CIO Jan Brecht

KI ist bei Mercedes-Benz der Booster der Digitalisierung

24.08.2023 von Jürgen  Hill
Kaum eine Industrie, die dank KI nicht vor riesigen Transformationsprozessen steht. Mit Jan Brecht, CIO der Mercedes-Benz Group AG, diskutierte Jürgen Hill über die Auswirkungen der KI auf die IT-Strategie des Autobauers und die Jobs der Mitarbeiter.
Jan Brecht, CIO der Mercedes-Benz Group AG, erklärt im CIO-Interview die KI-Strategie des Stuttgarter Autobauers.
Foto: Mercedes-Benz

Mercedes-Benz setzt schon länger auf Machine Learning und klassische KI. Doch jetzt kommt bei Ihnen auch Generative AI zum Einsatz, etwa in der MO360-Produktionsumgebung. Worum geht es da genau und inwieweit verändern sich damit die Job-Profile der Mitarbeiter?

Jan Brecht: Mit der Digitalisierung und dem zunehmenden Einsatz leistungsfähiger KI-Systeme verändern sich bei Mercedes-Benz Jobprofile - in der Produktion und in der Verwaltung. KI soll den Arbeitsalltag der Beschäftigten verbessern und erleichtern. Durch neue digitale Tools werden zum Beispiel Produktionsmitarbeitende weiter befähigt, Prozesse und auch das Qualitätsmanagement nachhaltig zu optimieren.

Ihr Unternehmen hat die Qualifizierungsinitiative Turn2Learn gestartet. Welche KI- beziehungsweise Digitalisierungs-Skills werden den Mitarbeitern dabei gelehrt?

Jan Brecht: Turn2Learn, eine Initiative unseres HR-Bereichs, legt einen gezielten Schwerpunkt auf Digitalisierung und KI. Das Angebot reicht von KI und maschinellem Lernen für Einsteiger über den Lernpfad "Prompt Engineering" bis hin zu Trainingsangeboten zu Programmiersprachen wie Python, Deep Learning/neuronale Netze, Reinforcement Learning, robotergesteuerte Prozessautomatisierung und Natural Language Processing.

Insgesamt haben die Beschäftigten Zugriff auf mehr als 40.000 Kurse zu Daten- und KI-Qualifizierungen auf verschiedenen externen Lernplattformen. Außerdem haben wir in der IT die Initiative "Best Team" gestartet, weil unser größtes Kapital die Menschen sind. Deshalb ist es für uns von großer Bdeutung, die besten Mitarbeiter zu gewinnen, zu halten und ihnen zu ermöglichen, ihr individuelles Potenzial voll auszuschöpfen.

KI-Qualifizierung der Mitarbeiter

Qualifiziert Mercedes nur die in der Produktion beschäftigten Mitarbeiter oder auch Office-Worker?

Jan Brecht: Wir investieren in allen Bereichen des Unternehmens in die Entwicklung digitaler Kompetenzen. Egal ob Kolleginnen und Kollegen aus der Produktion oder der Verwaltung, alle benötigen entsprechendes Wissen und neue Fertigkeiten, um KI-Anwendungen effektiv im eigenen Arbeitsalltag einzusetzen. In zwei Pilotprogrammen bilden wir derzeit bereits mehr als 600 Beschäftigte aus allen Bereichen des Konzerns gezielt zu Daten- und KI-Fachkräften weiter.

Die Qualifizierungsinitiative Turn2Learn legt einen gezielten Schwerpunkt auf Digitalisierung und KI.
Foto: Mercedes-Benz

Momentan wird viel darüber diskutiert, ob Generative AI zu Stellenstreichungen führen wird. Was erwarten Sie?

Jan Brecht: Welche Auswirkungen die zunehmende Digitalisierung und besonders generative KI auf das zukünftige Arbeitsleben haben werden, können wir heute natürlich noch nicht mit Sicherheit sagen. Was aber klar ist: die Arbeitsweisen werden sich ebenso verändern wie die Jobprofile selbst. Deshalb ist Qualifizierung der Schlüssel für die erfolgreiche Transformation.

Wie ändert sich im Zuge des digitalen Transformationsprozesses und im Rahmen der KI-Einführung die Arbeit der Mitarbeiter?

Jan Brecht: Einige Tätigkeiten werden in Zukunft sicher immer stärker an KI-Anwendungen übertragen werden können, zum Beispiel repetitive Handlungen oder Tätigkeiten, die mit Mustererkennung zusammenhängen, aber das ist etwas Positives. Denn das bedeutet, dass Freiräume für strategisches oder kreatives Arbeiten geöffnet werden. So, wie die Automatisierung und die Einführung von Produktionsrobotern die Art, wie Autos produziert werden, verändert hat, wird auch KI einige Veränderungen bringen. Aber letztendlich gilt dies für jedes neue Werkzeug, was seit der Erfindung des Automobils Einzug in das Unternehmen gehalten hat.

Produktive KI-Nutzung

Wenn wir über die Qualifizierung der Mitarbeiter reden, stellt sich natürlich die Frage, wie weit Mercedes-Benz bei der Nutzung von generativer KI bereits fortgeschritten ist?

Jan Brecht: In der Tat sind wir an einigen Stellen wirklich produktiv mit generativer KI unterwegs und sprechen nicht nur von Piloten. Seit Mai setzen wir etwa GitHub Copilot in der Softwareentwicklung ein. Dort verzeichnen wir einen signifikanten Effizienzgewinn.

Zudem nutzen wir generative KI im Kundenumfeld. In Großbritannien ging etwa ein intelligenter Virtual Assistant live, mit dem der Kunde auf der Webseite interagieren kann. Er ist in der Lage, konkrete Antworten auf Fragen zu Betriebsanleitungen und Fahrzeuginformationen zu geben.

In Großbritannien nutzt Mercedes-Benz bereits generative KI im Kundendialog mit einem Virtual Assistant.
Foto: Mercedes-Benz

Und lassen Sie mich nur noch ein drittes Beispiel nennen, auch wenn es noch viel mehr Anwendungen gibt. In unserem digitalen Ökosystem der Produktion MO360 hilft uns eine generative KI bei der Analyse und Aufbereitung der Daten. Mit Hilfe eines Large Language Modells (LLMs) liegen die Daten beziehungsweise Datenmuster so vor, dass sie nicht mehr nur von Spezialisten mit Hilfe hochspezialisierter Database-Queries abgefragt werden können, sondern jetzt auch Produktionsmitarbeitende per natürlicher Sprache. Momentan testen wir das anhand von ChatGPT über Microsoft. Letztlich beschleunigt KI eine "Demokratisierung der Datennutzung".

Man kann sich KI wie einen Booster bei einer Rakete vorstellen, der noch einmal ordentlich Schub gibt.

KI als Booster

Wo liegt für Sie der Unterschied zwischen KI und klassischen Machine-Learning-Systemen, über die wir viel im Zusammenhang mit Industrie 4.0 diskutiert haben?

Jan Brecht: Für mich gibt es drei große Schritte, die bei dieser Entwicklung zu berücksichtigen sind.

Demokratisierung der Daten: Per ChatGPT können Mitarbeiter künftig die Daten abrufen.
Foto: Mercedes-Benz

Wenn Sie das ganze strategisch bewerten: Ist KI einfach nur eine weitere Technik, die mehr Effizienz verspricht? Oder reden wir hier wirklich von einem Game Changer?

Jan Brecht: Generell gilt, wenn der quantitative Fortschritt groß genug ist, dann wird er auch zu einem qualitativen Fortschritt, also zu einem Game Changer. Und das sehe ich auch beim Thema KI, wo sich die Entwicklungen gerade signifikant beschleunigen. Es ist nicht so, dass generative KI irgendetwas grundlegend anders macht. Das eigentlich Neue ist, dass sich Vieles sehr viel schneller und effizienter erledigen lässt. In Summe wird das tatsächlich die Spielregeln ändern und Game Changing sein.

KI als Game Changer

Sie erwähnten vorhin als Beispiel für den KI-Einsatz den Dialog mit den Endkunden, den Mercedes-Benz gerade in UK vorantreibt. In welchen Bereichen sehen Sie das größte Potenzial für KI - in der Produktion, im Marketing, im Verkauf oder in anderen Bereichen?

Jan Brecht: Wir haben uns mit dieser Frage sehr intensiv auseinandergesetzt und sowohl externe Studien analysiert als auch KI intern ausprobiert. Als Antwort auf Ihre Frage will ich drei Bereiche nennen. Zum einen ist es die bereits angesprochene Softwareentwicklung. Dort sehen wir sehr deutliche Effizienzsteigerungen, sei es auf der Engineering-Seite, also in der Fahrzeugentwicklung, oder auf der Enterprise-Seite.

In den USA hilft ChatGPT bereits bei der Fahrzeugbedienung.
Foto: Mercedes-Benz AG

Der zweite Bereich ist für mich der Dialog mit dem Kunden. Auf absehbare Zeit wird die direkte Interaktion der KI mit dem Kunden, wie sie gerade in UK ausprobiert wird, wohl noch die Ausnahme bleiben. Ich bin aber überzeugt, dass KI-Anwendungen helfen werden, das Kundenerlebnis weiter zu verbessern und Prozesse effizienter zu gestalten.

Ein weiterer Bereich, in den aber sicher noch viel Gehirnschmalz investiert werden muss, ist das parametrische Design im Engineering. Dort wird KI zu großen Produktivitätssteigerungen führen, weil sie den Menschen bei der Arbeit unterstützt.

Kommen wir noch einmal auf die Produktion zurück. Dort nutzen Sie, wie gesagt, ChatGPT in der MO360-Produktionsumgebung, und zwar im Zusammenspiel mit einem Analyse-Tool. Der Pilot läuft schon eine Weile, wie sind Ihre ersten Erfahrungen?

Jan Brecht: Das ist das Beispiel, das ich meinte, als ich vorhin davon sprach, Datenbanken mit natürlich-sprachigen Befehlen abzufragen. Die ersten Zwischenergebnisse sind sehr vielversprechend. Zumal wir sehen, dass es nicht nur von den IT-Experten angenommen wird, sondern auch von den Meistern auf dem Shopfloor.

Vielversprechende KI-Erfahrungen

In dem Use Case sehe ich auch viel Potenzial für andere Bereiche. Sie haben sicherlich die Entwicklung mitverfolgt: Früher waren Analytics, Datenaufbereitung etc. zu hundert Prozent ein Expertengeschäft. Dann kam die Low-Code-Ära, in der sich die Beschäftigten selbst ein Dashboard zusammenklicken konnten. Und jetzt geht es mit generative AI tatsächlich noch einen Schritt weiter.

Für Data Worker offeriert das unternehmen vier spezielle Lernpfade: Data Product Owner, Data Engineer, Data Analyst und Data Scientist.
Foto: Mercedes-Benz

Man kann Datenstrukturen über die Tastatureingabe genauso wie über gesprochene Sprache sehr einfach abrufen und nutzen. Da geht die Reise hin. Die Datenqualität wird damit noch einmal wichtiger, aber das gilt ja sowieso überall.

Sie erwähnten die Eingabemöglichkeit per Sprache oder Tastatur. Müssen die Mitarbeiter für das Prompting geschult werden oder laufen die Anfragen an die KI über User Interfaces mit vorgegebenen Eingabemöglichkeiten?

Jan Brecht: Am Anfang gibt es zum Beispiel für die relativ klar definierten Use Cases in der Produktion eine Initialschulung. Zudem stehen unseren Mitarbeitenden diverse Weiterbildungsmöglichkeiten zum Thema zur Verfügung, unter anderem ein Lernpfad zu Prompt Engineering. Sie erfassen den Umgang mit diesen Tools aber auch spielerisch, probieren Sachen aus und sehen, was geht und was nicht.

Schulungen für Prompt Engineering

Generell glaube ich aber, dass Prompting - oder etwas vornehmer formuliert: Prompt Engineering - etwas ist, das man lernen muss. Ich habe mir eine solche Schulung einmal angeschaut. Obwohl ich mich schon ganz fit fühlte in den Themen, habe ich noch viel dazu gelernt.

In der Tat überlegen wir, ob wir Schulungen zum Prompt Engineering flächiger im Unternehmen anbieten sollten und nicht nur für ausgewählte IT- und Datenfachkräfte. Es hilft auf jeden Fall dabei, mehr aus der generativen KI herauszubekommen.

Auf welche Kinderkrankheiten von KI oder ChatGPT sind Sie bislang gestoßen? Uns ist teilweise aufgefallen, dass die KI mitunter falsche Angaben macht, wenn sie einen Text generieren soll.

Jan Brecht: Sie spielen auf die berühmten Halluzinationen an. Das ist sicherlich eine Herausforderung. Das war auch ein sehr feiner Balanceakt in der direkten Kundeninteraktion in UK. Sie können das Halluzinieren natürlich durch Plausibilitätsprüfungen und damit verbundene Restriktionen weitestgehend ausschließen.

Aber legen Sie die Kriterien zu eng fest, wird Ihnen die Maschine häufiger, als ihnen lieb ist, mitteilen: "Ich kann dazu nichts sagen." Da muss man sehr vorsichtig sein und die richtige Balance finden. Das ist vielleicht die wichtigste Frage, die derzeit zu lösen ist und die auch im Zentrum der KI-Forschung steht, wie kann man die Halluzinationen in den Griff bekommen.

Daten werden bei Mercedes-Benz auch beim Qualitätsmanagement in der Produktion immer wichtiger.
Foto: Mercedes-Benz

Herausforderungen Datenqualität

Haben Sie noch weitere Probleme entdeckt?

Jan Brecht: Es gibt in der Tat weitere Herausforderungen. Datenqualität ist eine, die jetzt wieder zum Vorschein tritt. Wobei ich lieber von einem ausgewachsenen altbekannten Problem sprechen würde. Ich habe es schon erwähnt, KI funktioniert nur, wenn die Modelle mit Daten in einer hohen Qualität gefüttert werden. Haben Sie Bereiche, in denen die Daten nicht ganz so aufgeräumt sind, treten die Qualitätsmängel besonders deutlich zutage, wenn diese Daten als Trainingsdaten für die KI verwendet werden.

Wo Sie gerade von Trainingsdatensprechen: Mercedes-Benz wird seine KI-Tools sicherlich nur auf eigenen Daten trainieren, oder?

Jan Brecht: Richtig. Wenn wir den Kunden unsere Fahrzeuge beispielsweise visuell erklären wollen, dann lässt sich das nur mit eigenen Trainingsdaten machen. Im Übrigen findet das Training ausschließlich in gesicherten Bereichen dieser KI-Umgebungen statt, so dass die Daten nicht an die Öffentlichkeit gelangen können. Sicherlich gibt es auch einiges an öffentlichen Daten, die wir für KI nutzen können. Aber gerade im Produktionsumfeld setzen wir auf unsere eigenen Daten.

Sie setzen im Produktionsumfeld auf die Azure OpenAI Services. Welche Rolle spielen andere KI-Lösungen für Mercedes-Benz - ich denke da etwa an Ihre Partnerschaft mit Nvidia?

Jan Brecht: OpenAI wird in den Medien derzeit so ein bisschen als KI-Speerspitze dargestellt. Und sie haben in der Tat auch eine sehr gute technische Lösung, aber wir werden uns darauf nicht beschränken. Ich denke da etwa an das Industrial Metaverse, aber das ist ein anderes Thema.

Open-Source-Alternativen suchen

Natürlich haben auch andere Unternehmen interessante Lösungen. Wir fangen auch an, uns sehr intensiv mit Open-Source-Alternativen auseinanderzusetzen. Neben den großen proprietären Anbieter wie OpenAI/Microsoft oder Google müssen wir auch die Open-Source-Alternativen verstehen.

Des Weiteren glaube ich, dass wir KI nicht als eine Engine verstehen sollten, die irgendwo danebensteht. KI muss in unsere Systeme und Prozesse tief eingewoben werden. Deshalb fordern wir von allen unseren Systempartnern - auch den klassischen - dass sie KI-Elemente in ihren Umgebungen nutzen. KI muss in der gesamten Systemlandschaft Einzug halten und das wird sie auch.

CIO Brecht setzt sich auch mit Open-Source-Alternativen für KI auseinander.
Foto: Mercedes-Benz

Wie weit sind Ihre Erfahrungen mit Open-Source-Alternativen gediehen? Können Sie anderen CIOs schon eine Empfehlung geben?

Jan Brecht: So weit sind wir noch nicht. Nach unseren bisherigen Erkenntnissen sind die Open-Source-Lösungen auch spezifischer, weshalb sich die Frage nicht generell beantworten lässt.

Für verschiedene Fachdomänen werden wohl unterschiedliche Open-Source-Lösungen gebraucht. Das macht aber auch Sinn, denn spezifische KI-Ansätze brauchen nicht diese gigantischen Rechenleistungen, die generelle KI-Lösungen benötigen. Unterm Strich heißt das auch, dass man weniger Energie benötigt, um die Modelle am Leben zu halten.

Ihre Strategie ist es also, erst einmal die großen Foundation-Modelle zu nutzen, um Erfahrungen zu sammeln. Aber langfristig planen Sie eher mit domänenspezifischen KI-Modellen, da diese weniger Ressourcen benötigen?

Jan Brecht: Ja, das ist eine Option. Wir wollen auf jeden Fall so vorbereitet sein, dass wir auch dem von Ihnen skizzierten Szenario folgen können. Mittelfristig wird sich zeigen, welches Modell mächtiger ist - sei es unter technischen, aber auch kommerziellen Aspekten. Wichtig ist es Auswahl zu haben und auch die Risiken und rechtlichen Entwicklungen im Blick zu behalten.