Industrie 4.0 und IoT zum Anfassen bei der Smart Electronic Factory

Mittelständler senkt Fixkosten mit Industrie 4.0 um 50 Prozent

09.08.2018 von Jürgen  Hill
Die Limtronik GmbH, ein Dienstleister für Electronic Manufacturing Services (EMS), gehört hierzulande zu den Vorreitern in Sachen Industrie 4.0. Die Hessen haben intelligente Technologien mit Lean-Management-Prozessen kombiniert und nutzen ihr ERP-System als Schaltzentrale für die intelligente Fabrik.
Als real produzierende Elektronikfabrik stellt Limtronik auch die Umgebung für die Forschungs- und Entwicklungsplattform des Vereins Smart Electronic Factory e.V.
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Die Limtronik GmbH beweist, dass sich Industrie 4.0 rechnet. "Durch die Identifikation von Bauteilen per Barcode erzielten wir Kostenersparnisse von knapp 53 Prozent", berichtet Gerd Ohl, Geschäftsführer der Limtronik GmbH, "zudem erreichten wir eine Verkürzung des Vorgangs auf 25 Prozent der ursprünglichen Zeit, wodurch unter anderem die Fixkosten um knapp 50 Prozent sanken". Neben den Kostenersparnissen konnte Limtronik die Qualität in der Produktion steigern.

Das Unternehmen im hessischen Limburg an der Lahn gehört hierzulande mit zu den Vorreitern in Sachen Industrie 4.0 und Smart Factory. "Über die Jahrzehnte entwickelte sich eine sehr hohe Industrie-4.0-Affinität im Unternehmen", unterstreicht Ohl. So engagiert sich Limtronik etwa im Verein Smart Electronic Factory e.V. (SEF), wo Konzepte und Szenarien im Industrie-4.0-Umfeld für das Branchensegment Elektronik entwickelt werden. Als real produzierende Elektronikfabrik stellt Limtronik zudem die Umgebung für die Forschungs- und Entwicklungsplattform des Vereins.

Dienstleister für EMS und JDM

Doch der Reihe nach. Die Limtronik GmbH startete im Jahr 2010 ihren Geschäftsbetrieb als Dienstleister für Electronic Manufacturing Services (EMS). Entstanden ist das Unternehmen aus einem ehemaligen Bosch-Leitwerk, in dem bereits seit 1970 elektronische Baugruppen gefertigt wurden. Seit der Gründung 2010 ist das Unternehmen jährlich im Durchschnitt um 13 Prozent gewachsen und strebt bis zum Jahr 2021 einen Jahresumsatz von 50 Millionen Euro an. Zudem sind die EMS-Experten mittlerweile auch im Joint Development Manufacturing (JDM) tätig: Sie bauen für ihre Kunden aus Industrie, Automobilbranche sowie Medizin- und Sicherheitstechnik maßgeschneiderte Prototypen und übernehmen später auf Wunsch die Serienproduktion.

Bereits Mitte der 90er Jahre wurde am Standort Limburg ein eigenes MES entwickelt und eingesetzt. Seit dieser Zeit ist das Fundament für die Teams, die Maschineneinrichtung und die Philosophie, Maschinen an ein übergeordnetes System anzubinden. Aufgrund der hohen Affinität der Elektro- und Elektronikindustrie zur Datenverarbeitung beschäftigte man sich schon früh bei Limtronik mit Themen, wie etwa die Bestückungsmaschinen mit Maschinenprogrammen zu versorgen oder mit dem ERP zu verknüpfen sind. Schon bald ging es dann um Fragen wie: Bis wann brauche ich die Teile? Wann müssen sie vor Ort sein? Wie buchen sie sich automatisch von den Maschinen ab? Kann ich von den Maschinen Daten direkt ins ERP übernehmen? "Letztlich befassten wir uns schon 2014 mit Technologien, die gerade für viele Unternehmen anderer Branchen noch sehr weit weg sind"; blickt Ohl zurück.

Orientierung zu Industrie 4.0

Diese Orientierung in Richtung Industrie 4.0 führte denn auch dazu, dass man bei Limtronik ein neues ERP-System als Schaltzentrale der Fabrik benötigte. "Die eingesetzte Lösung hielt den gestiegenen Anforderungen nicht mehr stand und stieß immer mehr an ihre Grenzen", schildert Ohl den damaligen Zustand. Gesucht wurde eine Plattform, die alle Prozesse entlang der gesamten Wertschöpfungskette steuern kann: vom Einkauf und der Materialwirtschaft über die Produktion und den Vertrieb bis hin zum Finanz- und Rechnungswesen. Gleichzeitig sollte das neue ERP-System das künftige Wachstum im In- und Ausland flexibel unterstützen, denn Limtronik unterhält noch eine weitere Fabrik in Aurora im US-Bundesstaat Colorado.

Ein lückenlose Traceability ist ein Wettbewerbsvorteil.
Foto: Limtronik GmbH

Bei Limtronik entschied man sich dann für die ERP-Lösung von proAlpha. Eine Entscheidung, für die mehrere Punkte sprachen. So kannte man den Anbieter bereits von der Zusammenarbeit im Rahmen der Smart Electronic Factory, denn proAlpha gehört zu den Gründungsmitgliedern des Vereins. Zudem sprachen für die ERP-Plattform Aspekte wie Multiressourcenplanung, Advanced Planning and Scheduling (APS), Business-Intelligence-Cockpits, die eine hohe Transparenz versprechen. Entscheidend war zudem, dass sich das proALPHA-ERP nahtlos in das derzeit verwendete MES von iTAC integrieren lässt. Ein Punkt, der für Limtronik deshalb so wichtig ist, weil so eine Brücke zwischen Produktions- und Planungsebene gebildet werden kann. Und dies ermöglicht unter anderem die lückenlose Rückverfolgbarkeit der verwendeten Bauteile.

Herausforderung Traceability

"Wer eine lückenlose Traceability nachweisen kann, hat einen klaren Wettbewerbsvorteil", erklärt Georgios Giantsios, Geschäftsführer und IT-Verantwortlicher bei Limtronik. Traceability gilt als eine der größten Herausforderungen in der EMS-Branche: Alle Produkte, alle verwendeten Leiterplatten und die darauf befindlichen Bauteile müssen umfassend rückverfolgt werden können. Treten später Mängel auf, lässt sich die Fehlerquelle schnell eingrenzen. In der Medizintechnik ist Rückverfolgbarkeit sogar gesetzlich vorgeschrieben. Andere Limtronik-Kunden ? zum Beispiel in der Automobilindustrie ? wollen damit bei Reklamationen etwaige Rückrufaktionen nur für die wirklich betroffenen Fahrzeuge starten.

Eine vorausschauende Wartung soll Fehler wie Zinnschlus vermeiden.
Foto: Limtronik GmbH

In der Praxis sieht das dann so aus: Alle Zulieferteile werden im Wareneingang über einen speziellen Wareneingangstisch gezogen. Auf diese Weise gelangen die notwendigen Traceability-Daten zuerst in das Materialwirtschaftsmodul von proALPHA und dann automatisch in das MES. Pro Verpackungseinheit wird eine eindeutige Nummer erzeugt, die neben anderen Informationen auf einem Etikett steht. Das Etikett wird auf das Gebinde des Bauteils geklebt. In der Fertigung erfasst dann das MES, wo diese Komponenten genau verbaut wurden. So kann Limtronik auf unterschiedliche Traceability-Anforderungen der Kunden reagieren - etwa mit eigenen Seriennummern, der Erfassung geometrischer Daten oder der Bündelung von Baugruppen. Im nächsten Schritt des Industrie-4.0-Konzepts - heute noch Zukunftsmusik - sollen die Auftraggeber mit Limtronik vernetzt werden.

Ein anderer Aspekt ist die vorausschauende Wartung, die Limtronik demnächst realisieren will. "Längerfristiges Ziel ist eine produktionsspezifische Vorhersage von Wartungsintervallen für unsere Fertigungsanlagen, die mithilfe eines Algorithmus gesteuert wird", betont Ohl. Damit will das Unternehmen häufige Fehler in der Leiterplattenbestückung wie Zinnschluss, ungenaue Positionierung, das Fehlen eines Bauteils oder den berüchtigte Tombstone-Effekt bekämpfen. Dieser tritt beim sogenannten Reflow-Löten von elektronischen Bauteilen auf, die sich währenddessen auf der Leiterplatte einseitig aufstellen. Die nach oben stehende Seite ist dann nicht mehr elektrisch kontaktiert, das Bauteil wirkt wie ein Grabstein. Deshalb der englische Name "Tombstone". Um hier wirksam gegensteuern zu können, ist als nächster großer Schritt in Richtung Industrie 4.0 ein Datamining-Projekt angedacht, das Fehlerursachen automatisch erkennt. Gleichzeitig zeigt der Tombstone-Effekt, dass sich Investitionen in Industrie 4.0 durchaus rechnen. Um etwa den Tombstone-Effekt nachträglich zu beheben, fallen bei Limtronik Kosten von rund sechs Euro je Leiterplatte an. "In einer Vorserienfertigung kann das bereits Ausgaben von über 30.000 Euro bedeuten", rechnet der Geschäftsführer Ohl vor.

Vision der selbststeuernden Maschine

Gerd Ohl, Geschäftsführer Limtronik, glaubt, dass in Zukunft in seiner Fabrik Maschinen stehen, die sich selbst steuern.
Foto: Limtronik GmbH

Und die Digitalisierung bei Limtronik geht weiter. "Am Ende werden in unserer Fabrik Maschinen stehen, die sich selbst steuern", blickt der Geschäftsführer in die Zukunft. An einem Praxisbeispiel betrachtete man auf der diesjährigen Hannover Messe die durchgängige horizontale und vertikale Vernetzung - also sowohl vom Kundenauftrag bis zum Service als auch vom Sensor über eine IoT-Plattform über das MES bis zum Leitstand. Der Showcase zeigte einen kollaborierenden Roboter in einer Montagesequenz und den damit verbundenen Informationsfluss von Sensor-, MES- und ERP-Daten. Dabei wird der Produktionsfortschritt überprüft, Störungen werden überwacht und analysiert, so dass Service, Wartung und Maschinenverfügbarkeit im Sinne von Predictive Maintenance unterstützt werden. Der Kunde ist in den Fortschritt seiner Bestellung eingebunden und erhält im Leitstand oder mobil Informationen über den Zustand seines Auftrags.

Grundsätzlich zieht man bei Limtronik in Sachen Industrie 4.0 ein positives Resümee. So zeigten die Industrie-4.0-Beispiele, dass eine vertikale und horizontale Vernetzung heute einfach möglich ist. Eine Herausforderung sei es jedoch, sinnvolle Daten zu erzeugen und dafür entsprechende Fachleute mit tiefem Maschinenwissen im Unternehmen zu haben. Grenzen zeigten sich für einen kleinen Mittelständler eher mit Blick auf die benötigten Investitionen und bei der Suche nach Finanzierungspartnern für neue Software oder Robotersysteme.

Bei aller Begeisterung in Sachen in Sachen Industrie 4.0 und Digitalisierung, eines konnte man bei Limtronik aber nicht finden: Konkrete neue Möglichkeiten im Business-Umfeld. Dennoch will das Unternehmen an den Themen dran bleiben, "denn wir sind ein Vorreiter - was uns beispielsweise auch die auf der Hannover Messe präsentierten Use Cases verdeutlichten", erklärt Ohl: "Vieles für den Markt Neues ist für uns bereits tägliche Praxis.".

Wichtig ist für Limtronik, dass das Datensammeln im Rahmen der Industrie-4.0-Umstellung nicht zum Selbstzweck erfolgt. Als produzierendes Gewerbe sei es für das Unternehmen zwar schwierig, mit den gesammelten Daten neue Services zu erschließen. Dennoch will Limtronik seinen Kunden die Möglichkeit geben, auf Grundlage der erfassten Daten neue smarte Services anzubieten.