Berliner Verkehrsbetriebe

Mit agilen Methoden in die digitale Zukunft

11.12.2017 von Wolfgang Herrmann
Der größte kommunale Verkehrsbetrieb Deutschlands muss sich neuen Konkurrenten und dem rasanten technischen Wandel stellen. Digitalvorstand Henrik Haenecke setzt auf agile Methoden und Design Thinking, um die Berliner Verkehrsbetriebe fit zu machen für die Herausforderungen der Digitalisierung.

Eigentlich könnten es sich die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) in ihrem Geschäftsfeld gemütlich machen. Mit dem Land Berlin haben sie einen Verkehrsvertrag für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) geschlossen, der 2020 mit großer Wahrscheinlichkeit um weitere 15 Jahre verlängert wird. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht, berichtet Henrik Haenecke, der seit August 2016 im Vorstand die Bereiche Finanzen, Digitalisierung und Vertrieb verantwortet: "Wir sehen uns mit einer Reihe neuer Wettbewerber beispielsweise im Bereich Shared Mobility konfrontiert. Der technische Wandel im Kerngeschäft hat sich im Zuge der Digitalisierung erheblich beschleunigt." Fast jedes Projekt bei der BVG sei heute ein digitales, so der langjährige McKinsey-Berater. Darauf müsse man sich einstellen.

BVG-Digitalvorstand Haenecke: "Wir wollen agile Methoden als Kernkompetenz in der gesamten Organisation aufbauen."
Foto: BVG / Oliver Lang

Mit rund 14.000 Mitarbeitern ist die BVG der größte kommunale Verkehrsbetrieb Deutschlands. 2016 transportierte sie mit U-Bahnen, Bussen und Straßenbahnen mehr als eine Milliarde Fahrgäste; das entspricht gut 2,8 Millionen Fahrten pro Tag. Doch Haenecke will sich auf diesen Zahlen nicht ausruhen. Die Herausforderungen der digitalen Transformationen erforderten in vielen Bereichen eine neue Herangehensweise.

Um den Innovationsprozess zu verbessern, setzt er bereichsübergreifend auf agile MethodenundDesign Thinking. In einem Führungskräfte-Workshop etwa wurden neue Ideen erarbeitet, sechs davon werden derzeit agil weiterverfolgt. Die Projektteams entwickeln dazu Minimum Viable Products (MVP), um frühzeitig die Akzeptanz neuer Lösungen zu testen. Haenecke: "Wir bewegen uns in kleinen Schritten zum Ziel."

Design-Thinking-Ansatz

Das Thema Agilität war für die meisten Mitarbeiter neu, einschlägiges Wissen in der Organisation kaum vorhanden. Für die rund 150 an den Projekten beteiligten Fach- und Führungskräfte holte der Digitalvorstand "agile Coaches" an Board. In vielen Fällen leisteten sie zunächst Aufklärungsarbeit. Haenecke: "Die Mitarbeiter mussten lernen, sich in den Kunden, sprich Fahrgast oder auch Straßenbahnfahrer, hineinzuversetzen." Getreu dem Design-Thinking-Ansatz entwickelten die Projektteams dazu verschiedene Personas.

Ein konkretes Beispiel dreht sich um das Schadensmanagement an Straßenbahnen. Entdeckt ein Straßenbahnfahrer etwa eine defekte Tür, hinterlässt er den Servicetechnikern bisher in der Regel einen handgeschriebenen Zettel. In einem neuen Szenario würde er das per App auf einem Smartphone erledigen.

Früher hätte man für eine solche Anwendung aufwändig ein Lastenheft erstellt, berichtet Haenecke. Im Rahmen eines agilen Vorgehens erstellten die Mitarbeiter ein MVP und testeten die Praxistauglichkeit. Ergebnis: Mit der App allein war es nicht getan; die BVG muss nun auch den ganzen Werkstattprozess ändern, um zu Verbesserungen zu kommen.

Agile Methoden will der Digitalvorstand nicht nur in technischen Bereichen, sondern beispielsweise auch im Personalwesen einführen. So teste man mittels MVPs beispielsweise E-Learning-Systeme für die Ausbildung von Straßenbahnfahrern und nähere sich damit einer endgültigen Lösung. Haenecke: "Wir wollen agile Methoden als Kernkompetenz in der gesamten Organisation aufbauen."

Zukunftsmarkt Ride Sharing: "Big is beautiful"

Gute Ideen braucht der Manager vor allem im Zukunftsmarkt Ride Sharing, in dem sich die BVG positionieren will. Er übersetzt den Anglizismus mit "geteilte Fahrten". Wer in diesem Markt Erfolg haben will, muss ein Plattform-Modell anstreben, ist Haenecke überzeugt. Dabei gelte die Devise "big is beautiful": Um Skaleneffekte erzielen zu können, müssten sehr viele Nutzer und Fahrzeuge zusammenkommen.

Neben dem klassischen ÖPNV will sich die BVG im Zukunftsmarkt Ride Sharing positionieren.
Foto: BVG / Oliver Lang

Haeneckes strategisches Ziel ist eine "intermodale Mobilitätsplattform". Vereinfacht ausgedrückt verbirgt sich dahinter eine App, die die Leistungen aller Mobilitätsanbieter in der Region übersichtlich zusammenfasst. Das Problem ist nur: Google und Apple bieten bereits ähnliche Lösungen an, auch Uber hat das Potenzial im Blick. Für die BVG stelle sich die Frage: "Können wir da mithalten? Wir verfügen nun mal nicht über 1000 Softwareentwickler, wie sie etwa Uber beschäftigt."

Ein gangbarer Weg führt laut Haenecke über Kooperationen, beispielsweise mit Startups aus der Mobility-Szene. Eine zentrale Aufgabe der BVG sei es, die unterschiedlichen Ride-Sharing-Dienste mit dem ÖPNV-Angebot zu verknüpfen. Die Basis dafür soll die "BVG-App" bilden, die laut Haenecke bereits fast drei Millionen mal heruntergeladen worden ist. Angesichts von gut drei Millionen Berliner Einwohnern sei das kein schlechter Wert. Ein Viertel der ÖPNV-Tickets verkaufe die BVG bereits papierlos via Apps.

Viele Regeln bremsen digitale Projekte aus

Die digitale Transformation des ÖPNV-Dienstleisters wirkt sich auch auf Organisationsstrukturen aus. So gründete die BVG unterhalb der Vorstandsebene eine Stabsabteilung Digitalisierung. Zum 1. November 2017 hat mit Henry Widerazudem ein Leiter Digitalisierung die Arbeit aufgenommen, der an Haenecke berichtet. IT- und Digitalisierungsstrategie seien dabei eng verzahnt, so der Manager: Während CIO Friedrich-Wilhelm Menge die technischen Voraussetzungen schaffe, sei der Leiter Digitalisierung dafür verantwortlich, neue Geschäftsmodelle umzusetzen.

Letzteres ist in der BVG als Anstalt des Öffentlichen Rechts ein besonders komplexes Unterfangen. So gibt es gesetzliche Regelungen wie das Vergaberecht oder interne Vorgaben zur Budgetierung, die Innovationsprozesse im Vergleich zu privaten Unternehmen erheblich in die Länge ziehen können.

"Das normale Regelsystem verhindert häufig eine pragmatische kundenzentrierte Herangehensweise", beobachtet Haenecke. Er setzt für wichtige Projekte grundsätzlich gemischte Teams ein, in denen auch Verantwortliche aus den Bereichen Controlling, Einkauf und IT zusammenarbeiten. Einwände gegen ein neues Vorhaben könnten in einem solchen Gremium direkt besprochen und im besten Fall entkräftet werden.

Erfolgsentscheidend auf dem Weg der digitalen Transformation ist aus seiner Sicht auch eine neue Kultur, die das Topmanagement vorleben müsse. Dazu gehöre die Devise: "Scheitern ist okay. Viele MVPs funktionieren in der Praxis nicht, das ist kein Beinbruch." Um diese Sicht zu veranschaulichen, lädt Haenecke schon mal Vertreter von sogenannten "Fuck-up-Nights" ein, die der BVG-Belegschaft von ihrem persönlichen Scheitern berichten.

Die digitale Zukunft der BVG ist auch eng mit klassischen IT-Herausforderungen verknüpft. Ein enormes Potenzial sieht Haenecke etwa in den "Mobilitätsdaten", die täglich im ÖPNV anfallen. Für Planungs- und Optimierungszwecke sammelt die BVG bereits GPS-Daten von Bussen.

In einem zweiten Schritt ließen sich künftig auch GPS-Daten von Kunden erheben, um beispielsweise herauszufinden, wo gerade Bedarf an ÖPNV-Diensten besteht. Bisher ist die BVG dabei auf manuelle Zählungen angewiesen, die die Mitarbeiter stichprobenartig leisten. Zusätzliche Mobilitätsdienste oder sogar neue Geschäftsmodelle könnten sich ergeben, wenn man solche Informationen mit weiteren, eventuell auch personenbezogenen Daten kombiniere.

Bis zu einer echten Big-Data- und Analytics-Umgebung ist es aber noch ein weiter Weg, räumt Haenecke ein. Viele grundsätzliche Fragen müssten dazu beantwortet werden, beispielsweise: Wie werden Daten erhoben? Wo werden sie gespeichert und auf welche Weise lassen sie sich analysieren? Welche Vorgaben macht der Datenschutz? - jede Menge Hausaufgaben also, die auf der To-do-Liste des CIOs stehen, bevor die BVG aus dem Rohstoff Daten geschäftsrelevante Erkenntnisse gewinnen kann.

E-Mobility im ÖPNV: Deutsche Hersteller hinken hinterher

Hürden ganz anderer Art muss der Digitalvorstand im BereichE-Mobility und autonomes Fahren nehmen. Die BVG sehe hier große Potenziale und würde gerne schneller vorangehen. Doch elektrische Busse, die mit Dieselfahrzeugen vergleichbare Leistungen böten, seien auf dem deutschen Markt kaum zu bekommen - egal ob Eindecker oder der typische Berliner Doppeldecker. Zudem fehle die notwendige Ladeinfrastruktur. Vor 2020 erwartet er keine durchgreifenden Verbesserungen und konstatiert: "Die deutschen Automobilhersteller haben hier den Anschluss verpasst."

Im Projekt "Stimulate" will die BVG herausfinden, wie Nutzer autonom fahrende Busse annehmen.
Foto: Charité/ Peitz

Dessen ungeachtet unternimmt die BVG erste Gehversuche mit autonomen Fahrzeugen. Im Pilotprojekt "Stimulate", an dem das Land Berlin und die Charité beteiligt sind, will Haenecke herausfinden, wie Nutzer fahrerlose Busse annehmen. Ab 2018 sollen die ersten elektrisch betriebenen Kleinbusse an zwei Charité-Standorten ihre Runden drehen. Die E-Busse liefert Navya, ein erst 2014 gegründeter französischer Hersteller, der sich auf autonome Fahrzeuge spezialisiert hat.