Microsoft zeigt wieder Zähne

Schluss mit dem Kuschelkurs

17.04.2023 von Preston Gralla und Heinrich Vaske
Seit über neun Jahren führt Satya Nadella Microsoft (55) - mit ruhiger Hand und im Einklang mit den Gesetzen. Doch jetzt nehmen Regierungen und Kartellbehörden den Konzern wieder ins Visier.
Microsofts Seele wiederentdecken - das will Satya Nadella mit seinem Buch. Er scheint dabei auf erhebliches Aggressionspotenzial gestoßen zu sein.
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Mit Nadella übernahm 2014 ein im Konzern allseits beliebter Techie und Cloud-Spezialist das Ruder. Die Zeiten des exzentrischen Steve Ballmer, der Linux als "Krebsgeschwür" bezeichnete und beispielsweise für Flops wie Windows Phone, Vista oder den gescheiterten Übernahmeversuch von Yahoo steht, waren endlich zu Ende. Der neue CEO spielte lieber mit den Wettbewerbern, als sie zu zerstören, und er suchte den Schulterschluss mit der Open-Source-Bewegung.

Die neue Linie zahlte sich aus. Die Behörden ließen Microsoft weitgehend in Ruhe, wirtschaftlicher Erfolg stellte sich ein und der Börsenwert stieg - nicht zuletzt dank der großen Erfolge als Cloud-Provider - sprunghaft an. Microsoft ist heute mit 2,14 Billionen Dollar bewertet. Nur Apple bringt mit einer Marktkapitalisierung von 2,59 Billionen Dollar noch mehr auf die Waage (Stand: 13.4.2023).

Regierungen sind alarmiert

Doch Microsoft hat sich nun offenbar entschieden, wieder mit härteren Bandagen zu kämpfen. Regierungen auf der ganzen Welt werfen dem Unternehmen mittlerweile Verstöße gegen das Kartellrecht vor, reichen Klagen ein, erwägen Geldstrafen in Höhe von Hunderten von Millionen Dollar und schlagen Vorschriften vor, die Microsoft zu einer drastischen Änderung seiner Geschäftspraktiken zwingen sollen.

Die Klagen richten sich etwa gegen den geplanten (weiteren) Vorstoß des Unternehmens in den Gaming-Bereich, den die Übernahme von Activision Blizzard zur Folge haben dürfte, wenn sie denn genehmigt wird. Auch gegen Microsofts Versuch, die Cloud-Dominanz in Europa für weitere Geschäfte zu nutzen, gehen die Behörden vor, ebenso gegen den aggressiven Vorstoß im Bereich künstliche Intelligenz.

Cloud- und Gaming-Monopole befürchtet

Doch der Reihe nach. Im Januar 2022 kündigte Microsoft an, den Gaming-Spezialisten Activision für 68,7 Milliarden Dollar übernehmen zu wollen. Sollte das Geschäft zustande kommen, wäre dies der größte Deal im Bereich der Unterhaltungselektronik seit dem Kauf von Time Warner durch AOL vor zwei Jahrzehnten.

Der Konjunktiv ist hier allerdings zu betonen, reichte doch im Dezember 2022 die US-Handelsbehörde Federal Trade Commission (FTC) Klage ein, um die Übernahme zu verhindern. Holly Vedova, Direktorin des Bureau of Competition der FTC, erklärte: "Microsoft hat bereits in der Vergangenheit gezeigt, dass es seinen Konkurrenten im Gaming-Sektor Inhalte vorenthalten kann und wird. Wir werden Microsoft daran hindern, die Kontrolle über ein führendes unabhängiges Spielestudio zu erlangen und damit den Wettbewerb gleich in mehreren dynamischen und schnell wachsenden Spielemärkten zu schädigen."

Doch die Activision-Klage ist nicht Microsofts einziges Problem. Das Unternehmen sieht sich mit mehreren behördlichen Ermittlungen konfrontiert, die sich gegen den Wachstumsmotor des Unternehmens richten: die Cloud. Vor allem in Europa wird die Luft dünner: Vor einem Jahr begann die Europäische Union, Microsofts Cloud-Geschäftspraktiken zu untersuchen, als mehrere europäische Cloud-Anbieter, darunter NextCloud in Deutschland und OVHcloud in Frankreich, dem Unternehmen wettbewerbswidriges Verhalten vorwarfen.

Setzt Microsoft kleinere Cloud-Wettbewerber unter Druck?

In einem Schreiben der EU-Ermittler an das Unternehmen hieß es: "Der Kommission liegen Informationen vor, wonach Microsoft seine potenziell marktbeherrschende Stellung auf bestimmten Softwaremärkten nutzen könnte, um Wettbewerber bei bestimmten Cloud-Computing-Diensten auszuschließen." Konkret: Die Cloud-Anbieter zeigten sich verärgert, weil Microsofts Softwarekunden in der Azure-Cloud weniger zahlen sollten als in den Cloud-Umgebungen der Wettbewerber. Entsprechende Veränderungen soll Microsoft 2019 an seinen Outsourcing-Lizenzverträgen vorgenommen haben, beklagte die Association of Cloud Infrastructure Service Providers (CISPE), die die Beschwerde eingereicht hatte.

Auf der Grundlage der Untersuchung nahm Microsoft im Oktober 2022 Änderungen an der Lizenzierung vor, die diese Probleme beheben sollten. Den Wettbewerbern reicht das aber nicht aus. Der Generalsekretär von CISPE, Francisco Mingorance, erklärte Ende vergangenen Jahres: "Indem Microsoft seine Dominanz bei Produktivitätssoftware ausnutzt, schränkt es die Auswahl ein und treibt die Kosten in die Höhe, wenn europäische Kunden in die Cloud wechseln wollen. So verzerrt Microsoft die digitale Wirtschaft in Europa."

Der Softwaregigant nutze seine Dominanz mit den Betriebssystemen Windows 10 und 11 aus, um europäische Unternehmen und Kunden an die Azure-Cloud-Infrastruktur und die OneDrive-Speicherplattform des Unternehmens zu binden, so die CISPE. Diese Behauptung erinnert auf fatale Weise an die US-Kartellklage der 1990er Jahre, als Microsoft ebenfalls vorgeworfen wurde, seine Betriebssystem-Dominanz zur Eroberung anderer Geschäftsfelder zu nutzen. Bislang hat die EU noch nicht über die Beschwerde entschieden.

Dass die steigende Abhängigkeit der Kunden von Microsoft kein Spaß ist, dürften die Unternehmen in den vergangenen Tagen gemerkt haben: Seit Anfang April 2023 zahlen Unternehmenskunden im Euroraum durchschnittlich um elf Prozent mehr für Microsofts Cloud-Produkte wie Azure, OneDrive und Office 365 inklusive Teams. Das Unternehmen hat seine Preise jetzt weltweit an den Kurs des US-Dollars geknüpft. Microsoft wisse, dass die Kunden keine andere Wahl hätten und zahlen müssten, schimpft CISPE-Sprecher Mingorance.

Gegenwind auch in den USA

Nicht nur in Europa muss sich Microsoft wegen seiner Cloud-Praktiken verteidigen. In den USA hat die FTC ebenfalls damit begonnen, die Geschäftspraktiken der großen Cloud-Anbieter zu untersuchen. Die FTC-Vorsitzende Lina Khan sagte: "Weite Teile der Wirtschaft scheinen jetzt von einer kleinen Anzahl von Cloud-Anbietern abhängig zu sein." Die Behörde habe damit begonnen, öffentliches Feedback einzuholen, um herauszufinden, wie die Geschäftspraktiken der Cloud-Anbieter den Wettbewerb und auch die Datensicherheit beeinflussen.

Die FTC hat nicht explizit Microsoft genannt, aber es scheint sicher, dass der Softwaregigant genauso wie seine Rivalen Amazon Web Services, Google und Oracle unter Beobachtung steht. Angesichts der Tatsache, dass die FTC bereits wegen der Activision-Übernahme gegen Microsoft vorgeht, hat das Unternehmen einiges zu befürchten.

KI im Fokus der Regulatoren

Die nächste Baustelle betrifft die künstliche Intelligenz: Microsoft hat OpenAIs Large Language Model (LLM) GPT-4 in seine Bing-Suche integriert und auch die meisten anderen Softwareprodukte um Generative-AI-Funktionen erweitert. Microsoft ist an OpenAI mit über zehn Milliarden Dollar beteiligt. Nadella ist überzeugt davon, dass KI und Chatbots nicht nur die Computertechnik, sondern auch die Wirtschaft und die ganze Art und Weise, wie wir arbeiten und leben werden, grundlegend verändern.

Momentan zeichnet sich aber ab, dass europäische Regierungen und auch die USA künstliche Intelligenz stark regulieren werden. Die US-Regierung hat gerade erst Regeln für den Einsatz von KI-Produkten und -Services angekündigt. Der Prozess hat mit einem Aufruf der National Telecommunications and Information Administration (NTIA) begonnen, einer Behörde des US-amerikanischen Handelsministeriums. Über den AI Accountability Policy Request for Comment will die Behörde Vorschläge einholen, wie ein Regelwerk für den KI-Einsatz aussehen könnte. Auch die EU ist dabei, ihre KI-Verordnung auf den Weg zu bringen, die die Entwicklung und Verwendung von KI in der EU regeln soll.

Microsoft-Chef Satya Nadella ist mit mehr als zehn Milliarden Dollar in Sam Altmans KI-Unternehmen OpenAI investiert. Hier sieht er die Zukunft von Microsoft.
Foto: Microsoft

Microsoft muss als Marktführer, der alles auf die KI-Karte setzt, mit Schwierigkeiten rechnen. Generative KI-Chatbots können großen Schaden anrichten, wenn sie nicht innerhalb definierter Leitplanken genutzt werden. Eine Untersuchung der New York Times mit dem Titel In A.I. Race, Microsoft and Google Choose Speed Over Caution zeigt, dass sowohl Google als auch Microsoft die Warnungen von Ethikern - und auch von ihren eigenen Mitarbeitern - vor dem Schaden, den Chatbots anrichten können, ignoriert haben. Sie wollten einzig und allein schneller sein als der Wettbewerb, um Marktanteile zu gewinnen.

In dem Artikel heißt es unter anderem, dass einige Ethikwissenschaftler, aber auch Microsoft-Mitarbeitende vor fast einem Jahr in mehreren Dokumenten beschrieben haben, wie KI-gesteuerte Chatbots Facebook-Gruppen mit Desinformation überschwemmen können. Die moderne Gesellschaft brauche eine objektive Datengrundlage, die auf diese Weise untergraben werden könne.

Prominente wie Elon Musk verlangen KI-Pause

Microsoft ignorierte die Warnungen und veröffentlichte seinen Chatbot trotzdem. Danach haben mehr als 1.000 Forscher und führende Persönlichkeiten aus der Technologiebranche, darunter Elon Musk, Steve Wozniak und Rachel Bronson, Präsidentin der Organisation Bulletin of the Atomic Scientists, dazu aufgerufen, die Entwicklung leistungsfähiger KI zu stoppen, da die Technologie "tiefgreifende Risiken für die Gesellschaft und die Menschheit" berge. Die Gruppe fügte hinzu: "Wenn eine solche Pause nicht schnell herbeigeführt werden kann, sollten die Regierungen eingreifen und ein Moratorium einführen."

Dass KI-Sprachmodelle derzeit noch sehr einfach missbraucht und als Betrugsmaschinen genutzt werden können, ist bekannt. Dennoch arbeiten Microsoft und andere Softwareanbieter mit Hochdruck daran, sie in ihre kommerziellen Produkte zu integrieren. Mit "Prompt-Injektionen" können LLMs derzeit noch einfach angewiesen werden, vorher eingegebene Anweisungen und auch Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen. Jailbreaker tauschen sich frei auf Reddit über Tricks und Prompts aus, mit denen sich die Sicherheitsregeln von OpenAI ganz einfach außer Kraft setzen lassen.

Erste Regierungen haben bereits reagiert: Italien hat ChatGPT, das Gehirn hinter Microsofts Bing-Chatbot, erst einmal verboten. Andere europäische Länder erwägen ähnliche Maßnahmen. EU-Kommissar Thierry Breton, zuständig für Binnenmarkt und Dienstleistungen, erklärte: "Wie ChatGPT gezeigt hat, können KI-Lösungen große Chancen für Unternehmen und Bürger bieten, aber auch Risiken bergen. Deshalb brauchen wir einen soliden Rechtsrahmen, um vertrauenswürdige KI auf der Grundlage hochwertiger Daten zu gewährleisten."

Der Preis für hohe Marktanteile

Microsoft hatte jahrzehntelang keine staatliche Aufsicht zu befürchten und hat sich in dieser Zeit gut entwickelt. Doch durch den Versuch, den Spielemarkt durch eine gigantische Übernahme zu erobern, seine Cloud-Präsenz mit den Methoden der Vergangenheit auszubauen und zum Weltmarktführer in einem noch nicht regulierten, wild wuchernden KI-Markt zu werden, hat sich das Unternehmen wieder die Aufmerksamkeit der Regierungen und Kartellbehörden in aller Welt eingehandelt.

Nadella weiß, dass die neuen Märkte jetzt verteilt werden, und er hat sich zu einem aggressiven Vorgehen entschlossen. Das zieht für gewöhnlich die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich, testen doch solche Unternehmen in aller Regel rechtliche Grenzen aus oder überschreiten diese mangels Regulierung. Das ist der Preis für einen hohen Marktanteil - und es scheint sich zu lohnen, ihn zu bezahlen.

Andererseits können staatliche Kartellverfahren einem Unternehmen arg zusetzen. Microsoft kennt das. Es ist noch nicht klar, wie sich Microsoft mittel- und langfristig verhalten wird, vermutlich steht dem Unternehmen ein Ritt auf der Rasierklinge bevor. In Sachen Cloud Computing zeigt sich bereits, dass Microsoft sich darum bemüht, den EU-Kartellwächtern immer einen Schritt voraus zu sein. So hat das Unternehmen erneut eingewilligt, seine Lizenzierungspraktiken anzupassen.

In Sachen KI scheint Microsoft noch etwas mehr Zeit zu haben, die Mühlen der Regierungen mahlen langsam. Bisher wurde vor allem geredet, aber - mit Ausnahme von Italien - wenig entschieden. Doch wenn sich das ändert, könnte das gravierende Folgen für Microsoft haben, das sich entschieden hat, den Weg in die KI-Zukunft zu gehen und Fakten zu schaffen, ohne auf die Regulierungsbehörden zu warten. (hv)