Surfen im Drei-Klassen-Internet

Mautpflicht für bestimmte Internet-Dienste?

14.07.2010 von Jürgen Hill
Die Weichen für die Zukunft des Internets werden derzeit in Brüssel und Washington gestellt. Hinter der Diskussion um die "Netzneutralität" verbirgt sich - verkürzt ausgedrückt - die Frage, ob Mautstellen für das Internet kommen.
Freie Fahrt für Videodaten künftig nur gegen Aufpreis?
Foto: Fotolia, M. Musunoi

HDTV per IP-Netz, 3D-Fernsehen, Live-Streaming, Videokonferenzen, Cloud Computing - das Datenaufkommen im Internet explodiert förmlich. So prognostiziert der aktuelle Cisco- Report Visual Networking Index (VNI) (http://downloads.ciscovnipulse.com/) für 2014 einen weltweiten jährlichen Internet-Traffic von 767 Exabyte (1 Exabyte = 1018 Byte = 1.000.000.000.000.000.000 Byte nach SI-Einheitensystem) und für Deutschland monatliche Transfervolumen von rund 3,6 Exabyte. Das wäre mehr als eine Vervierfachung des Datenverkehrs im Vergleich zu 2009. Auf der anderen Seite wird der Ausbau der glasfaserbasierenden Breitbandnetze alleine in Deutschland zwischen 40 und 60 Milliarden Euro verschlingen. Dass sich dies mit Flatrate-Tarifen für 19,90 Euro nicht rechnen kann, dürfte nachvollziehbar sein.

Bis 2014 soll sich der Datenverkehr im Internet vervierfachen. Das Wachstum kommt vor allem aus dem Consumer-Bereich.
Foto: Cisco

Unter dem Schlagwort "Netzneutralität " streiten sich nun Carrier und Internet-Provider mit Unternehmen wie Google, Amazon und Co. darüber, wer für den steigenden Kapazitätsbedarf zahlen soll. Erstere würden gerne große Verkehrsverursacher, die mit ihren populären Anwendungen viele User anziehen und damit ein hohes Datenvolumen erzeugen, zur Kasse bitten - also eine Art Schwerlastabgabe erheben. Des Weiteren schwebt ihnen eine Mehrklassengesellschaft vor: So wie Zuggäste in der ersten Klasse mehr Komfort genießen, sollen im Internet Datenpakete erster Klasse mit einer höheren Priorität weitertransportiert werden (Quality of Service = QoS) - natürlich gegen Aufpreis. Vorstellbar wäre beispielsweise ein dreistufiges Modell. Für die dritte Klasse müsste kein Aufpreis gezahlt werden, denn die Daten würden wie üblich weitertransportiert. Dabei dürften weiter die bereits heute bekannten Verzögerungen aufkommen, was mit der Historie des Netzes zu tun hat: Das Internet und seine Protokolle sind von den Entwicklern ursprünglich so konstruiert worden, dass sich sogar im Fall eines Nuklearkrieges die Kommunikation aufrechterhalten lässt, egal mit welcher Geschwindigkeit. Themen wie Echtzeitanwendungen oder störungsfreie Videostreams spielten damals noch keine Rolle. Zu den Daten, die wie üblich kostenlos weitertransportiert werden, dürften Anwendungen wie E-Mail oder der normale Abruf von Web-Seiten gehören, denn hier spielt es kaum eine Rolle, wenn es zu Verzögerungen, sprich höheren Latenzzeiten, kommt.

Störungsfrei Surfen nur gegen Aufpreis

Gegen Aufpreis würde dann die zweite Klasse mit besseren Latenzzeiten aufwarten. Sie käme für E-Commerce-Anwendungen in Frage, bei denen zu starke Verzögerungen das Shopping-Erlebnis beeinträchtigen und so die Anwender verärgern würden. Ein anderes Anwendungsszenario könnten Telearbeiter sein, die remote von zu Hause via Internet auf Unternehmensanwendungen zugreifen. Steigen hier die Latenzzeiten zu stark an, ist kaum mehr an ein flüssiges Arbeiten zu denken.

Typische Fälle für die Premium-Klasse wären dagegen Videoanwendungen wie die Fernsehübertragung per IP-Netz oder das Thema Videoconferencing. Da bei der Videoübertragung jede Störung oder Unterbrechung des Datenstroms sofort sichtbar wird, sollte dieser Verkehrsart eine besonders hohe Priorität zukommen. Und dafür müsste der Anwender künftig mehr bezahlen. Gerade das Beispiel Video verdeutlicht, dass preislich gestaffelte Angebote im Internet kein Hirngespinst sind. Bereits heute priorisiert beispielsweise die Telekom im VDSL-Netz den IPTV-Verkehr ihrer T-Home-Entertain-Angebote, um für ein ruckelfreies Filmerlebnis zu sorgen (siehe Kasten "Netzneutralität - ein naiver Wunsch?").

Glossar

In der Diskussion um die Netzneutralität werden je nach Interessenlage verschiedene Begriffe wild miteinander vermengt, um den jeweiligen Gegner in der öffentlichen Diskussion zu diskreditieren. Hierzu zählen etwa die Netzzensur/Sperren sowie das Thema Open Access. Beide werden gerne in die Diskussion eingeflochten.

Netzneutralität im engeren Sinne bedeutet die Priorisierung von bestimmten TCP/IP-Paketen im Netz, um für verschiedene Anwendungen unterschiedliche Qualities of Service zu realisieren. Zum Beispiel erhalten die Datenpakete eines Videostreams Vorfahrt gegenüber einer E-Mail. Ähnlich wie bei der Autobahnmaut (LKW zahlen mehr als PKW) sollen Heavy User höhere Gebühren zahlen. Im günstigsten Fall muss dann der normale Benutzer keine Zusatzgebühren entrichten - ähnlich wie es hierzulande bislang nur eine Autobahnmaut für LKW gibt.

Netzneutralität im weiteren Sinne umfasst auch die Blockierung von gewissen Diensten. Für Schlagzeilen sorgte hier immer wieder die Drosselung oder Blockierung von P2P-Diensten. In Europa haben sich in der Vergangenheit vor allem die Mobilfunkbetreiber bei der Diskriminierung von Internet-Datenpaketen hervorgetan. Mal wurden VoIP-Pakete (Stichwort Skype) geblockt, ein anderes Mal wurden Bilder von Web-Seiten unter dem Deckmäntelchen der Performance-Optimierung in ihrer Auflösung heruntergerechnet, um das Datenvolumen zu reduzieren.

Der Open Access hat mit der Dienstneutralität im Netz wenig zu tun. Hier geht es vielmehr darum, wem die Betreiber der neuen Glasfasernetze Zugriff auf ihre Infrastruktur gewähren müssen. Im Sinne eines Open Access sollten die Stadtwerke, oft Besitzer der neuen Glasfaser-Zugangsnetze - im Gegensatz zur öffentlichen Hand kann sich den Netzausbau mit seinen langen Abschreibungszeiten von 20 bis 30 Jahren kaum ein börsennotiertes TK-Unternehmen leisten -, anderen Providern eine diskriminierungsfreie Nutzung ihrer Infrastruktur ermöglichen. Als Business-Modell in seiner extremen Ausprägung entsteht ein mehrstufiges Modell: Der Besitzer der Infrastruktur engagiert einen physikalischen Betreiber, der die Glasfaser beleuchtet. Der Betreiber wiederum vermietet das beleuchtete Netz an die Service-Provider. Diese offerieren Dienste wie Telefonie, aber auch schlicht Transportkapazität für Content-Anbieter wie Google und Co. Letztere könnten dann eigene IPTV- oder Video-on-Demand-Dienste vermarkten. Gegenstück zum Open Access ist ein Ansatz, bei dem Infrastruktur, Netzbetrieb und Content-Angebot in einer Hand liegen, wie etwa bei den VDSL-basierenden IPTV-Angeboten "Entertain" der Telekom.

Netzzensur steht per se in keinem grundsätzlichen Zusammenhang mit dem Thema Netzneutralität . Die Zensur wird von den Neutralitätsbefürwortern gerne ins Feld geführt, um das Schreckensszenario eines Internets an die Wand zu malen, in dem nur noch der Content zahlungskräftiger Kunden eine Chance auf Verbreitung habe.

Zum Anstieg des Datenvolumens tragen vor allem Videodienste bei, während andere Services wie VoIP eher stagnieren.
Foto: Cisco

Aber zahlt der Konsument nicht bereits deutlich mehr für den 16-Mbit/s-DSL- oder gar VDSL-Anschluss? Die Geschwindigkeit bestimmt letztendlich nur, wie viele Daten innerhalb einer Zeiteinheit durch die Leitungen transportiert werden, unabhängig davon, ob es sich um E-Mails oder Videostreams handelt. Wie kontinuierlich die Daten fließen, ist dagegen keine Frage des gewählten Anschlusses, sondern hängt davon ab, wie die Netzbetreiber bestimmte Verkehrsarten mit Hilfe von Netz-Management-Tools priorisieren.

Dementsprechend sollen die Benutzer von Videoanwendungen künftig nach dem Willen der Carrier mehr für eine bevorzugte Behandlung ihrer Daten im Internet bezahlen. Im Gegenzug würden die Netzbetreiber dann für einen ruckelfreien Videogenuss garantieren.

Drei-Klassen-Gesellschaft im Internet

Für viele Privatkunden mag der Gedanke, neben einer Gebühr für die bestellte Bandbreite zusätzlich auch noch für Serviceklassen zu bezahlen, neu sein. "Der Geschäftskunde ist schon seit langem gewohnt, für verschiedene Serviceklassen unterschiedliche Tarife zu bezahlen", merkt Bernd Schlobohm, Vorstandsvorsitzender bei der Kölner QSC AG, an. So offerieren die im Geschäftsumfeld üblichen MPLS-Netze bis zu sechs Serviceklassen. Wer also auf Echtzeitanwendungen wie SAP-Software angewiesen ist, zahlt dabei mehr als für den simplen Mail-Transport.

Auch für Deutschland geht der Cisco VNI von einem stark wachsenden Übertragungsvolumen für Videoinhalte aus.
Foto: Cisco

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, könnte man die Diskussion um die Netzneutralität als reines Consumer-Thema abhaken. Das wäre allerdings ein Trugschluss. Zum einen sind viele Firmen aus Kostengründen bei der Vernetzung - etwa der Filialanbindung - darauf angewiesen, das öffentliche Internet zu nutzen. Zum anderen kommunizieren Unternehmen nicht nur intern und mit Geschäftspartnern, sondern auch mit Kunden - etwa indem sie im Internet Portale oder elektronische Shops einrichten. Netzneutralität wird schnell zu einem Business-Thema, wenn etwa der Datenverkehr zum Webshop des Konkurrenten verzögerungsfrei transportiert wird, während die eigenen Kunden ob des frustrierenden Shopping-Erlebnisses verzweifeln. Und welches Online-Portal wird wohl die höheren Werbeeinnahmen erzielen - die Plattform, die ihre Streams ohne Störungen ausliefert, oder das Portal, das für Bildruckler in den Streams bekannt ist? Die Netzbetreiber sind natürlich an zahlenden Shop-Betreibern interessiert. Kein Wunder, dass sie versuchen, kommerziell unergiebigen Traffic, wie er etwa von P2P-Filesharing oder Skype verursacht wird, auszubremsen.

Netzneutralität - ein naiver Wunsch?

Auf technischer Ebene, so die These von Günter Knieps, Professor mit dem Forschungsgebiet Netzökonomie am Institut für Verkehrswissenschaft und Regionalpolitik der Universität Freiburg, sei die Netzneutralität nur ein frommer Wunsch. So besitze das Protokoll TCP/IP im breitbandigen Internet von Haus aus ein Diskriminierungspotenzial, wenn zum Beispiel schmalbandige Anwendungen auf breitbandige Videoapplikationen treffen. Solange das Internet alle Datenpakete gleich behandle, sei eine Neutralität der Transportnetze nicht gegeben. Vielmehr würden Anwendungen mit höheren Anforderungen an Zuverlässigkeit und Zeitsensibilität gerade durch die Gleichbehandlung gegenüber E-Mail oder dem Textversand diskriminiert. Er fordert deshalb, dass Netzneutralität keine Gleichbehandlung aller Datenpakete bedeuten dürfe. Die Netzbetreiber müssten die Möglichkeit erhalten, mit Hilfe von Preis- und Qualitätsdifferenzierungen auf die verschiedenen Bedürfnisse der Anwender einzugehen.

Jens Leuchters, Geschäftsführer von Interroute Deutschland, einem Unternehmen, das nicht nur Unternehmens-TK-Services offeriert, sondern auch große Backbone-Verbindungen betreibt, hält die Debatte um die Netzneutralität für eine künstliche Diskussion. Wie andere Branchenvertreter ist er davon überzeugt, dass die Tage der freien, pauschalen Internet-Nutzung gezählt sind. Allerdings fehlen auf politischer Ebene noch die regulatorischen Rahmenbedingungen. Über diese wird aber bereits diskutiert. So arbeiten die USA seit Mai an einer endgültigen Neufassung des Telecommunication Act von 1996. Dabei soll auch die Netzneutralität geregelt werden. Die EU hat am 30.Juni ebenfalls ihre Konsultationsphase zum Thema gestartet. Bis zum 30. September, so Neelie Kroes, als EU-Kommissarin für die digitale Agenda der Gemeinschaft zuständig, sind Service- und Content-Provider, Unternehmen, Verbraucher sowie Forscher aufgefordert, via Internet (http://w.idg.de/cNdPjq) ihre Stellungnahmen in Sachen Netzneutralität abzugeben. Ende 2010 will die EU-Kommission dann ihren Maßnahmenkatalog veröffentlichen, der weitere Beratungen, aber auch geänderte Regulierungsempfehlungen beinhalten könnte.