Ohne Business keine IT-Innovationen

12.11.2004 von Paul Horn.
IBM sieht IT und Business in Zukunft untrennbar miteinander verbunden. Nur dann befördert Technik den Geschäftserfolg.

Als Chef einer führenden Forschungseinrichtung bin ich von hochbegabten, schöpferischen Menschen umgeben, die in allen Bereichen der IT eindrucksvolle Erfindungen gemacht haben. Der Schwerpunkt der Arbeit unserer Forscher reicht dabei über die Erfindung neuer Hard- und Softwareprodukte hinaus. Er schließt jetzt verstärkt eine engere Zusammenarbeit mit den Kunden in der Anwendung der Technologie mit ein - häufig über Engagements im Dienstleistungsbereich. Die Dinge, auf die Kunden Wert legen, ändern sich dabei: von der "nächsten großen Sache" in der Technologie hin zur schöpferischen Anwendung der Technologie auf Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Die IT wird immer weniger als Kunst um der Kunst willen, sondern zunehmend als Mittel zum Zweck betrachtet. Das soll nicht heißen, dass wir auf Trends in der IT nicht mehr achten. Aber diese Trends werden nicht mehr isoliert betrachtet, sondern in den Rahmen eines weiter reichenden Ziels gestellt.

Einen wichtigen Trend der nächsten Jahrzehnte sehen wir beispielsweise bei der Entwicklung von Halbleitern und Speichergeräten, wo herkömmliche Werkstoffe, Design und Produktionsweisen nach und nach von Nanotechnologien wie molekulare Selbstorganisation, Spintronik und Nanotubes abgelöst werden. In all diesen Forschungsgebieten unterhalten wir derzeit Projekte. Verbesserte Mikrochip- und Speicherhardware allein hilft den Kunden indes noch nicht, ihr Geschäft künftig anders zu betreiben. Sie kann aber dazu beitragen, das neue Generationen des Hochleistungs-Computing (HPC), des autonomen Computing, der Virtualisierung und der Grid-Technologien entstehen, die es den Kunden erlauben, ihre Ressourcen und ihr Geschäft besser und auf eine ganz neue Art zu verwalten. Um dorthin zu gelangen, müssen wir diese Basistechnologien umfassender als bisher in der Softwareentwicklung und das Systemdesign einbeziehen. Dieser neue Weg zur Systemoptimierung wird auch die Definition dessen ändern, was wir heute unter einem "System" verstehen.

Am anderen Ende des Spektrums werden die Verbesserungen bei Mikrochips und Speichergeräten dazu führen, dass sich Computer-Intelligenz in immer mehr Alltagsprodukten wiederfindet. Heute gelten Handys und Videospielen als die größten Nutznießer. Doch wir glauben, dass andere Arten von Anwendungen entstehen, die eine sehr viel größere Bedeutung haben werden. So wird beispielsweise der durchgängige Einsatz von Technologien für Sensoren und zur Radiofrequenz-Identifikation (RFID) verbunden mit einem rasantem Wachstum der Kommunikationsbandbreite und die Reichweite heutiger IT-Infrastrukturen ausdehnen. Selbst so banale Geräte wie Pumpen und Motoren werden Daten erfassen und übertragen können und dadurch zu einer immer feinkörnigeren Systemsicht des Unternehmens führen. Parallel werden als Teil dieser Entwicklung zusätzlich riesige Datenmengen entstehen, die richtig analysiert, die Unternehmen in die Lage versetzen, ihre Geschäftsabläufe zu verbessern oder gar völlig neue Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Der Wunsch, all diese Informationen unter oft verschiedenen Systemen innerhalb eines Unternehmens und zwischen Unternehmen auszutauschen, wird die Entwicklung von Standards voranbringen. Dabei wird die Dynamik, die durch Open-Source-Code und offene Standards entsteht, Einfluss darauf haben, wie künftig beispielsweise Software entwickelt, strukturiert und vertrieben wird. Das wird die Industrie wiederum zwingen, sich grundsätzlich über juristische und geschäftliche Fragen in Bezug auf geistiges Eigentum Gedanken zu machen.

Was an den soeben beschriebenen Szenarien für Systeme, mobile Geräte und Daten-Management heute jedoch anders ist, ist die Tatsache, dass es hier nicht nur um schlichte Technologietrends geht. Natürlich werden sich Basistechnologien weiterentwickeln, die Zahl intelligenter Systeme zunehmen und das Breitband-Internet sowie offene Standards dabei helfen, Daten nahtlos fließen zu lassen. Das alles wird die Transaktions- und Interaktionskosten senken und das virtuelle Unternehmen weiter ausdehnen. Diese ganze Technologie der Datenerfassung, -übertragung und -speicherung mag großartig sein, aber die entscheidende Frage, die sich Kunden stellen, lautet: Was kann ich damit tun? Sie erkennen, dass Fortschritt in der Technologie neue Türen öffnet.

Die Frage lautet jedoch, wohin diese Türen führen. Dies ist der Punkt, an dem die Innovation ins Spiel kommt: nicht nur zur Erfindung des nächsten Gerätes, sondern zum Einsatz von Technologie und Expertenwissen, um etwas neu und besser zu machen.

Für Unternehmen muss künftig die Differenzierung von den Wettbewerbern letztlich das Ziel sein. Es geht also darum, wie das Unternehmen für seine Kunden weiterhin Werte schafft, im operativen Umfeld Kosten senkt, seine Produkte und Dienstleistungen entwickelt und erbringt sowie mit seinen Lieferanten und Partnern zusammenarbeitet.

Auf Kunden eingehen

Der ultimative Maßstab für den Unternehmenserfolg wird die Fähigkeit sein, besser auf sich ändernde Kundenbedürfnisse einzugehen sowie in dem Umfeld, in dem das Unternehmen mitspielt, flexibler und anpassungsfähiger zu sein. Diese Fähigkeit nennen wir "On demand", und sie kennzeichnet den Endzustand, in dessen Richtung wettbewerbsfähige Unternehmen sich weiterentwickeln werden.

Damit dies gelingt, muss die sich weiterentwickelnde IT-Infrastruktur kreativ genutzt werden, um durch sie Kosten senken oder innovative Produkte oder Dienstleistungen anbieten zu können. Dann werden Kunden einen echten Wert im Einsatz von IT sehen und bereit sein, mit deren Hilfe ihr Unternehmen grundlegend zu verändern. Die Folge wäre ein Zusammenschluss zweier bisher unterschiedlicher Innovationssphären: der Entwurf von Geschäftsmodellen und die Entwicklung der fortschrittlichsten Informationstechnologien und Forschungsbereiche. Das wird in den nächsten Jahren der wichtigste Trend überhaupt sein. Wir sind auf dem Weg vom Informationszeitalter zum Innovationszeitalter. Dieser Trend wird die IT-Industrie zwingen, sich über bisherige Technologien und Fertigkeiten hinaus weiterzuentwickeln. Sie muss besser verstehen lernen, wie Unternehmen funktionieren und welche Trends spezifische Branchen und Industrien prägen.

IBM stellt sich dieser Aufgabe mit Hilfe der Vorgehensweise "Component Business Model", die Business und Technologie miteinander verbindet. Sie zerlegt Unternehmen in einzelner Komponenten oder Prozesse, um umfassender zu verstehen, wie sie im Einzelnen und untereinander funktionieren. Ziel ist es, Möglichkeiten für Innovationen und Verbesserungen zu identifizieren. Gleichfalls lassen die Bausteine sich nach bestimmten Standards entwerfen, um sie austauschbar zu machen, und sie können gegebenenfalls auch per Outsourcing verwaltet werden. Wer das Vorgehensmodell verwendet, kann die Bestandteile eines Unternehmens identifizieren, die für seinen eigenen Betrieb am kritischsten sind und die das meiste Optimierungspotenzial enthalten. Dann kann er angemessene Informationstechnologien punktgenau einsetzen, um diese Optimierung voranzubringen.

In dem Maße, wie die IT in den nächsten Jahren fortschreitet, werden diese Modelle umfassender, mit einer höheren Zahl von Variablen umgehen sowie eine größere Präzision und Granularität besitzen. Vielleicht wird es so möglich werden, die Zahl der Geschäftsprozesse auf ihre wesentlichen Komponenten zu reduzieren - und damit zu einer Art "Periodensystem" der Grundelemente, die ein Unternehmen ausmachen, zu gelangen.

Klar ist, dass dies nur dann Wirklichkeit werden kann, wenn wir künftig ein tieferes Verständnis davon mitbringen, wohin Unternehmen oder Branchen sich entwickeln. Dies zu erreichen ist ein weiterer wichtiger Trend, der allerdings schwer zu fassen ist, da es kein etabliertes Modell zur Beschreibung derartiger Entwicklungen gibt. Sicher ist aber, dass sich künftig Unternehmen und Branchen im engen Wechselspiel mit der IT weiterentwickeln werden. Die Zusammenarbeit zwischen "IT-Forschern" in der Konzeptionsphase und "IT-Kunden" im Anwenderbereich wird dabei üblich werden, um diese Verbindung zu gewährleisten. Die Zukunft der IT wird somit sowohl vom Business als auch der Forschung bestimmt werden.

Doch woher sollen die Fertigkeiten für eine solche Aufgabe kommen? Wer sind die Menschen, die diese einsetzen? Das führt mich zu meiner letzten Prognose über IT-Trends in den nächsten Jahrzehnten: Unsere Hochschulen bilden hervorragende IT-Fachleute und unsere Management-Schulen Spitzen-MBAs aus, aber abgesehen von wenigen Ausnahmen haben beide Fachbereiche wenig miteinander zu tun. Doch ausgehend von meiner These, dass der Gesamttrend hin zu einer Zusammenführung von Technologie und Wirtschaft geht, erwarte ich, dass auch auf akademischer Ebene beide Gruppen künftig gemeinsam marschieren. Da Innovationen künftig vor allem durch die Analyse von Geschäftskomponenten sowie den Einsatz der IT zur Verbesserung von Geschäftsprozessen entstehen sowie im Rahmen von Dienstleistungen umgesetzt werden, haben wir diese neue, kombinierte Disziplin "Services Science" getauft. Sie wird nicht nur bisherige technische und betriebswirtschaftliche Fächer kombinieren, sondern den Weg zu neuen, höherwertigen Fähigkeiten weisen, die für die Kunden einen Wert besitzen und deshalb Arbeitsplätze sowie Wirtschaftswachstum versprechen. Wenn wir mit unseren Prognosen Recht haben, werden in Zukunft einmal "Dienstleistungwissenschaftlern" für die computerwoche über IT-Trends schreiben und rückblickend unsere Zeit als ein Wendepunkt beschreiben, an dem klar wurde, wozu IT eigentlich wirklich da ist.