Es ist Zeit zu handeln

KI revolutioniert die Weltwirtschaft

12.08.2019 von Carsten  Kraus
Der Reifegrad der künstlichen Intelligenz (KI) ist bereits hoch, die Entwicklung verläuft rasant. KI kann helfen Wirtschaft und Gesellschaft einen großen Schritt voranzubringen. Wir sollten nicht zögern und die Chancen entschlossen wahrnehmen.
  • KI wird einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, globale Probleme wie den Klimawandel in den Griff zu bekommen
  • Die Entwicklung vollzieht sich viel schneller als in den meisten Vorhersagen prognostiziert
  • Die Eintrittsbarrieren sind gar nicht so hoch, Softwarelösungen und Tools liegen in Massen vor

Was haben Klimawandel und künstliche Intelligenz (KI) gemeinsam? Beide Themen beschäftigen momentan intensiv die Medien. Und wenn jetzt nicht gehandelt wird, sehen wir uns alle vor massive Probleme gestellt. Dabei ist – auch wenn die Berichterstattung aktuell andere Schwerpunkte setzt – KI das wichtigste Thema. Ja, richtig gelesen: Ich halte KI für noch wichtiger als den Klimawandel. Warum? Weil uns künstliche Intelligenz helfen kann, den Klimawandel in den Griff zu bekommen. Aber der Reihe nach.

"Raketen-Mann" Franky Zapata hat mit seinem selbstgebauten Flyboard den Ärmelkanal überquert.
Foto: Frederic Legrand - COMEO - shutterstock.com

KI ist eine Querschnittstechnologie - laut Wikipedia „eine Technologie, welche die Basis für andere Technologien oder eine wichtige Komponente für mehrere Technologien bildet und somit für mehrere Anwendungsgebiete beziehungsweise Wirtschaftszweige relevant ist.“ Ähnlich wie der Verbrennungsmotor, die Elektrotechnik oder das Internet verändern Querschnittstechnologien die Welt in vielen Bereichen. Die KI wahrscheinlich in allen.

Die Zukunft hat begonnen

Nun liegt bei dieser Querschnittstechnologie eine außergewöhnliche Situation vor. Während Science-Fiction -Szenarien ihrer Zeit immer deutlich voraus sind und die Realisierung – wenn überhaupt - deutlich später kommt als vorhergesagt, ist KI schon da. In dem Film „Zurück in die Zukunft 2“ wurde ein fliegendes Skateboard („Hoverboard“) auf 2015 datiert – aber erst jetzt, im August 2019, sehen wir einen Prototypen, mit dem der Franzose Franky Zapata erfolgreich den Ärmelkanal überquerte. Auch Wissenschaftler sind vor Irrtümern nicht gefeit: Der europäische Fusionsreaktor ITER sollte ursprünglich 2016 in Betrieb gehen, derzeit geht man von 2035 aus.

Auch im KI-Bereich gab es mehrere Wellen, die in der Vergangenheit stets spätere Resultate brachten als vorher geschätzt. In den letzten Jahre hat sich das geändert. Noch im Februar 2016 prognostizierte Trendforscher Sven Gabor Janszky: „Beim Kaiserspiel Go brauchen Computer noch 10 Jahre, um Weltmeister zu werden.“ Schon im März 2016 gewann AlphaGo dann gegen Lee Sedol.

Dabei wird die KI nicht einfach in der gleichen Anwendung schneller und besser. Vielmehr ergeben sich ganz neue Anwendungsbereiche. Die Spracherkennung durch Maschinen gelang viele Jahre mehr schlecht als recht. Das Gleiche galt für die Bilderkennung. Durch einen grundlegend anderen Aufbau neuronaler Netze, sogenannte Convolutional Neural Networks (CNNs), gehört diese Barriere der Vergangenheit an. Go wurde durch Reinforcement Learning gewonnen, ebenfalls eine neue Art von KI. Durch Generative Adversarial Networks (GANs) wird künstliche Kreativität ermöglicht. Jedes Jahr, jeden Monat, fast jeden Tag ergeben sich neue Durchbrüche.

Was KI bereits heute leisten kann

Forschung ist das eine – Anwendung das andere. Welche Vorteile können Unternehmen heute schon durch KI erzielen? Im Grunde kann KI drei Dinge: vorhersagen, entscheiden und lernen. Ohne den vollständigen Kontext eines Problems zu kennen, kann sie basierend auf Lerndaten Annahmen über eine mögliche Lösung treffen, diese mit der Realität abgleichen und aus dem daraus folgenden Resultat lernen. Dieses Vorgehen wiederholt sie immer und immer wieder, bis eine geeignete Lösung gefunden wurde.

Da sich KI den Lösungsweg selbst erarbeiten, entfaltet sie in solchen Anwendungsbereichen ihren größten Nutzen, wo der Lösungsweg nicht exakt greifbar oder erklärbar ist. Im Folgenden ein paar Beispiele:

Predictive Maintenance

Hinter Predictive Maintenance – der vorausschauenden Wartung – steht das Ziel, Maschinen und Anlagen nicht mehr in regelmäßigen Abständen zu warten, sondern nur dann, wenn ein wirkliches Risiko besteht, dass sie kaputtgeht. So lassen sich unnötige Wartungsintervalle einsparen, Laufzeiten verlängern und damit Produktivitätspotenziale voll ausschöpfen.

Ein erfahrener Werksleiter weiß: „Die Maschine hört sich komisch an, irgendwas stimmt nicht – haltet sie mal an und schaut nach!“ Aber wie erklärt man das einer Software? Über Sensoreinheiten können mögliche Frühwarnsignale gemessen werden, das reicht von minimalen Temperaturerhöhungen über eine erhöhte Vibration bis hin zu einer größeren Lautstärke und vielem mehr.

Unklar ist dabei, welche Kriterien wirklich relevant sind. Wie müssen sie gewichtet und miteinander in Zusammenhang gestellt werden? Genau das kann eine KI herausfinden, sofern ihr genügend Testdaten mit Beispielen zur Verfügung stehen, und zwar einerseits solche, in denen tatsächlich ein Teil ausgetauscht werden musste, und solche, in denen die Maschine nicht defekt war.

So kann die KI zum Beispiel erkennen, dass nicht allgemeine Lautstärkeveränderungen gefährlich sind, sondern nur der Anstieg eines bestimmten Geräuschs. Oder dass Lautstärkeschwankungen irrelevant sind, solange die Vibration nicht erhöht ist.

Qualitätssicherung

In den letzten Jahren gab es große Fortschritte in Sachen Bilderkennung. Das macht sich heute die automatische Qualitätssicherung zunutze. Manche Fehler lassen sich leicht erkennen und erklären, aber wie sieht es mit fließenden Veränderungen aus? Beispiel Zahnlegierungen: Hierbei handelt es sich um Produkte, deren Oberfläche immer kleinere Mängel aufweist – auch bei Werkstücken, die zur Weiterverarbeitung geeignet sind. Der Übergang zwischen brauchbaren und unbrauchbaren Zahnlegierungen ist fließend, es gibt keine glasklaren Kriterien.

Trotzdem will man den Qualitätsanspruch der Kunden erfüllen, bisher wurden daher Stücke mit größeren Fehlern von Hand aussortiert. Indem man eine KI mit zahlreichen Bildern von korrekten und defekten Werkstücken füttert, lernt sie durch Mustererkennung zwischen brauchbaren und unbrauchbaren Werkstücken zu unterscheiden. Welche Muster dabei genau erkannt werden, ist für den Menschen so gut wie nicht nachvollziehbar. Jedoch trifft die Beurteilung der KI bei genügend Lerndaten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ins Schwarze, so dass sich defekte Produkte schneller und präziser aussortieren lassen.

Einkauf und Vertrieb

In den Ein- und Verkaufsabteilungen von Unternehmen können KI-Verfahren bereits heute ein breites Anwendungsspektrum finden. Das gilt etwa für Lagervorhersagen, die sich mit Hilfe von KI besser treffen lassen als mit herkömmlichen Verfahren. Im Hinblick auf den Vertrieb ist darüber hinaus Adaptive Pricing realisierbar – eine Maßnahme, die insbesondere für B2B-Unternehmen relevant ist, um präzisere Preise für individuelle Kunden zu ermitteln: Wenn bereits viele Interaktionen mit dem Kunden vorliegen, kann eine KI beispielsweise berechnen, wie preisflexibel er ist oder ob es andere Dinge gibt, die ihm wichtiger sind. Ein Ergebnis könnte sein, dass ihm höhere Gewährleistungen zu einem gewissen Grad wichtiger sind als ein niedriger Preis. Adaptive Pricing kann enorm dabei unterstützen, den Kunden einfacher zu gewinnen oder die Marge zu erhöhen.

KI-Anwendungen, die vor dem Durchbruch stehen

Predictive Basket

Besonders in Branchen, in denen es üblich ist, immer wieder die gleichen Produkte zu bestellen, wird KI den Einkaufsvorgang transformieren: Der Predictive Basket eine KI-Technologie von Omikronsagt dem Kunden voraus, was er in seiner aktuellen Session kaufen will. Die KI schlägt Produkte auf Basis des historischen Kundenverhaltens aber auch aufgrund des Einkaufsverhaltens anderer Kunden vor. Sie lernt den Kaufrhythmus kennen und passt sich immer besser darauf an. Dabei liegt die KI mit ihren Vorschlägen heute schon zu 75 Prozent richtig.

Den meisten Online-Shops trauen dem Braten allerdings noch nicht so recht, sie möchten noch selbst alle Regeln einstellen. Dabei kann die KI viel detailliertere Regeln erstellen, die in ihrem Umfang kein Mensch mehr überschauen kann, die aber viel bessere Ergebnisse liefern würden. Bei einem österreichischen Lebensmittel-Großhändler kommt der Predictive Basket bereits heute erfolgreich zum Einsatz.

Montage vor Ort

Die wenigsten Kunden haben Freude daran, ihre erworbenen Möbelstücke zu Hause aufzubauen. Sie empfinden es als lästig und zeitraubend. Inzwischen werden Roboter immer besser darin, mit den individuellen Unwägbarkeiten einer Wohnumgebung umzugehen. Sie könnne sogar auf spontane Veränderungen reagieren.

In Japan und Singapur sind erste Roboter im Einsatz, die selbständig Bretter transportieren und verbauen können, in einer Umgebung, die sie vorher nicht kannten. Legt man ihnen Hindernisse in den Weg, reagieren Sie und finden eine neue Möglichkeit, wie sie ihren Auftrag dennoch erfüllen. Es ist spannend zu beobachten, welche Fortschritte derzeit gelingen. Es wird nur noch wenige Jahre dauern, bis solche Services Marktreife erreichen.

Office-Tätigkeiten

Auf der Google I/O 2018 wurde ein Telefonat zwischen einem Friseursalon und einem Kunden abgespielt. Das Spannende daran: Einer der Gesprächspartner war eine KI, und es war nicht offensichtlich, welche die menschliche und welche die Computerstimme war. Die KI hatte ihre Stimme immer weiter optimiert – nicht nur in Sachen Tonalität, sondern auch durch das Zwischenstreuen von Interjektionen wie „mmh“, „aha“ etc. Durch die Analyse von Beispieltelefonaten hatte die KI gelernt, wann solche Interjektionen in einer Konversation angebracht sind. Es ist also mehr als wahrscheinlich, dass sich zumindest einfache Telefongespräche in naher Zukunft über KIs abwickeln lassen.

KI forscht selbst – bereits heute

Bereits jetzt wid eine Prognose war, die ich auf den Zeitraum 2021 bis 2025 datiert hatte. Sie lautet: KI stellt eigene Thesen in der Sekundärforschung auf. Forscher der University of Berkeley haben einer KI große Mengen wissenschaftlicher Texte („Papers“) über Materialforschung gegeben, jedoch nur solche, die bis 2008 veröffentlicht wurden. Dann wurde die Frage gestellt, welche weiteren Entdeckungen im Bereich thermoelektrischer Materialien zu erwarten sind.

Genau wie menschliche Sekundärforscher versuchte die KI, Verbindungen zwischen den verschiedenen Papers zu entdecken, die zu neuen Erkenntnissen führen. Die KI schlug fünf Materialien vor und lag bei dreien richtig: Sie wurden in den kommenden zehn Jahren, also bis 2018, tatsächlich erfolgreich erforscht.

Ganz ohne den Menschen kommt diese Technologie nicht aus, aber die Geschwindigkeit der Sekundärforschung könnte sich um den Faktor zwei bis zehn beschleunigen. Bis das auf breiter Front Auswirkungen hat, dauert es schätzungsweise nur noch zwei bis fünf Jahre. Diese KI basiert auf Word2Vec, einer Technologie, in deren Umfeld ich selbst forsche. Obwohl ich dem Thema also nahe bin, hatte ich solche Fortschritte nicht so früh erwartet. Auch hier war KI wieder deutlich schneller, als es die Fachwelt für möglich gehalten hatte.

KI und Gesellschaft

KI bedeutet für unsere Gesellschaften eine Riesenchance. Ziele wie der Wandel von der Wegwerf- zu einer Reparaturgesellschaft oder medizinische Fortschritte, die ein längeres unbeschwertes Leben ermöglichen, rücken für uns näher. Und auch den Klimawandel aufzuhalten oder umzukehren ist – davon bin ich überzeugt – mit Hilfe der Wissenschaft erreichbar.

Die Frage ist, ob wir es rechtzeitig schaffen. KI kann die Wissenschaft unterstützen und beschleunigen, so dass sich unsere Chancen deutlich erhöhen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir die Frage des Klimawandels mit Verweis auf KI-Fortschritte aussitzen können. Wir müssen jetzt gesellschaftliche Maßnahmen treffen, denn vielleicht werden wir auch mit KI-Hilfe zu lange brauchen.

Fazit: Wir erleben einen rasanten Wandel...

...und sollten dringend handeln! Die vergangenen Jahre bildeten den Anfang einer Revolution, die sich immer schneller auf alle Bereiche der Wirtschaft ausweiten wird. Wir können zusammenfassen:

Mit anderen Worten: KI ist jetzt! Europa und Deutschland müssen sich in eine gute Position bringen. Wir Europäer müssen investieren, Neuerungen ermöglichen, Freiräume geben, um an der Spitze mitzuwirken und dadurch auch auf ethische Fragen Einfluss nehmen zu können.

Unternehmen haben schon jetzt viele Möglichkeiten, von KI zu profitieren. Dazu müssen Sie keinen KI-Spezialisten einstellen, genauso wenig wie sie einen Elektriker zum Betrieb eines Staubsaugers brauchen. Nutzen Sie die Möglichkeiten, probieren Sie fertige Bausteine aus, lernen Sie – Just do it!