"Fünf bis zehn Prozent Wachstum sind wunderbar"

20.08.2001
Nach den jüngsten Quartalszahlen steht Volker Jung, Leiter des Konzernbereichs Information und Communication (IC) der Siemens AG, unter Druck. Mobilfunk- und Netzwerksparte rutschen mit einem Defizit von über einer Milliarde Euro tief in die roten Zahlen. Jetzt sollen die Kosten radikal gesenkt werden, über drei Milliarden Euro müssen gespart werden.

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Nach den jüngsten Quartalszahlen steht Volker Jung, Leiter des Konzernbereichs Information und Communication (IC) der Siemens AG, unter Druck. Mobilfunk- und Netzwerksparte rutschen mit einem Defizit von über einer Milliarde Euro tief in die roten Zahlen. Jetzt sollen die Kosten radikal gesenkt werden, über drei Milliarden Euro müssen gespart werden. Mit dem Mitglied des Siemens-Zentralvorstandes sprachen die CW-Redakteure Martin Bayer und Gerhard Holzwart.*

CW: Es sind stürmische Zeiten bei der Siemens AG. Unpopuläre Maßnahmen wie zum Beispiel Entlassungen mussten angekündigt werden. Sind die unlängst präsentierten Zahlen endgültig oder müssen sich Ihre Mitarbeiter auf noch Schlimmeres einstellen?

JUNG: Die Zahlen sind ja bekannt, aber wir haben nichts von Entlassungen gesagt. Wir wollen lediglich die Zahl der Stellen reduzieren. Das heißt noch nicht, ob die Betroffenen entlassen oder an einer anderen Stelle eingesetzt werden.

Bei ICM ist es relativ einfach. Die 2600 befristeten Stellen in der Fertigung bauen wir sukzessive ab. Auch das sind in dem Sinne keine Entlassungen. Bei ICN ist die Angelegenheit etwas schwieriger. Wir mussten das Kostensenkungsprogramm um mindestens zwei Milliarden Euro ausbauen. Das beinhaltet jedoch nicht nur Kostenreduzierungen. Auch mehr Umsatz oder Portfolio-Maßnahmen können zur Erfüllung beitragen. Natürlich könnte das Programm auch weitere Personalmaßnahmen notwendig machen. Aber da ist bis jetzt noch nichts beschlossen. Wir möchten natürlich auch Thomas Ganswindt, dem neuen Vorsitzenden des Bereichsvorstandes, der ja als Sanierer bekannt ist, die Möglichkeit geben, die Situation genau zu analysieren und dann gemeinsam mit seinen Kollegen im Bereichsvorstand Vorschläge zu erarbeiten.

CW: Kann Thomas Ganswindt überhaupt die notwendige Kompetenz im Netz- und Mobilfunkgeschäft vorweisen oder soll er nur den Feuerwehrmann spielen, der die Kosten drastisch herunterfährt?

JUNG: Herr Ganswindt kommt aus dem Segment Signaltechnik von Transportation Systems (TS), das früher zur Nachrichtentechnik gehörte. Er hat die ganze Stellwerks- und Zugbeeinflussungstechnik betreut, also den Elektronikteil von TS. Außerdem hat er sich einen Namen als Sanierer gemacht. Wir sind überzeugt, dass ICN die richtige strategische Aufstellung hat. Die Schwäche ist, dass die Kostensituation nicht mit der Konsequenz verbessert wurde, die notwendig gewesen wäre.

CW: Das lässt den Schluss zu, dass sein Vorgänger Koch gehen musste, weil er die Kosten nicht in den Griff bekommen hat.

JUNG: Er musste ja nicht gehen. Der Abschied erfolgte im gegenseitigen Einvernehmen. Die Entscheidung war jedoch Sache des Aufsichtsrates. Herr Koch hat sich große Verdienste um ICN erworben. Gerade die strategische Ausrichtung entstand unter seiner Leitung. Aber es war auch ein Job, der nicht nur Spaß machte. Daher ist es zu verstehen, dass man sich irgendwann anderen Interessen widmen will.

CW: Sind im Bereich ICM weitere Restrukturierungs-Maßnahmen geplant?

JUNG: Das bisher genannte Einsparpotenzial von 800 Millionen Euro betrifft nur den Handy-Bereich. Jetzt werden wir auch das Segment mobile Netze angehen. Auch hier wollen wir die Kosten senken. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, Personal zu entlassen. So einfach machen wir es uns nicht. Es geht zum Beispiel auch darum, die Herstellungskosten zu senken, Prozesse und Entwicklungsaufwendungen zu optimieren.

CW: Denken Sie auch darüber nach - ähnlich wie die meisten Ihrer Wettbewerber es derzeit tun - Produktionsanlagen still zu legen oder sogar ganz aus der Fertigung auszusteigen?

JUNG: Know-how im Produktionsbereich bedeutet für Siemens Kernwissen. Es ist für meine Begriffe ganz entscheidend, eine eigene Fertigung zu halten und diese insbesondere mit der Entwicklung eng zu verklammern. Wir werden also nicht die gesamte Fertigung auslagern, wie es unsere Konkurrenten tun. Das halten wir sogar für einen großen strategischen Fehler. Ich bin mir sicher, dass manche unserer Wettbewerber dies nur tun, um schnell ´Action´ zu zeigen. Doch wenn man Action nur um der Action willen zeigt, dann ist das Aktionismus. Doch auch wir werden die Zahl unserer weltweit 18 Fertigungsanlagen reduzieren und uns bei der Herstellung auf Kernprozesse beschränken.

CW: Wenn Sie sinngemäß von Kernfertigung sprechen, meinen Sie damit auch eine Konsolidierung auf bestimmte Kernprodukte?

JUNG: Das haben wir schon gemacht. ICN konzentriert sich auf die Themen IP-Konvergenz und Breitbandzugang. Der optische Datentransport, auf den sich zahlreiche Wettbewerber fokussieren, bereitet große Probleme - bei anderen Firmen. Wir führen diese Geschäft deshalb lediglich als unterstützende Technologie für unsere strategischen Schwerpunktbereiche.

Der Grund hierfür ist klar: Insbesondere im Long-Distance-Bereich ist mit optischen Netzen kein Geld zu verdienen. Gewinn verspricht dagegen das Access-Segment. Hier benötigt man einen Anschluss pro Teilnehmer, unabhängig davon, wie viel Verkehr der Teilnehmer generiert. Im Long-Distance-Bereich dagegen muss die Pipe nur so groß sein, wie es der Verkehr erfordert. Wächst dieser nicht oder nur wenig, benötigt man auch keine steigenden Leitungskapazitäten.

In den zurückliegenden 18 Monaten hat sich jedoch durch die verbesserten Übertragungstechniken die weltweit zur Verfügung stehende Leitungskapazität weitaus schneller entwickelt als der Bandbreitenbedarf. Folglich sind die Netze zu wenig ausgelastet. In den USA werden nur noch wenige Prozent des Fernnetzes benutzt. Genau deshalb stecken viele Unternehmen, die in optische Netze investiert haben, jetzt in den größten Schwierigkeiten.

[...]

CW: Auch Siemens hat unbestreitbar Probleme mit der Netzsparte. Haben Sie die Entwicklung im Markt nicht auch überschätzt?

JUNG: Doch - ich glaube schon. Aber wir haben sie weitaus weniger überschätzt als andere. Man kann sich einem Trend nicht entziehen, weil Sie ansonsten Prügel von Analysten, Investment-Bankern und der Presse beziehen. Man muss im Chor des Wachstumsgesanges mitsingen. Das eigentliche Problem aus meiner Sicht war, dass man eine Produktgruppe und einen Markt, der im Grunde kerngesund war und tolle Wachstumszahlen vorweisen konnte, künstlich noch schneller wachsen lassen wollte.

Das bekamen auch die Hersteller der Netzinfrastruktur zu spüren. Sie versuchten ihr Glück mit Akquisitionen. Das generiert schlagartig Wachstum. Ein anderes beliebtes Mittel war die Finanzierung von Kunden, das Vendor-Financing. Insbesondere in den USA sind immer mehr Operator auf den Markt gekommen. Sie hatten kein Geld, sondern nur eine Lizenz. In der Folge wurden diese Startups von Lucent, Nortel und den anderen finanziert - auch von Siemens, jedoch vielleicht nur mit einem Zehntel von dem, was die Konkurrenz in diese Unternehmen gesteckt hat. Und wieder hat man uns kritisiert, weil wir dadurch nicht so schnell gewachsen sind. Doch die finanzierten Firmen sind mittlerweile fast alle Pleite gegangen. Damit kamen die Abschreibungen bei Lucent, Nortel, Cisco und Marconi, die zum Teil zehnmal so hoch sind, wie bei Siemens. Aber auch wir mussten abschreiben und werden es weiter tun.

Nun könnte man sagen, das ist eine gesunde Entwicklung, wenn Firmen, die kein Geld haben, Pleite gehen und wenn Firmen, die so dumm sind, diese Firmen zu finanzieren, Abschreibungen verbuchen müssen. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Man darf nicht vergessen, dass in der Konkursmasse tolle Netze existieren. Zwar nicht mehr als funktionierendes Netz, doch als hochwertiges Equipment, das jetzt den Markt zu Niedrigpreisen überschwemmt. Das hat zum eigentlichen Marktzusammenbruch geführt.

CW: Stellt das Thema Vendor-Financing nicht auch im Bereich UMTS eine tickende Zeitbombe dar?

JUNG: Das ist ein Thema, das mir unheimlich im Magen liegt. Meiner Meinung nach haben hier mehrere Länder ein Eigentor geschossen. England und Deutschland waren unheimlich stolz darauf, bei der Lizenzversteigerung soviel Geld eingenommen zu haben, und haben sich damit einen Bärendienst erwiesen. Wenn die Lizenz für ein Land dreimal so viel kostet, wie die Investitionen für das eigentliche UMTS-Netz, dann stimmt etwas nicht.

CW: Siemens will auch am UMTS-Geschäft verdienen. Daher noch einmal die Frage: Drohen hier nicht wieder Gefahren durch Vendor-Financing, wenn dem einen oder anderen Netzbetreiber - wie zu erwarten ist - die Luft ausgeht?

JUNG: Das Thema Vendor-Financing ist bei uns bisher vernachlässigbar. Allerdings zeigen wir dadurch wiederum weniger Wachstum als andere. Aber das nehmen wir in Kauf, weil wir der Meinung sind, auch diese Blase wird irgendwann platzen. Im deutschen Mobilfunkmarkt können keine sechs Operator überleben. Deshalb halten wir uns hier sehr zurück, was Finanzierungen betrifft.

CW: Wie schätzen Sie generell die Marktchancen für UMTS ein? Es gibt genügend Stimmen, die behaupten, UMTS wird ein Flop, zumindest gemessen an den ursprünglichen Wachstumsprognosen. Kann es sein, dass hier wieder ein Zukunftsszenario zusammenbricht, ehe es überhaupt begonnen hat?

JUNG: Das Thema UMTS berührt Siemens an vielen Stellen. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass es ein nach wie vor interessanter Markt ist. Die Erwartungen, die es mal gab, werden jedoch nicht eintreffen. Vernünftige Anwendungen wird es nur geben, wenn die offenen Schnittstellen da sind. Interessant sind vor allem Angebote, die sich auf bestimmte Lokationen beziehen. Was jedoch die Killer-Applikation sein wird, weiß ich nicht. Ich hätte Ihnen vor ein paar Jahren auch nicht sagen können, dass SMS eine Killer-Applikation wird. Wachstumsraten von 100 Prozent pro Jahr wird es nicht mehr geben, und das wäre auch ungesund. Wir müssen uns in unserer Branche prinzipiell damit abfinden, dass Zuwächse von fünf bis zehn Prozent eine wunderbare Sache sind. Andere sind schon mit zwei bis drei Prozent zufrieden.

[...]

CW: Korrespondiert das mit den vom Konzernchef Heinrich von Pierer vorgegebenen Margen?

JUNG: Die Margenziele liegen bei ICN und ICM zwischen acht und elf Prozent für das Geschäftsjahr 2003. Das bleibt ganz klar unser Ziel. Wir wollen in einem schwach wachsenden Markt die Kosten soweit senken, um dies zu erreichen.

CW: Auch im Handy-Geschäft?

JUNG: Auch der bislang stark subventionierte Handy-Markt wird sich ändern. Hier steigen die Preise, weil sich das Geschäft rechnen muss. Das begrüße ich. Dieser Hype war entsetzlich.

CW: War der Absturz nicht vorherzusehen?

JUNG: Natürlich hat jeder gewusst, dass die ganze Geschichte einmal platzen muss. Aber was wollen Sie denn machen? Würden Sie sich mit einem Wachstum von fünf Prozent zufrieden geben, wenn die Konkurrenz um 50 Prozent wächst? Wir mussten hier mitspielen. Aber dass der Markt so radikal abstürzt, hat keiner vorhergesehen - kein Analyst, kein Reporter und ich auch nicht, das gebe ich zu, andere aber auch nicht.

CW: Angeblich hat ICN auch Probleme mit seinem internen SAP-System. So soll es Fehlbeträge in Millionenhöhe durch falsch oder gar nicht ausgestellte Rechnungen gegeben haben?

JUNG: Im gesamten Unternehmen werden zurzeit durch unsere E-Business-Maßnahmen die R3-Varianten radikal reduziert. Wir wollen den Konzern mit einem Zwei-Milliarden-Programm in relativ kurzer Zeit auf E-Business-Kurs bringen. Im Rahmen dieser Kampagne werden alle R3-Anwendungen untersucht. Bei einer solchen Umstellung, kann es immer passieren, dass etwas schief geht. Verluste für ICN sind jedoch nicht darauf zurückzuführen.

[...]

CW: Ist für Siemens ICN ein Merger ein Thema, wie er beispielsweise vor einigen Wochen zwischen Lucent und Alcatel angedacht war, um den Markt in Ihrem Sinne zu konsolidieren?

JUNG: Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir haben das Thema vor einem halben Jahr sehr ausführlich diskutiert. Wenn sie ein Unternehmen wie Lucent, der unglaubliche Probleme hat, mit einer Firma zusammenbringen, die auf der Kostenseite noch an einer Stelle steht, wo sie nicht sein sollte, dann kann das nicht gut ausgehen. Außerdem: Nennen Sie mir einen Merger in unserem Sektor, der geklappt hat. Anders sieht es im Mobilfunkbereich aus. Das Joint Venture von Ericsson und Sony ist ernst zu nehmen.

CW: Denken Sie an vergleichbare Schritte?

JUNG: Wir denken da überhaupt noch nicht. Wir sprechen mit allen möglichen Leuten, aber zurzeit spricht jeder mit jedem. Wenn etwas daraus wird, ist es gut, wenn nicht, schaffen wir es auch alleine.

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CW: Viele IT-Hersteller liebäugeln zurzeit mit dem Servicegedanken. Könnten sie sich hier Kooperationen vorstellen wie zum Beispiel zwischen Sun und EDS?

JUNG: So etwas kann man sich vorstellen. Es darf aber niemand sein, der mit anderen Bereichen der Siemens AG konkurriert. Ich halte es nicht für sinnvoll, einem Wettbewerber mit unserem Service den Markteintritt in Deutschland zu erleichtern. Dann soll er gefälligst sein eigenes Personal aufbauen.

[...]

CW: Wie schätzen Sie die künftige Entwicklung als Bitkom-Vorstand ein? Müssen die Prognosen revidiert werden?

JUNG: Ich glaube ja. Wir werden weniger optimistisch sein, weil wir Monat für Monat schlechtere Zahlen von unseren Mitgliedern hören. Das ist etwas, was für mich als Siemens-Mann zwar nicht befriedigend, aber zumindest beruhigend ist, weil sich alle unsere Konkurrenten genauso verschätzt haben wie wir. Die Zahlen werden auf ein normales Maß sinken - vielleicht sogar Null-Wachstum. Ich kann es noch nicht beurteilen.

Es ist schwierig, zwischen dem Optimismus, den unsere Mitglieder gerne verbreiten möchten, und der Realität zu unterscheiden. Der Bitkom ist auch nicht klüger als die Summe seiner Mitglieder, und die Summe seiner Mitglieder lässt nicht immer die Wahrheit raus. Manche nennen positivere Zahlen, weil sie glauben, damit den Markt ankurbeln zu können.

CW: Wird der Bitkom künftig auch anders auftreten?

JUNG: Mit Sicherheit. So wie sich die Branche normalisiert, wird sich auch der Bitkom normalisieren. Ich bin allerdings überzeugt, das die IT-Branche langfristig ein stärkeres Wachstum zeigen kann, als die Gesamtwirtschaft, weil diese Branche in alle Wirtschaftsbereiche hineinspielt. Ich sehe es auch positiv, das die Branche zur Normalität zurückfindet und von diesen verrückten Wachstumszahlen weggekommen ist. Die Art wie es geschehen ist, ist dagegen schmerzlich. Man kann eine Berg auch heruntergehen, man muss nicht herunterfallen.

*Wir geben das Gespräch an dieser Stelle nur auszugsweise wieder. Das vollständige Interview mit Volker Jung lesen Sie in der kommenden COMPUTERWOCHE Nr. 34 vom 24. August 2001.