Barrierefreiheit im Netz

Inklusion für digitale Dienste

23.05.2024 von Uwe Stelzig  IDG ExpertenNetzwerk
Ab Mitte 2025 gilt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG). Wer digitale Produkte oder Dienstleistungen anbietet, muss seine Prozesse auf Barrierefreiheit und Inklusivität überprüfen – dazu zählen auch Kunden-Onboardings. Dabei sind nicht alle Prozesse den neuen EU-Standards gewachsen.
Menschen mit motorischen, kognitiven oder sensorischen Einschränkungen muss der Zugang zu Websites und digitalen Produkten ab Juni 2025 uneingeschränkt möglich sein. Das schreibt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) vor.
Foto: Markus Mainka - shutterstock.com

Ab Juni 2025 gilt mit der EU-Richtlinie 2019/882, dem European Accessibility Act (EAA), eine neue Gesetzgebung zur digitalen Barrierefreiheit. Ziel der Gesetzgebung ist es, Websites und digitale Produkte für möglichst alle Menschen zugänglich zu machen - unabhängig davon, ob sie motorische, kognitive oder sensorische Einschränkungen haben.

Unternehmen mit mindestens zehn Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz oder einer Bilanzsumme von mehr als zwei Millionen Euro, die solche digitalen Produkte oder Services anbieten, müssen die Anforderungen der einzelnen EU-Länder anhand der dort geltenden Gesetze prüfen - diese können über die Anforderungen der EU hinausgehen. In Deutschland wurde die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) geregelt. Bei Nichteinhaltung des Gesetzes drohen Unternehmen künftig Bußgelder in Höhe von bis zu 100.000 Euro. Ein guter Grund für Banken, Versicherer, Mobilitäts- und Telekommunikationsanbieter sich zeitnah mit diesem Gesetz auseinanderzusetzen.

Benutzerfreundlichkeit und Inklusion

Das Ziel des BFSG ist simpel: Niemandem sollte der Zugang zu Online-Produkten verwehrt werden. Dabei ist es egal, ob es sich um die Eröffnung eines Bankkontos, das Mieten eines Motorrollers oder die Nutzung eines anderen Dienstes handelt, bei dem der User oft seine Identität nachweisen muss.

Es gibt viele Faktoren, die zu Ungleichheit und mangelnder Inklusion bei der Identitätsüberprüfung führen können. Alter, Behinderung und neurodiverse Lebensweisen stellen eine Herausforderung für die Benutzerfreundlichkeit und Inklusion dar, ebenso wie geringe technologische Kenntnisse oder eine schlechte Internet-Infrastruktur.

Zudem sind Personen ohne Ausweispapiere vor Herausforderungen gestellt. Ohne Papier- oder Lichtbildausweis ist es schwierig, sich digital oder offline zu verifizieren. Das Fehlen von Ausweisdokumenten war schon immer ein Hindernis für die wirtschaftliche und soziale Eingliederung. Im Online-Zeitalter ohne Zugang zu digitalen Ausweisdokumenten und digitalen Verifizierungslösungen ist dies immer noch der Fall.

Die Bevölkerungsgruppe, die keinen gültigen Ausweis oder eine Geburtsurkunde hat, ist global sehr hoch. Der ID4D Global Coverage Estimate Reportgeht weltweit von 850 Millionen Personen aus, die kein offizielles Ausweisdokument besitzen. Um diese Zahl in den nächsten Jahren zu verringern, gibt es verschiedene Bestrebungen. Unter anderem versucht die Weltbank auf politische Entscheidungsträger in besonders betroffenen Regionen einzuwirken. Rein digital ausgestellte IDs in sogenannten Identity Wallets könnten hier langfristig ebenfalls unterstützen.

Ungleichheit durch KI-gestützte Systeme ausräumen

In vielen von Künstlicher Intelligenz (KI) gestützten Systemen zur Identitätsüberprüfung wurden rassistische Vorurteile, sogenannte "KI-Bias", festgestellt. Insbesondere Gesichtserkennungssoftware hatte lange Probleme damit, bestimmte ethnische Gruppen zu erkennen, weil die Trainingsdaten für die KI nicht repräsentativ für die Bevölkerung waren. Aber nicht nur ethnische Gruppen wurden oder werden von KI-Systemen ungleich behandelt. In den letzten Jahren hat der KI-Einsatz Tendenzen zur Diskriminierung von Frauen offenbart. Zum Beispiel werden bei der Erstellung von Texten weiterhin geschlechtsspezifische Begriffe wie "Polizist" oder "Feuerwehrmann" verwendet. Bei der Erstellung von Videos mit KI-Eingabeaufforderungen werden Rollen, wie beispielweise die einer Krankenschwester, weiterhin von Frauen dargestellt. Zudem gibt es auch Hinweise darauf, dass KI-gestützte maschinelle Bildverarbeitungssysteme bei weiblichen Testpersonen eine höhere Fehlerrate bei der Geschlechtserkennung aufweisen.

Um die Barrieren solcher Datenverzerrungen zu überwinden, gibt es verschiedene Projekte und Initiativen, die bestehenden Bias untersuchen. Dabei werden beispielsweise betroffene Gruppen aktiv miteinbezogen und basierend auf den Ergebnissen werden Toolkits für KI-Ingenieure, -Entwickler und -Datenwissenschaftler bereitgestellt. Somit soll in Zukunft gewährleistet werden, dass Bias in Datensätzen und Algorithmen besser erkannt und reduziert werden kann.

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Plattformansatz versus Einzellösung

In Hinblick auf die Barrierefreiheit und die Inklusion von digitalen Lösungen zeigt sich einmal mehr, dass es nicht die eine, dominante Lösung geben wird. Die Bedürfnisse von jüngeren, älteren, technisch versierten oder weniger versierten Menschen unterscheiden sich stark voneinander - dies gilt auch für die Identitätsprüfung, die häufig einen der ersten Schritte zwischen Serviceanbieter und Endnutzer darstellt.

Banken, Telekommunikationsanbieter, Versicherer oder Mobilitätsdienstleister sollten auf eine breite Auswahl an verschiedenen Lösungen setzen, um alle Bürgerinnen und Bürger abzuholen. Die Sicherheit muss dabei nicht zu Lasten von intuitivem Design und Nutzerfreundlichkeit gehen, sondern kann beispielsweise durch die Kombination aus technologischem Ansatz und menschlicher Expertise verbessert werden. Beispielsweise sollten Anbieter auf Online- und Offline-Lösungen - mit und ohne persönlichen Support - in der Customer Journey, aber auch im Onboarding setzen, um sämtliche Personen miteinzubinden.

Inklusives digitales Onboarding

Viele Dienstleister, die bereits digitales Kunden-Onboarding anbieten, investieren aktuell in neue vollautomatisierte Technologien - ein wichtiger Schritt hin zu einer besseren Nutzererfahrung. Für ein breites Spektrum von Behinderungen wie Seh-, Sprach- und Hörbehinderungen sowie kognitive und motorische Beeinträchtigungen (Einfach- und Mehrfachbehinderungen) ist das assistierte Videoidentifikationsverfahren in einem Echtzeit-Videocall eine der einfachsten Identifizierungsmethoden.

Videoidentifikationsplattformen lassen sich barrierearm oder auch barrierefrei gestalten, sodass auch Menschen mit Behinderungen, die Identifikationsprüfung eigenständig durchführen können. Das gelingt wenn die Plattformen beispielsweise kompatibel mit adaptiven Tastaturen, Screenreader- und Spracherkennungssoftware sind.

Ein wesentlicher Vorteil gegenüber vollautomatisierten digitalen Verfahren ist die Integration menschlicher Spezialisten in den Prozess. Menschen können noch flexibler auf Anwender eingehen als digitale Systeme. Zudem ist es möglich und rechtlich zugelassen, dass eine Assistenzperson den Anwender beim Ausführen der geforderten Identifikationsschritte unterstützt. Welche Art der Unterstützung rechtlich erlaubt ist, hängt dabei von der Art der Behinderung ab.

So können sich Nutzer mit Sehbehinderung die Identifikationsnummer von einer Assistenzperson vorlesen lassen. Diese wird dann nachgesprochen und eingegeben. Auch im Videocall mit dem Identifikationsspezialisten ist die Unterstützung durch eine zweite Person zugelassen. Körperlich beeinträchtigte Personen beispielsweise dürfen durch eine Assistenzperson beim Halten von Smartphone oder Tablet sowie Ausweisdokument unterstützt werden, wobei die Assistenzperson allerdings nicht mit dem ID-Spezialisten oder dem Nutzer kommunizieren darf.

Die beste Art von Plattformen verbinden also die Stärken menschlicher Expertise mit den Vorteilen von Machine Learning und künstlicher Intelligenz und tragen so zur Barrierefreiheit im Netz bei.