Entlassungen in der US-Tech-Branche

Recruiter liebäugeln mit ausländischen IT-Talenten

05.05.2023 von Silvia Hänig
In der Krise feuern US-Tech-Konzerne und Startups ihre Talente. Ein guter Zeitpunkt, neue Wege zu gehen, um an die besten Köpfe heranzukommen?
Aufgrund des Fachkräftemangels hierzulande denken Personalverantwortliche sogar darüber nach, ausländische Talente zu akquirieren.
Foto: Alexandr III - shutterstock.com

Schaut man sich die Entwicklung des IT-Fachkräftemarktes der vergangenen Monate an, werden vermutlich nur die Wenigsten daraus schlau. Denn während der Branchenverband Bitkom seit mehr als einem Jahr die Wirtschaft mit der Zahl 137.000 (offene IT-Stellen) in Angst und Schrecken versetzt, geht die Nachfrage nach diesen Experten munter auf und ab. Das zeigt der aktuelle Fachkräfte-Index der Personalberatung Hays. Demnach hatten es die Unternehmen in den letzten drei Quartalen des Jahres 2022, trotz hoher Vakanzen, wohl doch nicht so eilig mit der Suche nach zusätzlicher IT-Expertise. Seit dem zweiten Quartal 2022 nahm die Nachfrage stetig ab, um im ersten Quartal 2023 wieder durch die Decke zu gehen. Um ganze 30 Prozent hat die Suche vor allem nach IT-Security-Spezialisten (+ 79 Prozent), SAP-Entwicklern (+ 68 Prozent) und IT-Architekten (+ 55 Prozent) zugenommen. Aber wie erklärt sich diese Berg- und Talfahrt angesichts eines chronischen Personalmangels im IT-Bereich?

ROI von IT-Projekten wird stärker hinterfragt

Die scheinbar widersprüchlichen Entwicklungen lassen sich begründen: "Beim Nachfragerückgang muss man differenzieren. Es gibt Unterschiede in den Branchen und in den Regionen. Zudem beobachten wir eine Verlagerung der angefragten Rollen," erklärt Sarah Köhl, Head of Tech bei Hays. "Der grundsätzliche Bedarf an IT-Fachkräften bestand auch in den vergangenen Quartalen. Allerdings hatte die Investitionsbereitschaft vorübergehend abgenommen, denn in dieser Zeit wurde der ROI laufender IT-Projekte verstärkt hinterfragt." Große IT-Projekte seien sogar gestoppt worden, ergänzt ihr Kollege Andreas Sauer, Bereichsleiter Technology. Die Nachfrage nach IT-Security-Experten und IT-Projektmanagern konnte laut Index dieser Nachfragedelle jedoch trotzen. Das bedeutet, viele Unternehmen realisieren langsam, wie wichtig IT und Digitalkräfte für die Einführung neuer Technologien wie zum Beispiel künstlicher Intelligenz sind, um am Ende ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.

Klassische Rekrutierung funktioniert immer weniger

Gleichzeitig scheint sich allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, dass herkömmliche Rekrutierungswege für die Suche nach IT-Fachkräften einfach nicht mehr funktionieren. Denn jeder weiß mittlerweile, wie zeit- und vor allem kostenintensiv das Anwerben dieser Experten ist. Daher kommen die Firmen nicht umhin, neue Wege auszuprobieren, um an diese rare Spezies heranzukommen. "Wenn deutsche Firmen jetzt nicht bereit sind, antizyklisch einzustellen, könnten sie kurz- oder mittelfristig ins Hintertreffen geraten. Denn für das Reaktivieren einer gezielten Talentakquise vergehen ebenfalls wieder viele Wochen," weiß Hays-Managerin Köhl aus eigener Erfahrung.

Wie Unternehmen ihr Recruiting weiter optimieren
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Mit Unternehmenskultur und Innovationen locken

Die Entlassungswellen der großen Tech-Giganten wie Microsoft, Amazon oder Meta, aber auch die Entlassungen junger Talente von Startups können für mittelständische Betriebe gute Chancen beinhalten, neues IT-Personal zu gewinnen. Denn viele fähige Köpfe suchen aktuell fernab der großen Namen nach einer Beschäftigung mit ganz anderen Vorzeichen. Gerade Talente aus der schnelllebigen Tech-Welt denken nach dem Ausscheiden verstärkt über ihr Selbstverständnis von Arbeit sowie den Wert von Arbeit als Teil ihres Lebensentwurfs nach. Das besagt zumindest eine aktuelle Erhebung der Marktforscher von Gartner. Weniger bekannte Firmen, die aber über eine zeitgemäße Unternehmenskultur inklusive kreativer Freiheit, Selbstbestimmung verfügen und sich zudem noch sozial und ökologisch profilieren, haben bei den Tech-Talenten auch in der Provinz gute Karten.

Ein weiterer wichtiger Lockfaktor für IT-Talente ist natürlich auch die Innovationskraft des jeweiligen Standortes. Vor diesem Hintergrund werben gerade Automotive-Unternehmen und deren Zulieferer verstärkt um die Top-Kräfte aus dem Silicon Valley. Die milliardenschwere High-Tech-Agenda von Wissenschaftsminister Markus Blume ist das aktuelle Beispiel dafür, wie ernst es der Freistaat mit seiner "Innovationsmaschinerie" meint.

Aber gegenüber solchen Lockangeboten gibt es berechtigte Zweifel. "IT-Fachkräfte aus den USA nach Deutschland zu ziehen, ist ein schwieriges und nur in absoluten Einzelfällen erfolgversprechendes Unterfangen," so Bitkom-Geschäftsführer Bernhard Rohleder. "Auch in den USA haben die Unternehmen einen hohen Bedarf an IT-Know-how, weshalb die Betroffenen innerhalb des eigenen Landes meist ebenfalls sehr gute berufliche Perspektiven haben," so Rohleder weiter. Zudem gibt er zu bedenken, dass in Deutschland hohe Steuern anfallen, weshalb ein Wechsel aus den USA rein finanziell wenig verlockend sein dürfte.

Freiberufliche Tech-Talente für die Automobilindustrie

Zudem vermuten Branchenkenner, dass gut verdienende Software-Entwickler aus dem Silicon Valley eher selbst gründen würden, als sich nochmal in eine weitere Festanstellung zu begeben. Aber auch über dieses Beschäftigungsmodell gäbe es Chancen für hiesige Unternehmen, auf das freiberufliche IT-Wissen zuzugreifen. "Wir beobachten, dass gerade im Zuge laufender Digitalisierungsprojekte bevorzugt freiberufliche Experten zum Zuge kommen," so Christoph Kugelmann Vertriebschef von Etengo. Den größten Bedarf, weltweit fähige Techies mit Projekterfahrungen anzuwerben, haben gerade die Automobilhersteller und ihre Zulieferer, da sie den globalen Wettbewerbern dringend Marktanteile abjagen müssen. Die aktuelle Entlassungswelle dürfte ihnen daher gerade besonders gelegen kommen. "Projektleiter für Embedded IT Systeme oder auch Experten für funktionale Sicherheit sind stark nachgefragt," weiß der Etengo-Mann. Solche Skills sind gerade für den Aufbau einer "Data Driven Company" bei den OEMs erfolgskritisch. Damit diese Nachfrage bei den Tech-Talenten auf Gegenliebe stoßen kann, sollte es unterschiedliche, möglichst unkomplizierte Wege der Jobvermittlung für ausländische Fachkräfte geben. Natürlich verbunden mit guten Arbeitsbedingungen und einer entsprechenden Bezahlung. (pg)