele für das kommenden Jahr konkretisieren konnten. In diesem Jahr lautete die Ausgangsfrage: "Wie lassen sich Flexibilität und Agilität in der IT erhöhen?"

Manfred Klunk, IT-Chef der KVB, fand eine griffige Definition für Flexibilität und Agilität.
Foto: Jo Wendler

Systematisch, wie CIOs nun einmal sind, hinterfragten die Damen und Herren zunächst einmal, was sich eigentlich hinter den Begriffen Flexibilität und Agilität verbirgt. Eine griffige Definition fand Manfred Klunk, Bereichsleiter IT der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB): "Flexibilität bedeutet: Ich kann einfach schneller reagieren. Agilität hingegen ist stärker zielorientiert." "Agilität ist proaktive Flexibilität", ergänzte Andreas Resch, CIO der Bayer AG und Vorsitzender der Geschäftsführung der Bayer Business Services GmbH. Und Hans-Joachim Jürgens, IT-Chef der Deutz AG, Köln, stellte klar: "Agilität hat nichts mit Aktionismus zu tun."

Begriffsdefinitionen

  • Flexibilität bedeutet: die Möglichkeit, schneller zu reagieren.

  • Agilität ist proaktive Flexibilität.

  • In der Praxis wirkt sich Agilität als rasche und zielorientierte Unterstützung der Geschäftsprozess aus.

  • Aktionismus ist eine hohe Beweglichkeit ohne Zielorientierung, also eine Scheinagilität.

  • Scheinagilität ist weder proaktiv noch zielorientiert, sondern versucht nur, diesen Eindruck zu erwecken.

Folglich traf die Gruppe die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Agilität. Wenn positive Agilität die schnelle und zielorientierte Unterstützung der Geschäftsprozesse ist, dann ist negative Agilität (oder Aktionismus) eine hohe Beweglichkeit, der es jedoch an Zielorientierung mangelt. Dazu gehört beispielsweise die Tendenz zum ständigen, hektischen Wechsel von Software-Releases.

Verkauft die IT Scheinagilität?

Bisweilen verkauft die IT beziehungsweise der IT-Verantwortliche, so eine von vielen Teilnehmern unterschriebene These, eine regelrechte Scheinagilität. Damit wird der Eindruck von Beweglichkeit erweckt. Aber die dadurch erzeugte Bewegung ist weder proaktiv noch zielorientiert. "Manche Anstrengung der IT ist nur ein Treten im Wasserglas", erläuterte Resch. Die IT sollte sich stets fragen: Welche Beweglichkeit ist zielführend, welche nur scheinbar?

Achim Grögeder, IT-Chef von Fortis, attestierte vielen IT-Spezialisten einen ausgeprägten Spieltrieb.
Foto: Jo Wendler

Wie die CIOs einräumten, entwickeln viele IT-Abteilungen mehr oder weniger hektisch an den Bedürfnissen ihrer Kunden vorbei. Die Gründe dafür liegen häufig in der sprichwörtlichen Technikverliebtheit der IT-Spezialisten. "Die meisten unserer Mitarbeiter haben einen ausgeprägten Spieltrieb", bestätigte Achim Grögeder, IT-Chef bei Fortis Consumer Finance, "sonst hätten sie ja eine andere Profession." Und diese Verspieltheit stehe einer Zielorientierung entgegen, so der Tenor der Diskussion.

Die Scheinagilität - im Laufe der Diskussion verselbständigte sich der Begriff - sei teilweise aber auch durch die IT-Industrie induziert, klagten die CIOs. Grögeder wurde konkret: "Neue Software-Releases, zum Beispiel Vista, werden fälschlicherweise mit dem Schlagwort Agilität verkauft."

Hochkonzentriert als Diskussionsteilnehmer wie als Beobachter (von links): Manfred Klunk, Hans-Joachim Popp, Hans-Joachim Jürgens und Jürgen Holderried.
Foto: Jo Wendler

"Wir werden durch die Industrie ständig in die Defensive gedrängt", ergänzte Hans-Joachim Popp, CIO des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR): "Mit bunten Slides wird uns und den Anwendern die kinderleichte Migration auf jede neue Technologie vorgespiegelt." Resch schlug deshalb vor, Maßnahmen zum "langfristigen Erwartungs-Management" zu ergreifen. Auf keinen Fall, so der Bayer-CIO, dürfe die IT "kurzfristige Agilität schaffen, die langfristig zur Starrheit führt"; vielmehr müsse sie "die Systeme auf langfristige Beweglichkeit anlegen." Das sei allerdings leichter gesagt als getan, weil die IT ständig an ihrer momentanen Agilität gemessen werde: "Wir täten uns leichter, wenn wir Messgrößen für die kurz- und langfristige Agilität hätten. Dann könnten wir belegen, warum eine Maßnahme, die uns kurzfristig mehr Beweglichkeit verschafft, langfristig zu einer Lähmung führen kann."

Das wollte Klunk nicht unkommentiert lassen: "Man muss da unterscheiden. Es ist durchaus akzeptabel, vor dem Hintergrund von Time-to-market-Überlegungen auch mal ein suboptimales System einzuführen und es bald wieder wegzuwerfen", gab er zu bedenken, "aber wir brauchen dafür einen bewussten und definierten Prozess". Leider fehle den IT-Chefs meist die Kraft, ein provisorisches System nach einem Jahr tatsächlich wieder aus dem Verkehr zu ziehen, entgegnete Resch.

Verantwortung für die Folgekosten

CIOs sind darauf bedacht, nachhaltige Lösungen zu schaffen. Das Business erwartet von der IT jedoch, dass sie seine Forderungen schnell umsetzt. Dafür nimmt es gern auch mal eine Lösung in Kauf, die unter dem Aspekt einer konsistenten Architektur höchstens bedingt tauglich genannt werden darf. Auf diese Weise kann die IT schnellen Ruhm erringen, aber die Konsequenzen sind oft nicht absehbar.

Michael Müller-Wünsch riet dazu, dem Business die Folgekosten von Quick-and-dirty-Lösungen zu verdeutlichen.
Foto: Joachim Wendler

Michael Müller-Wünsch, CIO bei Ceva Logistics (siehe auch: "LKWs können schwimmen" in der COMPUTERWOCHE-Schwester CIO), mahnte deshalb, dem Business die längerfristigen Aufwände als Folge solcher Schnellschuss-Lösungen zu verdeutlichen: "Wenn Sie transparent machen können, was die Folgekosten der Quick-and-Dirty-Lösung sind, haben Sie das Budget für die neue Lösung quasi schon in der Tasche."

Ob der CIO mit dieser Taktik Erfolg hat, hängt allerdings von der Kultur des jeweiligen Unternehmen ab, betonte Thomas Siekmann, Leiter Informationssysteme bei der RTL Shop GmbH und COMPUTERWOCHE-Autor: "Formale Dinge helfen wenig. Hier zählt die Firmenkultur, und die weist ja bekanntlich eine gewisse Unschärfe auf. Wenn Ihre Geschäftsführung kein Gespür für dieses Thema hat, dann laufen Sie im Rad."

Manchmal ist Scheinagilität aber durchaus zielführend - immer dann, wenn sie der IT hilft, ihr Image zu verbessern, ohne dass sie dafür ihre eigenen Vorgaben über den Haufen werfen müsste. "Mit wenigen Dingen hat die IT mehr Zufriedenheit erzeugt als mit dem Blackberry für die Vorstände", erinnerte Resch. Das bedeute ja nicht, dass die IT eines ihrer beiden Hauptziele verraten müsse: "erstens möglichst hohe Kundenzufriedenheit, zweitens möglichst wenig Regelverstöße."

Manchmal reicht der Schein

Doch letztlich habe die IT - auch wenn es um ihr Image gehe - die "Kollateralschäden" der Scheinagilität zu bedenken, forderte der Bayer-CIO. Diese Aufgabe lasse sich nicht auf die Geschäftsbereiche abwälzen - "nach dem Motto: Die Fachabteilungen haben es doch so gewollt; wir sollten schnell liefern, und die Konsequenzen sind nicht unsere Sache".

Andreas Resch warnte vor Nebengeräuschen und Kollateralschäden der Scheinagilität.
Foto: Jo Wendler

Damit fand Resch breite Zustimmung: "Wir müssen die Verantwortung für die langfristigen Auswirkungen unserer Produktauswahl übernehmen", pflichte Popp ihm bei. "Wenn wir also Nebelbomben werfen, sprich: Scheinagilität aus Gründen der Imagepflege betreiben, müssen wir aufpassen, was wir damit anrichten." Wer die Folgen nicht abschätzen könne, sollte lieber riskieren, als Bremser dazustehen, "denn die Strafe für ein unreifes, halbherzig eingeführtes Produkt ist hart". Die Kunst sei also, die "richtigen" Quick Wins herauszufiltern: "Wir brauchen kurzfristige Nutzeneffekte mit Technologien, die keine Altlasten erzeugen."

Gründe und Folgen der Scheinagilität

  • Die Technikverliebtheit der IT-Experten artet bisweilen in hektische Betriebsamkeit aus.

  • Die IT-Industrie suggeriert, dass mit einem neuen Release alles viel schneller, einfacher und flexibler werde.

  • Das Business drängt auf kurzfristige Lösungen - notfalls quick and dirty.

  • Wenn der CIO seine Bedenken äußert, steht er als Fortschrittsverweigerer da.

  • Doch nicht zu Ende gedachte Entscheidungen verursachen Nebengeräusche und Folgeaufwände.

  • So mündet kurzfristige Agilität bisweilen in langfristige Erstarrung.