Plattformökonomie

Industrie 4.0 - das ungenutzte Potenzial

30.01.2020 von Steffen Brehme  IDG ExpertenNetzwerk
Die Digitalisierung von Geschäftsmodellen im verarbeitenden Gewerbe hat gerade erst begonnen. Anbieter von Online-Plattformen sollten sich jetzt Gedanken über deren sinnvolle Vernetzung machen.

Plattformökonomie ist eines der zentralen Themen der nächsten Hannover Messe, die vom 20. bis 24. April 2020 stattfindet. Gleich zwei ganze Hallen sind für das Thema vorgesehen. Mit AWS, Microsoft, SAP und Cisco sind namhafte Anbieter angemeldet. Und die Bedeutung von Online-Plattformen steigt aktuell weiter an. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie nennt in der im September 2019 veröffentlichten Studie "Die volkswirtschaftliche Bedeutung von digitalen B2B-Plattformen im Verarbeitenden Gewerbe" konkrete Zahlen. Danach werden IoT-Plattformen bisher nur von sieben Prozent der Industriebetriebe eingesetzt, während Transaktionsplattformen, die als Marktplätze fungieren, bereits von 14 Prozent genutzt werden. Innerhalb von drei Jahren wird in diesem Bereich eine Zuwachsrate von 50 Prozent prognostiziert - Grund genug für KMU, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Von der Papaya-Ernte per Roboter bis zum fertigen Fruchtsaft im Regal: Es gibt viele Daten, deren Erfassung interessant wäre und die den beteiligten Unternehmen innerhalb einer Plattformökonomie hilfreich sein könnten.
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Soll diese Entwicklung tatsächlich eintreten, sind müssen mehr Plattformen entstehen, die einen einfachen Zugang ermöglichen und durch offene Systeme einer Vielzahl von Unternehmen Vernetzungsangebote machen, die sie allein nicht stemmen könnten. Diesen Weg gehen zum Beispiel bereits einige Logistikplattformen. Ihr Ziel ist es, allen Beteiligten an einer Transportkette frühestmöglich und umfassend Sendungsinformationen zur Verfügung zu stellen, den eigenen Trackingaufwand zu reduzieren, Transportkosten zu optimieren und Liefertreue und Transparenz zu erhöhen. Plattformen in anderen Bereichen wollen ähnliche Effekte erreichen.

Der Schlüssel zur Plattformökonomie

Damit das funktioniert, sind einige B2B-Plattformen heute bereits mit mächtigen Standard-Tools zur Datenintegration ausgestattet. Sie erlauben es mit logisch aufeinander aufbauenden Schritten praktisch jedes beliebige einigermaßen gängige System anzubinden, um den sicheren und problemlosen Datenaustausch zwischen allen Beteiligten zu gewährleisten. Damit entsteht eine Doppelbewegung:
Den bisherigen großen Plattform-Unternehmen mit ihren abgeschotteten eigenen Systemlandschaften droht ein Teil ihrer Marktmacht verloren zu gehen, weil sie ihre Kunden nicht mehr proprietär in der gebotenen Geschwindigkeit und Effizienz an ihre speziellen Systeme binden können.
Der Verlust wird allerdings kompensiert durch die Vielzahl der kleineren Unternehmen, die über neue alternative Plattformen Zugang zu komplexen technologischen Dienstleistungen erhalten, die weit über dem eigenen Investitionsbudget liegen und die so neue Märkte adressieren können.

Damit erhöht sich der Wettbewerb - und die Zahl der Transaktionen wächst exponentiell. Soll die Ausweitung der Plattformökonomie gelingen, müssen Plattformbetreiber also vor allem den problemlosen, schnellen und sicheren Zugang für einen möglichst großen Teil des Marktes gewährleisten.

Lesetipp: Wie Plattformen die Digitalwirtschaft bestimmen

Auf der anderen Seite ist es für potenzielle Nutzer wichtig, eine möglichst hohe Vernetzungsdichte zu erreichen, um tatsächlich in den Genuss von Netzwerkeffekten zu kommen. Ob sich im B2B-Bereich einzelne Plattformen durchsetzen werden, die ähnlich wie Amazon, Uber oder Airbnb funktionieren, ist derzeit kaum abzusehen. Dem entgegen steht zumindest das Bestreben von neutralen Plattformbetreibern, durch die Vernetzung von Plattformen übergeordnete Mehrwerte zu schaffen. Das könnte marktbeherrschende Stellungen zumindest einschränken.

Die Henne-Ei-Frage lautet allerdings, ob überhaupt eine ausreichende Zahl von Unternehmen heute bereits Dienste oder Leistungen anbieten kann, mit denen sie durch Plattformen einen erweiterten Nutzen erwarten kann. Folgt man der Einschätzung der oben genannten Studie des Wirtschaftsministeriums, dass "Plattformen erst zum Angebot digitaler Dienste befähigen", könnte sich der Wettbewerbsabstand zwischen großen und mittleren Unternehmen zunächst weiter vergrößern - es sei denn, Plattformanbieter ermöglichen mit möglichst niedriger Eintrittsbarriere zunächst sehr breit adressierbare Dienstleistungen mit schnellem Nutzeneffekt.

Wie Online-Plattformen den Umsatz treiben

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass sich auch kleine und mittlere Unternehmen zum Beispiel mit der Nutzung von Transaktions- wie IoT-Plattformen auseinandersetzen sollten: "Industriebetriebe, die ausschließlich IoT-Serviceplattformen nutzen, generieren einen im Schnitt 6 Prozentpunkte höheren Innovationsumsatz. Produzenten, die auf beide Plattformtypen setzen, weisen zudem einen im Schnitt 3 Prozentpunkte höheren Umsatzanteil mit Dienstleistungen auf. Bei der ausschließlichen Nutzung von Transaktionsplattformen konnten keine Zusammenhänge zu Umsätzen festgestellt werden."

Durch die Nutzung von IoT-Plattformen kann, sofern die einfache Datenintegration den finanziellen Aufwand und die logistischen Hürden gering hält, ein schneller Return on Investment erreicht werden. Dazu tragen zum Beispiel mögliche sinkende Transaktionskosten oder die Vergrößerung der adressierbaren Märkte bei. Mit den gesammelten Erfahrungen weiten sich die Möglichkeiten in Richtung neuer Angebote und einer gesteigerten Innovationsfähigkeit zudem rasch aus.

Hinzu kommt, dass Unternehmen die Dienstleistungen unterschiedlicher Plattformen immer stärker verknüpfen können und damit nicht nur ihre Daten- sondern eine Business-Integration vorantreiben. Wer seine Produktion etwa mit Sensoren ausstattet, kann diese Daten bei einem Cloud-Anbieter in einer Datenbank speichern. Dort kann wiederum ein Cloud-gestützter Analyse-Dienst zugreifen, der die Daten auswertet und zum Beispiel Wartungs- oder Auslastungsoptimierungen errechnet. Werden die Ergebnisse dann zurück in die eigene PPS (Produktionsplanungssoftware) übermittelt, entsteht eine Optimierungsschleife, die im besten Fall zu ständigen Verbesserungen führt.

Round Table IoT
Juergen Hahnrath, Head of IoT Germany Cisco Systems GmbH
„Angesichts der heftigen Disruption in vielen Branchen müssen auch die meisten Business Cases neu definiert werden. Es ergibt heutzutage wenig Sinn, die bisherigen Product-Lifecycle-Perioden im Maschinen- und Anlagenbau von 40 Jahren und mehr für neue IoT-Anwendungsszenarien zugrunde zu legen, denn wir können derzeit allenfalls fünf bis sieben Jahre nach vorne blicken.
Uwe Herrmann, Key Account Manager Objektkultur Software GmbH
„Die großen Automobilhersteller fordern von ihren Zulieferern und deren Lieferanten verstärkt den Zugriff auf Maschinen- und Produktionsdaten, um die Einhaltung der Qualitätsstandards direkt kontrollieren zu können. Jeder möchte auch wissen, in welcher Produktionsphase sich sein Produkt gerade befindet. Besonders wichtig ist dies zum Beispiel bei völlig neuen Antriebstechnologien im Bereich E-Mobility.“
Nawid Sayed, Projekt Manager Cyber Security Services Tüv Süd
„Wir sehen vor dem IoT-Hintergrund derzeit zumindest im mittelständischen Industrieumfeld eher noch Optimierungsbedarf – und weniger Transformationsprojekte. In vielen Fällen wird dem Aspekt der IT-Security außerdem zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Marcel Buchner, Country Manager Germany & Austria Tech Mahindra GmbH
„Man muss sehr stark zwischen einzelnen Branchen unterscheiden. Der Transformationsdruck in der Automobilbranche ist aktuell viel höher und somit IoT schon weiter entwickelt als beispielsweise im Anlagen- und Maschinenbau. Dort sind viele Unternehmen noch am Anfang von Industrie 4.0.“
Dr. Andreas Gallasch, Geschäftsführer SOFTWARE FACTORY
„Bei den Verantwortlichen im Produktionsbereich fehlt es oftmals an der nötigen Awareness für IT-Security. Vielfach mangelt es auch an einer konsistenten Netzinfrastruktur und Sicherheitsarchitektur. Es gibt ja beispielsweise keinen Feldbus, der verschlüsselt ist. Darüber liegende Netzwerkebenen sind oftmals auch nicht verschlüsselt, obwohl es möglich wäre.“
Dr. Bernhard Kirchmair, Geschäftsführer Axians Digital Acceleration GmbH
„Mit der Brille des IT-Managers und auch aus Unternehmenssicht betrachtet, geht es bei IoT natürlich um einen tief greifenden Transformationsprozess. Aus Infrastruktursicht reden wir aber in erster Linie über ein effizienteres Ressourcenmanagement und die bessere Verzahnung von PPS-, ERP- und SCM-Systemen.“
Karsten Stöhr, Solutions Engineer DataStax
Bei IoT nur über reine IT-Themen, über Machine Learning und IT-Security zu diskutieren greift zu kurz. Es geht in Zukunft vor allen Dingen um den Wert der Daten und der darauf basierenden Geschäftsmodelle. Die Tatsache, dass heutzutage traditionelle Gewerbe wie beispielsweise Taxiunternehmen gegen eine App von Plattformbetreibern konkurrieren müssen, sollte allen Unternehmen die Augen öffnen.“
Christian Koch, Director GRC & IoT/OT, NTT Security
„IoT ist ähnlich wie die Blockchain schon geraume Zeit ein typisches Hype-Thema. Da gab es viele Blaupausen, die aber mit der konkreten Realität der Unternehmen wenig zu tun hatten. Jetzt kommen wir in eine Phase, wo es zunehmend um die Business-Relevanz geht. Vor diesem Hintergrund wären alle Anbieter und Dienstleister gut beraten, sich den konkreten Anwendungsbedarf im Öko-System des jeweiligen Kunden anzuschauen. Vieles lässt sich bei IoT-Szenarien nicht über einen Kamm scheren. Es kommt im Einzelfall darauf an, was das betreffende Unternehmen wirklich benötigt, und nicht darauf, was eher ,nice to have‘ ist.“
Dorian Gast, Head of Business Development IoT Germany, Israel, UAE
„IoT ist bei den Unternehmen definitiv angekommen. In den meisten Firmen hat man die Phase eines Proof of Concept längst hinter sich gelassen und arbeitet an konkreten Use Cases mit entsprechenden finanziellen und personellen Ressourcen.“

Von der Insellösung zur B2B-Plattformökonomie

Für Anbieter neutraler Plattformen stellt sich die Aufgabe, nicht nur in eigenen Insellösungen zu denken. Online-Plattformen, die selbst wieder in einer Plattformökonomie weiter vernetzt sind, werden für das Zielpublikum interessanter und können Monopolisierungstendenzen entgegenwirken.

Die technischen Möglichkeiten sind heute vorhanden. Erste neutrale IoT-Plattformen zeigen, dass das verarbeitende Gewerbe positive Effekte erzielen kann. Die Studie legt allerdings auch nahe, dass es einen "radikalen Kulturwandel auf betrieblicher Ebene, weg von einer produktzentrierten und hin zu einer datenbasierten und geschäftsmodellorientierten Sichtweise" geben muss, "damit erfolgreich am Plattformgeschäft partizipiert werden kann". Bis zu drei Prozent der Bruttowertschöpfung könnten laut Studie bis 2024 über Plattformen entstehen - Tendenz weiter steigend.

Dass das Thema Plattformökonomie auf der Hannover Messe eine bedeutende Rolle spielt, ist ein wichtiges Signal. Jetzt wird aus den vielen guten Ansätzen ein industrieller Trend. (bw)