Umfrage

Jeder Zweite sieht Grundrechte durch Überwachung verletzt

23.05.2014
Fast ein Jahr ist es her, dass erste Snowden-Enthüllungen den NSA-Skandal ins Rollen gebracht haben. Ein aktuelle Umfrage zeigt: Die Empörung der Menschen in Deutschland ist nach wie vor groß, ihr Verhalten haben aber nur wenige geändert.

Knapp ein Jahr nach Ausbruch des NSA-Skandals glaubt knapp jeder Zweite in Deutschland, dass die Überwachung zu weit gegangen ist. In einer dimap-Umfrage befanden 48 Prozent (PDF-Link), das Vorgehen der Geheimdienste verletze das Recht auf Privatsphäre und damit die Grundrechte. Zugleich betrachten 22 Prozent solche Maßnahmen als gerechtfertigt, "solange es der Sicherheit aller dient". Und 18 Prozent erklärten, die Überwachung habe keinen Einfluss auf ihr Leben und interessiere sie daher nicht.

Edward Snowden erreichte unterdessen mit seinen Enthüllungen große Bekanntheit in Deutschland: In der Umfrage konnten 80 Prozent der Menschen im Alter ab 16 Jahren den Informanten hinter dem NSA-Skandal als ehemaligen Geheimdienstler einordnen. Das Meinungsforschungsinstitut dimap befragte für die am Freitag veröffentlichte Studie im Auftrag des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI) von Ende April bis Anfang Mai 1007 Personen.

Mehr als jeder Zweite - 56 Prozent - geht davon aus, dass jeder von Geheimdiensten abgehört wird. Mit einem Anteil von 60 Prozent fanden besonders viele 16- bis 24-Jährige die Grundrechte durch die Überwachung verletzt. In der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen waren es hingegen nur 41 Prozent - ebenso wie bei den Befragten im Alter über 65 Jahren.

Nur knapp jeder Vierte gab an, dass er sein Telefonier- und Internet-Verhalten nach den Snowden-Enthüllungen geändert habe. Zugleich behaupteten 30 Prozent, sie seien schon immer sehr vorsichtig gewesen. Und 44 Prozent erklärten, es interessiere sie nicht, dass ihre Telefongespräche und E-Mails überwacht würden. Sie hätten nichts zu verbergen.

Die Lehren aus der NSA-Affäre -
Viktor Mayer-Schönberger, Professor für Internet Governance and Regulation
"Es geht nicht mehr um das Ausspähen der Gegenwart, sondern um einen Einblick in die Zukunft. Das ist der Kern von Prism. Präsident Obama hat schon recht, wenn er sagt, die von Prism gesammelten Daten seien doch für sich genommen recht harmlos. Er verschweigt freilich, dass sich daraus statistische Vorhersagen gewinnen lassen, die viel tiefere, sensiblere Einblicke gewähren. Wenn uns nun der Staat verdächtigt, nicht für das was wir getan haben, sondern für das was wir – durch Big Data vorhersagt – in der Zukunft tun werden, dann drohen wir einen Grundwert zu verlieren, der weit über die informationelle Selbstbestimmung hinausgeht."
Prof. Dr. Gunter Dueck, Autor und ehemaliger CTO bei IBM
"Ich glaube, die NSA-Unsicherheitsproblematik ist so ungeheuer übergroß, dass wir uns dann lieber doch gar keine Gedanken darum machen wollen, so wie auch nicht um unser ewiges Leben. Das Problem ist übermächtig. Wir sind so klein. Wir haben Angst, uns damit zu befassen, weil genau das zu einer irrsinnig großen Angst führen müsste. Wir haben, um es mit meinem Wort zu sagen, Überangst."
Oliver Peters, Analyst, Experton Group AG
"Lange Zeit sah es so aus, als würden sich die CEOs der großen Diensteanbieter im Internet leise knurrend in ihr Schicksal fügen und den Kampf gegen die Maulkörbe der NSA nur vor Geheimgerichten ausfechten. [...] Insbesondere in Branchen, die große Mengen sensibler Daten von Kunden verwalten, wäre ein Bekanntwerden der Nutzung eines amerikanischen Dienstanbieters der Reputation abträglich. [...] Für die deutschen IT-Dienstleister ist dies eine Chance, mit dem Standort Deutschland sowie hohen Sicherheits- und Datenschutzstandards zu werben."
Dr. Wieland Alge, General Manager, Barracuda Networks
"Die Forderung nach einem deutschen Google oder der öffentlich finanzierten einheimischen Cloud hieße den Bock zum Gärtner zu machen. Denn die meisten Organisationen und Personen müssen sich vor der NSA kaum fürchten. Es sind die Behörden und datengierigen Institutionen in unserer allernächsten Umgebung, die mit unseren Daten mehr anfangen könnten. Die Wahrheit ist: es gibt nur eine Organisation, der wir ganz vertrauen können. Nur eine, deren Interesse es ist, Privatsphäre und Integrität unserer eigenen und der uns anvertrauten Daten zu schützen - nämlich die eigene Organisation. Es liegt an uns, geeignete Schritte zu ergreifen, um uns selber zu schützen. Das ist nicht kompliziert, aber es erfordert einen klaren Willen und Sorgfalt."
James Staten, Analyst, Forrester Research
"Wir denken, dass die US-Cloud-Provider durch die NSA-Enthüllungen bis 2016 rund 180 Milliarden Dollar weniger verdienen werden. [...] Es ist naiv und gefährlich, zu glauben, dass die NSA-Aktionen einzigartig sind. Fast jede entwickelte Nation auf dem Planeten betreibt einen ähnlichen Aufklärungsdienst [...] So gibt es beispielsweise in Deutschland die G 10-Kommission, die ohne richterliche Weisung Telekommunikationsdaten überwachen darf."
Benedikt Heintel, IT Security Consultant, Altran
"Der Skandal um die Spähprogramme hat die Akzeptanz der ausgelagerten Datenverarbeitung insbesondere in den USA aber auch in Deutschland gebremst und für mehr Skepsis gesorgt. Bislang gibt es noch keinen Hinweis darauf, dass bundesdeutsche Geheimdienste deutsche IT-Dienstleister ausspäht, jedoch kann ich nicht ausschließen, dass ausländische Geheimdienste deutsche Firmen anzapfen."
Viktor Mayer-Schönberger, Professor für Internet Governance and Regulation
"Die NSA profitiert von ihren Datenanalysen, für die sie nun am Pranger steht, deutlich weniger als andere US-Sicherheitsbehörden, über die zurzeit niemand redet. Das sind vor allem die Bundespolizei FBI und die Drogenfahnder von der DEA. [...] Es gibt in der NSA eine starke Fraktion, die erkennt, dass der Kurs der aggressiven Datenspionage mittelfristig die USA als informationstechnologische Macht schwächt. Insbesondere auch die NSA selbst."
Aladin Antic, CIO, KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplationen e.V.
"Eine der Lehren muss sein, dass es Datensicherheit nicht mal nebenbei gibt. Ein mehrstufiges Konzept und die Einrichtung zuständiger Stellen bzw. einer entsprechenden Organisation sind unabdingbar. [...] Generell werden im Bereich der schützenswerten Daten in Zukunft vermehrt andere Gesichtspunkte als heute eine Rolle spielen. Insbesondere die Zugriffssicherheit und risikoadjustierte Speicherkonzepte werden über den Erfolg von Anbietern von IT- Dienstleistern entscheiden. Dies gilt auch für die eingesetzte Software z.B. für die Verschlüsselung. Hier besteht für nationale Anbieter eine echte Chance."
ein nicht genannter IT-Verantwortliche einer großen deutschen Online-Versicherung
"Bei uns muss keiner mehr seine Cloud-Konzepte aus der Schublade holen, um sie dem Vorstand vorzulegen. Er kann sie direkt im Papierkorb entsorgen."

"Es ist hoch spannend, dass den Menschen in Deutschland schon bewusst ist, dass Überwachung jeden treffen kann, sie es aber persönlich nicht so wichtig nehmen und der eigenen Bequemlichkeit in Abwägung den Vorzug geben", kommentierte DIVSI-Direktor Matthias Kammer die Ergebnisse. Dies zeige, dass die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft noch viel zu tun hätten, um die Menschen für einen vorsichtigen Umgang mit den eigenen Daten zu sensibilisieren.

Für ein starkes gemeinsames Auftreten der europäischen Länder gegenüber den USA sprachen sich 52 Prozent der Befragten aus. "Die Menschen haben ein sehr gutes Gespür dafür, dass der Schutz der Privatsphäre längst kein nationales, sondern ein internationales Anliegen ist", sagte Kammer.

Der NSA-Skandal war Anfang Juni 2013 mit ersten Veröffentlichungen von geheimen Dokumenten, die Snowden bei der NSA heruntergeladen hatte, ins Rollen gekommen. Relativ schnell wurde ein zuvor unvorstellbares Ausmaß der Überwachung aller möglichen Kommunikation bekannt. (dpa/tc)