Vom Connected Car zum Smart Car

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13.04.2015 von Matthias Schorer
Vernetzte Autos sind Realität. Doch welche Bausteine fehlen der Automobil- und IT-Industrie noch zum Smart Car der Zukunft?
Die Kommunikation zwischen Auto, Werkstatt und Anwender beschränkt sich derzeit auf nur wenige Möglichkeiten. Die Automobilindustrie muss technologisch kräftig nachrüsten, um das zu ändern.
Foto: Volvo

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Sie parken ihr Auto abends in der heimischen Garage, legen sich schlafen und am nächsten Morgen hat ihr Auto 20 PS mehr unter der Haube. Ganz ohne Werkstattbesuch einfach per Firmware-Update über das Internet, so ähnlich wie wir es von unseren Smartphones kennen. Was vor wenigen Jahren noch als Science Fiction abgetan worden wäre, wird dank vernetzter Autos bald Realität sein. Denn die Digitalisierung macht vor nichts und niemandem Halt - erst recht nicht vor Automobilherstellern. Doch die Branche muss sich erst noch daran gewöhnen, dass produktorientierte Ansätze heutzutage nicht mehr funktionieren.

Noch wird im Autobau ein Großteil der Funktionalität an bereits vernetzte Geräte wie Smartphones oder Tablets ausgelagert. Der Kunde erwartet aber grundlegende Features selbst dann, wenn das externe Device nicht verfügbar ist. Demnach werden die eingebaute Head Unit und die darauf installierte Software als Schnittstelle zwischen Fahrer und Fahrzeug enorm an Bedeutung gewinnen. Autofahrer sind an die Funktionalitäten ihrer Smartphones gewohnt und erwarten die Verfügbarkeit von Apps und Aktualisierungen über das Mobilfunknetz ebenso in ihrem Fahrzeug.

Das Rückgrat von Connected Cars

In einer vernetzten Welt sind Autos nicht mehr in sich geschlossen, sondern stützen sich auf Dienstleistungen eines OEM Vehicle Backend, das als Schnittstelle des Fahrzeugs in das Internet dient. Das OEM Vehicle Backend erstellt ein virtuelles Image des Fahrzeugs im Cyberspace und muss deshalb höchsten IT- und Datensicherheitsanforderungen genügen. Gleichzeitig muss das Backend flexibel und skalierbar genug sein, um die Verhaltensmuster des Benutzers zu verarbeiten. Um solche Funktionen zu bieten, können Backend-Systeme nicht mehr manuell und maßgeschneidert zusammengesetzt werden, sondern müssen in höchstem Maße integriert und automatisiert zur Verfügung stehen. Denn sie müssen kurze Time-To-Market, 24/7 Verfügbarkeit und möglichst niedrige Ausfallraten gewährleisten. Alle Änderungen an einem solchen Backend-System, sei es Rechenleistung, Netzwerk, Sicherheit oder Storage, müssen auditierfähig geloggt werden.

Die Kombination aus Fahrzeug-Backend, Over-the-Air (OTA) -Steuerung der Head Unit und womöglich sogar vernetzte Motorsteuergeräte (Engine Control Unit: ECU) ermöglicht eine völlig neue Servicequalität. Im Customer Relationship Management beispielsweise werden im After Sales individuelle Kundenanpassungen verkauft. Vehicle Relationship Management liefert Informationen zu Nutzungsmustern an das Produktmanagement und den Vertrieb.

Capgemini über vernetzte Autos (Connected Cars)
Capgemini über vernetzte Autos
Das vernetzte Auto - inwieweit theoretische Möglichkeiten und praktische Umsetzung auseinanderklaffen, haben die Analysten von Capgemini untersucht.
Besuch beim Händler
So schnell dürfte der stationäre Autohandel nicht aussterben. Schließlich wollen die Kunden das Auto "in echt" sehen und eine Probefahrt unternehmen. Das motiviert jedenfalls 72 Prozent beziehungsweise 61 Prozent der Befragten zu einem Besuch beim Händler, wie die Studie "Cars online 2014" zeigt.
Beliebte Services
Offenbar lassen sich Kunden in den aufsteigenden Märkten stärker von den neuen Services begeistern als Konsumenten in den reifen Märkten. Ob es um Sicherheit, Services oder Infotainment geht - überall ist das Interesse der Verbraucher in den aufsteigenden Ländern größer.
Daten teilen
Die Verbraucher wurden gefragt, wem sie Einblick in ihre Daten gewähren würden. Dabei liegen Hersteller und Händler vorn. Der Versicherung dagegen möchten noch nicht einmal vier von zehn Befragten Einblick geben.
Investitionen: Hersteller versus Händler
Ein anderer Aspekt ist die unterschiedliche Vorgehensweise von Herstellern und Händlern. Während 56 Prozent der Hersteller aktuell in ihre IT investieren wollen, sind es nur elf Prozent der Händler. Die Frage bezog sich auf den Einsatz von Smartphones und Tablets sowie Apps (Quelle: Studie "Neue Technologien im Autohaus).
Gründe für Investitionen in Apps
Motivation zum Investieren ist für Hersteller der Blick nach vorne. Sie nennen Zukunftsorientierung als wichtigsten Grund. Händler wollen vor allem die Kundenbindung stärken.
Auswirkungen der Smartphones
Hersteller schreiben Smartphones und Tablets stärkere Auswirkungen auf ihre Aktivitäten zu als Auto-Händler.

Car Management = Mobility Management

Moderne Autos sind mobile Devices auf Rädern, die über Dutzende von ECUs verfügen, welche bis zu 100 Millionen Zeilen an Code verarbeiten, und zusätzlich mit den Vehicle Bussystemen und Gateways verbunden sind. Die Elektronik in heutigen Automobilen ist verantwortlich für einen bedeutenden Anteil an den F&E- und Produktionskosten. Die Head Unit, die ursprünglich als Frontend für das Audiosystem des Fahrzeugs konzipiert wurde, wurde im Laufe der Jahre erweitert, um Dienste wie Navigation, Echtzeit-Verkehrsinformationen, Diagnoseinformationen und Warnmeldungen sowie nutzerzentrierte Daten wie E-Mails, soziale Feeds, Wetterinformationen und vieles mehr.

Die Head Unit fungiert auf diese Weise wie ein mobiles Gerät, auf dem in der Regel ein Echtzeit-Betriebssystem wie QNX läuft, mit all den bekannten Herausforderungen rund um die OTA-Datenerfassung und Softwarebereitstellung. QNX ist ein kommerzielles, Unix-ähnliches Betriebssystem entwickelt für Embedded-Systeme und mobile Geräte. Es bietet ein enorm flexibles und schlankes Betriebssystem für den Einsatz in verschiedenen Branchen und Systemen und ist einer der wichtigsten Hidden Champions in der Automobilindustrie.

Head Unit Management ebnet den Weg für innovative Mehrwertdienste, von denen das gesamte Automobil Ökosystem in Form der OEMs, Händler, Serviceanbieter und Fahrer profitiert. Das Management-Framework besteht aus drei Säulen: Over-the-Air Remote Car Datenerfassung, Over-the-Air Remote Datenbereitstellung und Datensicherheit/Datenschutz.

Over-the-Air Remote Car Datenerfassung

Der Zugriff auf wichtige Fahrzeugdiagnosedaten ist eine zentrale Herausforderung für die Automobilindustrie. In den meisten modernen Autos werden Diagnosedaten erst dann gesammelt, wenn das Auto gewartet wird. Ein Computer wird mit einem OBD II-Kabel nach Industriestandard angeschlossen, um beispielsweise Sensordaten, Motorstatus, Störungsmeldungen, Verschleißinformationen und Fahrverhalten abzurufen. Kein Remote-Zugriff auf Diagnosedaten ist für OEMs eine großes Manko, da sie nicht in der Lage sind, Software/Hardware-Fehler proaktiv zu erkennen. Dies führt häufig zu kostspieligen Rückrufen und unzufriedenen Kunden. Zudem hat der Fahrer wenig bis gar keine Möglichkeiten für den Fernzugriff auf wertvolle Informationen wie Standort, Alarm, Batterieladezustand oder die Laufleistung.

Volvo Connected Cars kommunizieren über die Cloud
Volvo Connected Cars kommunizieren über die Cloud
Volvo präsentiert auf der MWC in Barcelona die Technologie "Slippery Road Alert ".
Volvo Connected Cars kommunizieren über die Cloud
Das Fahrzeug erkennt eine glatte Fahrbahn und meldet es in die Volvo-Cloud.
Volvo Connected Cars kommunizieren über die Cloud
Die Technologie zum Reagieren auf Glatteis ist schon in aktuellen Fahrzeugen mit ASR und ESP vorhanden. Durchdrehende Räder oder ein Ausbrechen des Autos soll so verhindert werden.
Volvo Connected Cars kommunizieren über die Cloud
Der "Slippery Road Alert" meldet dieses Ereignis nun eben der Volvo-Cloud.
Volvo Connected Cars kommunizieren über die Cloud
Kommen andere Volvos mit Cloud-Anbindung an der glatten Stelle vorbei, so erhalten sie eine Warnung.

Bisher sind Industriestandards und damit End-to-End-Lösungen für die Sammlung von Telemetriedaten Mangelware. Die einzelnen Akteure in der Wertschöpfungskette verfolgen momentan hauptsächlich eigene Interessen. In der Folge gewinnen Open Source-Lösungen wie OVMS zunehmend an Bedeutung.

Over-the-Air Remote Datenbereitstellung

Die Möglichkeit, Daten und Content Over-the-Air bereit zu stellen erlaubt innovative Mehrwertdienste und Features für Connected Cars. Over-the-Air Firmware-Upgrades für die Head Unit und sogar ECUs erlauben, ähnlich wie bei Smartphones und Tablets, Upgrades und neue Funktionen ohne in die Werkstatt fahren zu müssen.

Zudem erwarten Kunden in einer vernetzten Welt, ihr Auto remote zu verriegeln, die Klimaanlage einzuschalten und weitere Funktionen. Damit diese Features funktionieren, müssen die gesamte Wertschöpfungskette und viele Komponenten, von ECUs und Backend-Anwendungen bis hin zu Datenbanken einwandfrei zusammenarbeiten.

Mobile Applikationen erleichtern unseren Alltag - der Zugriff auf Content (E-Mails, Dokumente, Medien) ist der Kern der heutigen vernetzten Welt. Kunden sehen es als selbstverständlich, Apps und Content über die Head Unit genauso so flexibel wie auf ihrem Smartphones in ihrem Auto zu konsumieren. Der Fahrer hat dadurch beispielsweise Zugriff auf seine persönliche Playlist in allen Autos eines Carsharing-Angebots.

Datensicherheit/Datenschutz

Telemetriedaten erfordern vor allem in einem nutzerorientierten Kontext solide Datenschutz- und Sicherheitsvorkehrungen. Die gesammelten Daten müssen End-to-End verschlüsselt sein und zudem dürfen die für die prädiktive Analyse erforderlichen Daten nicht Dritten zur Verfügung gestellt werden, da sie die Profilierung des Nutzers ermöglichen. Hier schafft das Konzept der Containerisierung Abhilfe: Im Enterprise Mobility Management bereits verbreitet, trennt es Geschäfts- und Privatdaten und sollte somit höchsten Anforderungen an Sicherheit und Datenschutz in der gesamten Wertschöpfungskette sorgen.

Das Software-defined Data Center als Vehicle Backbone

Connected Cars produzieren eine enorme Menge an Daten, die nicht in einem traditionellen Rechenzentrum verarbeitet werden können. Nur ein Software-definierter Ansatz mit Hybrid Cloud-Option ist in der Lage, schnell genug zu skalieren. Das Software-defined Data Center (SDDC) bietet ein fast grenzenloses, dynamisches und skalierbares Vehicle Backend. Alle Systeme innerhalb des SDDC werden automatisch mit nur minimalem menschlichem Einsatz geschaffen, indem es vordefinierte Blueprints nutzt, die alle Informationen über Compute, Network, Sicherheit und Storage enthalten. Hochverfügbarkeit und Fehlertoleranz ermöglichen 24/7 Betrieb ohne Ausfallzeiten. Der Hybrid Cloud-Ansatz bietet zudem den nötigen Spielraum um Belastungsspitzen abzufangen, etwa bei der Einführung neuer Produktfeatures.

Ein Software-defined Data Center bietet die Steuerungsvoraussetzungen für das Ökosystem Connected Car.
Foto: VMware

Von Connected Cars zu Smart Cars

Aktuell bestimmt in Deutschland eine Diskussion das Netz: Verschlafen deutsche Autobauer die Zukunft? Laufen Google und Apple bald BMW und Volkswagen den Rang ab? Dabei handelt es sich natürlich um Schwarz-Weiß-Malerei und es wird noch lange dauern, bis selbstfahrende Autos unsere Straßen prägen. Außerdem spielt die deutsche Autoindustrie weltweit eine Vorreiterrolle, sie weiß es nur nicht so gut zu kommunizieren wie die jungen Silicon-Valley-Giganten.

Gartner geht von 250 Millionen Connected Cars bis zum Jahr 2020 aus, die zwingend Zugang zu Cloud Ressourcen und Echtzeit-Analytics voraussetzen. Technologieführerschaft wird eindeutig die Zukunft der Automobilindustrie bestimmen und hier müssen Daimler und Co. aufpassen, dass sie nicht plötzlich zum Zulieferer degradiert werden, der lediglich Bauteile für Software-Konzerne liefert. Denn einmal etabliert, werden diese Technologien die Automobilindustrie enorm antreiben: Von vernetzten Autos und vernetzten Fahrern bis hin zur vollkommen vernetzten Konsumgüterindustrie, die völlig neue Geschäftsmöglichkeiten in angrenzenden Branchen ermöglicht. (bw)