Quer denken schafft gerade Sicht

17.10.2003 von Helga Ballauf
Sie haben Kunstgeschichte, Theologie und Konstruktionstechnik studiert, als Tankschutzmonteur und Arzthelferin gearbeitet. Nun schreiben sie Softwarehandbücher, richten Web-Shops ein und warten digitale Radiosysteme: IT-Quereinsteiger schöpfen aus vielen Quellen und machen daraus etwas Neues.

Friedrich Singer hat sich auf Schnittstellen spezialisiert: Bei der Firma Radiodienst. Audio Syndication + Network in München sorgt er dafür, dass die Anlage funktioniert, mit der man aus digitalen Hörfunkaufnahmen Versprecher, überflüssige Sätze, Äh’s und Hm's herausschneiden kann. Der Techniker kümmert sich um die Schnittstellen zwischen diversen Audiosystemen verschiedener Hersteller und muss in groben Zügen die Technik der Programmübertragung via Satellit sowie den Internet-Standard FTP beherrschen.

Radiodienst ist eine Tochterfirma der Gesellschaft "Bayerische Lokal- und Radioprogramme" (BLR), die rund 40 kleine Privatsender in Bayern mit Nachrichten und Mantelprogrammen beliefert. Außerdem kaufen Radiostationen und Unternehmen weltweit Teile dieses deutschsprachigen Audioangebots. Gesendet wird rund um die Uhr, und das heißt für Singer und seine vier Technikkollegen, dass immer einer ansprechbar sein muss. "Das Schlimmste an der Bereitschaft ist, wenn um drei Uhr morgens das Handy klingelt und du ganz schnell per Ferndiagnose einen Fehler finden und beseitigen sollst", berichtet der Netzwerk- und Servicetechniker.

Friedrich Singer: "Früher habe ich über Leute gelacht, die lediglich Kopfarbeit leisteten. Jetzt weiß ich: Lernen ist auch Arbeit."

So heißt das Berufsbild, auf das sich der ehemalige Tankschutzmonteur in einem Jahreskurs beim Bildungsträger CDI umschulen ließ. Das Praktikum am Ende des Lehrgangs im Jahr 2000 machte Singer beim Radiodienst - und blieb hängen. "Ich habe es nicht bereut", sagt er rückblickend, auch wenn ihm zu Beginn der Umschulung der Wechsel von der handwerklichen Arbeit auf die Schulbank schwer fiel. "Früher habe ich über Leute gelacht, die lediglich Kopfarbeit leisten. Jetzt weiß ich: Lernen ist auch Arbeit."

Wichtig für den Erfolg der Umschulung und seine Zufriedenheit im neuen Job war für Singer zu wissen, was er wollte, bevor er zum Arbeitsamt ging. "Als klar war, dass ich aus gesundheitlichen Gründen umsatteln musste, habe ich mich in die PC-Welt eingelesen und den ersten Computer zerlegt. Und ich merkte: Das liegt mir!" Das war sein Vorteil gegenüber den Kurskollegen, die einfach deshalb in der Umschulung zum Netzwerk- und Servicetechniker landeten, weil die IT-Branche gerade boomte.

Als Monteur war Singer Einzelkämpfer, jetzt muss er mit anderen zusammenarbeiten, mit Technikern und Moderatoren, mit Programmplanern und Künstlern. "Ich bin teamfähig", sagt er selbstbewusst. Schließlich sind es die Kreativen, die ihn als Schnittstellenspezialisten brauchen, damit ihr Produkt das Publikum erreicht. So sehr sich sein alter und sein neuer Beruf unterscheiden, gewisse Eigenschaften sind in beiden nützlich, sagt der Umschüler: "Prioritäten setzen, rasch und selbständig handeln, improvisieren, koordinieren."

Ageliki Lucchesi arbeitet zu Hause. Doch oft fährt die Technikredakteurin zu ihren Kunden und lässt sich zeigen, wie die Geräte funktionieren, deren Software sie in einem Handbuch erklären soll. "Ich löchere die Leute so lange, bis ich verstehe, wie ein Geldautomat funktioniert", beschreibt sie ihre Arbeitsweise. "Nur wenn ich selbst durchblicke, kann ich verständlich schreiben." Darauf kommt es ihr an, egal, ob es um eine Anleitung geht, darum, wie Störungen an Telekommunikationsanlagen zu beseitigen sind oder um Online-Hilfen für Computerprogramme.

Schreiben, Dinge auf den Punkt bringen - das liebt Lucchesi, das zieht sich wie ein roter Faden durch ihre bunte Berufsbiografie: Studium der Kunstgeschichte, Ausbildung zur Arzthelferin, Telefonsupport für medizinische DV-Systeme, technische Dokumentation im IT-Bereich, Dozentin bei einschlägigen Schulungen, Vortragende. Rund zehn Jahre hat sie sich als Freiberuflerin durchgeschlagen.

Angeliki Lucchesi: "Zu Hause arbeite ich kreativer und effektiver."

Seit 1997 ist Lucchesi bei der Comet Computer GmbH in München fest angestellt und hat als Handbuchspezialistin inzwischen den Seniorstatus erreicht. "Dieser Titel ist im Umgang mit Kunden wichtig, weil er Kompetenz signalisiert. Betriebsintern sagt er den Kollegen: Ich helfe bei fachlichen Problemen weiter."

Firma fördert Seiteneinsteiger

In der mittelständischen Firma ist Heimarbeit üblich, was Lucchesi genießt: "Zu Hause arbeite ich kreativer und effektiver." Als sie sich vor sechs Jahren bei Comet Computer vorstellte, wollte niemand ein Zeugnis sehen. Arbeitsproben genügten als Qualifikationsnachweis. Das hat zum einen damit zu tun, dass der Studienabschluss zur Technischen Redakteurin noch relativ neu ist. Zum anderen gehört es zur Firmenpolitik, Quereinsteiger zu fördern. Dafür verdienen sie anfangs weniger. "Der finanzielle Aufstieg kam erst nach einer Bewährungsprobe", erinnert sich die Autodidaktin. Manchmal überlegt sie, ob es nicht gut wäre, ein ordentliches Diplom zu besitzen. "Aber dann frage ich mich: Steht der Aufwand dafür?" Bislang lautet die Antwort: Nein.

An Arbeit mangelt es Lucchesi trotz IT-Branchenkrise nicht. Ganz im Gegenteil: Immer öfter lagern Herstellerfirmen das Schreiben einer gesetzlich vorgeschriebenen technischen Dokumentation an einen Dienstleister aus, weil der weniger kostet als eigenes Personal. Was die Qualität von Handbüchern angeht, sieht Lucchesi ein Problem: Sie gelten als Pflichtprodukt, und erst wenige Firmen sehen verständlich geschriebene Dokumentationen als Wettbewerbsfaktor, mit dem sie beim Kunden Punkte sammeln können.

Verschlungene Berufswege

Sie lässt sich in diesem Ziel nicht beirren. Ihr verschlungener Berufsweg, auf dem sie vom Telefonsupport über die Qualitätskontrolle bis zum Vertrieb viele verschiedene Bereich der Softwareherstellung kennen lernte, hilft ihr dabei, die Produkte aus der Position des Nutzers zu sehen - und zu erklären. Ihr Motto: "Quer denken bringt gerade Sicht."

Holger Kirschner: "Weder als Theologe noch als Ingenieur war ich so zufrieden wie jetzt als IT-Koordinator."

Demnächst darf Holger Kirschner den Titel "IT-Projektkoordinator" führen. Das europaweit anerkannte Spezialistenprofil hat sich der Seiteneinsteiger aus Jena in berufsbegleitender Form erarbeitet. Bei seinem "Meisterstück" ging es darum, die datenlogistische Infrastruktur des Kunden - eines mittelständischen Unternehmens für Spezialgerätebau - zu erneuern. Nun kann der umfangreiche Datensatz über das Produktangebot der Firma nicht nur für den alljährlich gedruckten Katalog genutzt werden, sondern steht auch dem digitalen Zugriff offen. Zwei der neuen Nutzungsmöglichkeiten: der Web-Shop für die Direktvermarktung und die Bestellung von Katalogausschnitten nach dem Prinzip Print-on-Demand.

Kirschner zog das Vorhaben durch, holte sich mit anderen angehenden IT-Projektkoordinatoren beim Bildungswerk der Thüringer Wirtschaft das fehlende juristische und betriebswirtschaftliche Know-how. Schließlich nahm man den jeweiligen Prozessverlauf kritisch unter die Lupe. "So wird Lernen unglaublich effektiv", lobt Kirschner das Konzept der arbeitsprozessorientierten IT-Weiterbildung. Er weiß, wovon er spricht: Erst studierte der Ostdeutsche Konstruktionstechnik, danach Theologie.

Seit 1999 arbeitet er in einem kleinen Verlag, den die IKS GmbH, ein regionaler Internet-Provider, nebenher betreibt. Gedruckt werden hauptsächlich geistes- und sozialwissenschaftliche Texte in kleiner Auflage, Bücher, bei denen es sich geradezu anbietet, sie auch elektronisch zu publizieren. Bisher liefen entsprechende Versuche so nebenher. Nun hat Kirschner systematisch gelernt, wie der Verlag sich zusätzliche Geschäftsfelder erschließen kann - vom Anlegen von Datenbanken über die Strukturierung von Web-Shops bis zur Definition der Schnittstelle zur Druckerei bei Print-on-Demand.

Zertifikat unwichtig

Dem Ingenieur und Theologen ist das Weiterbildungszertifikat "eher unwichtig, weil ich einen relativ sicheren Job habe, der Spaß macht". Entscheidend ist für den Quereinsteiger der Zuwachs an Wissen und Erfahrung, wenn es um die IT-Projektplanung und -umsetzung geht. "Vom Studium der Konstruktionstechnik nehme ich mit, ingenieurmäßig an Probleme heranzugehen und einen Lösungsweg zu suchen. Im Theologiestudium habe ich Kommunikation in allen Facetten gelernt: von der Rhetorik über die Art, wie man Leute bei der Stange hält, bis zur Dokumentation von Entwicklungen und Ergebnissen."

Einmal Gelerntes kombinieren- und anwenden zu können, darauf kommt es dem IT-Projektkoordinator an, daraus bezieht er seine berufliche Zufriedenheit: "Ich weiß, dass ich sie weder als Ingenieur noch als Pfarrer erreicht hätte."