Radikale Ansätze fehlen - Beispiel Schlecker

Hüten Sie sich vor Innovationsfallen

06.05.2013 von Renate Oettinger
Warum hochinnovative Unternehmen häufig den Anschluss an die Marktentwicklung verlieren, erklärt Jens-Uwe Meyer.
Alle wollen innovativ sein - aber die meisten Unternehmen stecken immer in den gleichen Fallen fest, die genau das verhindern.
Foto: Schlierner - Fotolia.com

Innovation ist "in" - zumindest verbal. Kaum eine Vorstandsrede, kaum ein Unternehmensprospekt, in dem dieses Wort nicht mindestens in jedem dritten Absatz auftaucht. Trotzdem tappen die Unternehmen immer wieder in die gleichen Innovationsfallen. Mit Schlecker, Manroland und Kodak haben diese alleine in diesem Jahr bereits drei prominente Opfer erwischt. Andere Unternehmen stecken tief in den Fallen - ohne es zu merken. Denn innovativ sind sie nur im Rahmen des Bestehenden. Radikal neue Innovationsansätze hingegen fehlen. Folgende fünf Innovationsfallen sorgen dafür, dass sich Unternehmen immer wieder im Kreis drehen.

Innovationsfalle 1: Die Hochglanzfalle

Wenn man sich die Web-Seiten, Unternehmensvisionen und Hochglanzbroschüren der meisten Unternehmen anschaut, stellt man schnell fest: Irgendwie sind sie alle visionär, hochkreativ und praktisch kurz davor, die Branche zu revolutionieren. Im ersten Moment klingt das beeindruckend. Schaut man jedoch hinter die Fassade, dann haben diese Botschaften oft dieselbe Substanz, wie die eines Waschmittels, das jetzt noch weißer wäscht, oder eines Puddings, der jetzt noch cremiger ist.

Je häufiger die Mitarbeiter und Manager eines Unternehmens solche Botschaften vernehmen, desto mehr glauben sie: "Wir sind schon innovativ, wozu noch mehr?" Die Folge: Das Unternehmen leidet zunehmend unter blinden Flecken. Man konzentriert sich auf die Innovationsfelder, die schnell und einfach Erfolge bringen. Doch wirklich radikale Innovationen finden nicht statt. Märkte umgestalten tun Mitbewerber von außen. So geschehen in der Automobilindustrie: Ausgerechnet ein Branchen-Outsider - Shai Agassi, ein ehemaliger SAP-Vorstand - entwickelt ein vollkommen neues Modell zur Elektromobilität. Während die klassischen Automobilfirmen weiter daran arbeiten, Batterien besser und sparsamer zu machen, entwarf Agassi mit dem "Project Better World" ein komplettes Mietsystem für aufgeladene Elektrobatterien.

Was zeichnet Innovatoren aus?
Was zeichnet "Innovatoren" aus?
Ein echter Entrepreneur oder Innovator an der Unternehmensspitze zu sein, verlangt mehr als ein Unternehmen zu managen und die Ressourcen effektiv zu nutzen. Es schließt kreative Elemente ein wie das Identifizieren von Marktchancen, das Finden neuer Geschäftsideen und deren Umsetzung in Form neuer Geschäftsmodelle. Das setzt gewisse persönliche Eigenschaften voraus:
Neugier
Entrepreneure hinterfragen auch scheinbar selbstverständliche Dinge und wollen diese verstehen. Sie stellen Fragen, die andere nicht stellen - zum Beispiel: Warum muss ein Auto ein Lenkrad haben? Warum stapeln sich in meiner Schublade die Gebrauchsanleitungen und Fernbedienungen? Muss ein Unternehmen eine "Zentrale" haben?
Innere Unruhe
Entrepreneure geben sich mit bestehenden Lösungen nicht zufrieden. Sie hinterfragen auch Selbstverständlichkeiten wie etwa, dass in nahezu jedem Haushalt eine Bohrmaschine vorhanden ist, mit der sie ein- oder zweimal jährlich Löcher in ihre Wände bohren, obwohl sie das eigentlich lästig finden. Also ergibt sich die Frage: "Wie könnte man Dinge anders befestigen?" So gelangen sie zu ganz neuen Problemlösungsansätzen und schließlich zu Produkten, die sich verkaufen lassen.
Imagination
Entrepreneure verfügen über die Fähigkeit, sich Dinge anders vorzustellen als sie gerade sind. Sie sehen beim Betreten einer leeren Wohnung nicht die kahlen, kalten Räume - also die Realität. Sie sehen vor ihrem geistigen Auge vielmehr, wie die eingerichtete Wohnung künftig aussehen könnte. Sie sehen also die Möglichkeiten, Potenziale und Chancen.
Ausdauer und Beharrlichkeit
Entrepreneure zeichnen sich durch eine gewisse "Starrköpfigkeit" aus. Sie glauben auch noch an eine Lösung, wenn die ersten Versuche gescheitert sind und fast alle im Umfeld sagen "Das klappt nie". Zugleich bewahren sie jedoch den erforderlichen Realitätsbezug, ohne den sie Phantasten wären.
Unternehmer- statt Managergeist:
Entrepreneure sind Macher und Erfinder zugleich. Sie verfügen wie Edison über einen gesunden Pragmatismus. Ein typisches Beispiel ist Reinhold Würth, der aus der väterlichen Schraubenhandlung die weltweit agierende, auf Befestigungs- und Montagetechnik spezialisierte Unternehmensgruppe Würth entwickelte. Ein weiteres Beispiel ist Artur Fischer, der die Fischerwerke gründete, die heute noch auf ihrer Webseite stolz verkünden: "Aus der Belegschaft stammen jährlich 13,2 Patentanmeldungen pro 1000 Mitarbeiter (Industriedurchschnitt: 0,54). Bezogen auf die Zahl der Mitarbeiter meldet Fischer mehr Patente an als jeder der zehn aktivsten Anmelder in Deutschland."

Innovationsfalle 2: Die Erfahrungsfalle

Insider, die auf den Managementtagungen des ehemaligen Druckmaschinenherstellers Manroland waren, erinnern sich gerne an die Botschaften des Vorstandes. Der Zeitung wurde eine große Zukunft vorausgesagt. Immer wieder wurde die Solidarität zur Druckrolle beschworen, während die meisten Medienverlage bereits ihr Wachstum in ganz anderen Feldern suchten. Der Vorstand von Manroland ignorierte das. Die eigenen Erfahrungen sprachen dagegen. Für den damals zweitgrößten Druckmaschinenhersteller der Welt war es schlichtweg unvorstellbar, dass seine Produkte einmal überflüssig werden könnten. Solange, bis der Konzern Anfang 2012 zerschlagen wurde.

Das Top-Management zahlreicher Unternehmen macht den Fehler: Es beurteilt die Zukunft mit den Erfahrungen der Vergangenheit. Menschen haben schon immer Zeitung gelesen, sie sind schon immer in ein Reisebüro gegangen, um ihren Urlaub zu buchen, und sie haben schon immer Kleidung von der Stange gekauft. Unvorstellbar, dass sie morgen eine Zeitung unpraktisch finden und als totes Holz verspotten, einem automatischen Buchungsassistenten mehr vertrauen als einem Reisebüro und nach personalisierter Kleidung sowie selbst designten Möbeln verlangen. Bei der Beurteilung der Zukunft stehen die Erfahrungen der Vergangenheit oft im Weg. Trotzdem vertrauen Unternehmen auf sie und merken nicht, dass sie tief in der Falle stecken.

Innovationsfalle 3: Die Trägheitsfalle

Prozessoptimierung, Kostenoptimierung, Lean-Management: Das waren die Schlagwörter der Neun-ziger- und frühen Zweitausenderjahre. Arbeitsabläufe wurden systematisch gescannt, jede überflüssige Handbewegung untersagt und jede Tätigkeit in genau definierte Prozessabläufe gezwängt. Das hat bis heute einen positiven Effekt: Unternehmen können das operative Geschäft viel schneller, besser und billiger als andere beherrschen. Die Kehrseite ist: Es bleibt kaum Zeit, über neue Wege nachzudenken. Anders gesagt: Man ist so sehr damit beschäftigt, den operativen Ergebnissen hinterherzuhecheln, dass man sich kaum fragt, ob dies noch sinnvoll ist.

Gerade Unternehmen, die durch starre Strukturen und feste Prozessabläufe sehr erfolgreich wurden, sind häufig kaum in der Lage, sich außerhalb dieser Prozesse zu bewegen. Mitarbeiter, die mehr als zehn Jahre vor allem in ihren Prozessen zu funktionieren hatten, werden nicht über Nacht zu kreativen Querdenkern und Revolutionären. Selbst wenn dieses Potential einmal in ihnen schlummerte, es wurde schlicht und ergreifend nicht gefördert. Diese Unternehmen sind heute so flexibel wie Betonmauern. Und weil sie so unbeweglich geworden sind, schaffen sie es kaum, aus der Trägheitsfalle wieder herauszukommen.

Innovationsfalle 4: Die Erfolgsfalle

Erfolg macht sexy. Erfolg fühlt sich gut an. Erfolg macht zufrieden. Genau das ist das Problem. In zahlreichen Unternehmen werden schnelle Erfolge belohnt. Ein kurzfristiges Plus der Verkaufszahlen, ein großer Deal, kurzfristige Erfolge bei der Neukundengewinnung. Gerade in Unternehmen, die vom Quartalsdenken geprägt sind, ist der schnelle Erfolg wichtiger als langfristiges Denken. Im Kern ist das nicht verkehrt, denn: Die Summe vieler schneller Erfolge macht ein erfolgreiches Unternehmen aus - nur nicht unbedingt ein innovatives. Solange schnelle Erfolge mit dem Bestehenden zu erzielen sind, hat das Neue kaum eine Chance, sich durchzusetzen.

Die für Innovation so wichtige Investitionsphase am Anfang erscheint nichtreizvoll, wenn man mit dem Bestehenden noch gut verdienen kann. Bei der Frage, ob sie Geld lieber in fünf neue Verkäufer oder ein fünfköpfiges Innovationsteam investieren, entscheiden sich Unternehmen, die kurzfristige Erfolge suchen, für die neuen Verkäufer. Langfristig jedoch wird der Erfolg von heute zum Problem von morgen. Denn die Steigerung des Bewährten funktioniert nicht ewig. Wie viele Pizzas mehr kann man verkaufen? Ein durchschnittlicher Mensch schafft nicht mehr als eine am Tag. Wie oft wollen sich Zuschauer noch das "Dschungelcamp" und "Deutschland sucht den Superstar" anschauen - trotz aller Werbemaßnahmen? Und kann man es wirklich schaffen, Leuten einzureden, sie bräuchten einen Zweit-, Dritt- oder Viertstaubsauger?

Innovationsfalle 5: Die Kannibalismusfalle

Kannibalen haben einen schlechten Ruf. Mitglieder der eigenen Spezies zu verspeisen, gilt nicht als schick. Auch Unternehmen haben beständig Angst vor Kannibalismus. Wenn einen die Konkurrenz angreift, ist das schlimm. Schlimmer ist es jedoch, wenn ein Unternehmen sich selbst Marktanteile wegnimmt. Aus diesem Grund weigerten sich die Elektronikhändler Saturn und Media Markt jahrelang, Onlineshops zu eröffnen. Die Kunden könnten schließlich online und nicht mehr in den Geschäften einkaufen. Auch der Entertainment-Gigant Sony hatte kein Herz für Kannibalen. Um das eigene CD-Geschäft zu schützen, wurde die Entwicklung eines Download-Portals für Musik nur halbherzig vorangetrieben. Und der Fotohersteller Leica? Er vermied es Anfang der 90er Jahre tunlichst, in die digitale Fotografie einzusteigen - aus Angst man könnte das eigene Geschäft mit analogen Apparaten gefährden.

In allen drei Fällen profitierten andere. Amazon nahm dem Media Markt eine große Zahl an Kunden weg, Apple entwickelte iTunes und das Geschäft mit der digitalen Fotografie fand weitgehend ohne Leica statt. Zu viel Rücksichtnahme auf das bestehende Geschäftsmodell und interne Befindlichkeiten sowie die Hoffnung "Es wird schon niemand anders auf die Idee kommen" verhindern einen gesunden Kannibalismus. Dabei sind Kannibalen besser als ihr Ruf. Ein Unternehmen, das sich selbst kannibalisiert, handelt proaktiv und kann Märkte der Zukunft gestalten. Andere geraten in die Defensive und werden irgendwann zu Gejagten. Die Kannibalismusfalle sorgt dafür, dass Unternehmen sich nicht bewegen, obwohl sie wissen, dass sie dies eigentlich tun müssten. Und wenn sich das Unternehmen dann irgendwann doch zum Kannibalismus entschließt? Dann haben Wettbewerber am Geschäftsmodell bereits so viel weggefressen, dass praktisch nichts mehr übrig ist.

Hochinnovative Unternehmen verstehen es, die fünf Innovationsfallen zu vermeiden. Sie setzen nicht nur auf eine Verbesserung des Bestehenden, sondern lassen auch radikale Innovationsansätze zu. Sie versuchen nicht, in übersättigte Märkte Produkte hineinzubringen, die noch überflüssiger sind, als die, die es bereits gibt. Stattdessen entwickeln sie Produkte, für die es noch keine Märkte gibt, Dienst-leistungen, die einzigartig sind, und Geschäftsmodelle, die klassische Branchengrenzen sprengen. Unternehmen hingegen, die sich aus den Innovationsfallen nicht befreien können, drehen sich weiter im Kreis. (oe)

Kontakt:

Der Autor Jens-Uwe Meyer ist Geschäftsführer der Ideeologen - Gesellschaft für neue Ideen GmbH, Baden-Baden, Lehrbeauftragter an der Handelshochschule Leipzig und mehrfacher Buchautor. Im März 2012 ist im Verlag BusinessVillage sein neuestes Buch "Radikale Innovation: Das Handbuch für Marktrevolutionäre" erschienen (nähere Infos: www.radikaleinnovation.de). Tel.: 0700 4333-6783, E-Mail: meyer@ideeologen.de