Neue Tipps zur ERP-Auswahl

So kommen Sie auf den ERP-Trichter

29.03.2012 von Karsten Sontow
Bei der Auswahl einer ERP-Lösung gibt es keinen Königsweg, wohl aber wichtige Entscheidungshilfen. Welche lesen Sie hier.
Foto: Fotolia, Carmen Steiner

Nahezu alle deutschen Unternehmen setzen Lösungen für Enterprise Resource Planing (ERP) ein. Viele davon schon in der dritten oder gar vierten ERP-Generation. Diese ERP-Installationen stellen in der Regel das Rückgrat der Business-Software-Infrastruktur dar und werden meist unternehmensweit über die in die Auftragsabwicklung involvierten Bereiche und Standorte hinweg eingesetzt. Darüber hinaus werden im ERP-System viele Informationen aus bereichsspezifischen Anwendungen (CRM/Vertrieb, PDM/Entwicklung, MES/Produktion, DMS/Informations-Management) gebündelt beziehungsweise auch zur weiteren Verarbeitung an diese Anwendungen weitergegeben.

7 ERP-Produkte im Vergleich
Sieben ERP-Produkte im Vergleich
Der Contest, in dem alle Produkte einen Parcour mit acht Testszenarien durchlaufen musste, hat die Stärken und Schwächen der jeweiligen Produkte offenbart. Hier finden Sie eine kurze Zusammenfassung.
APplus von der Asseco Germany AG
Der ERP-Anbieter Asseco hat seine Software-Suite APplus ins Rennen geschickt. Sie richtet sich an Anwender aus den Branchen Produktion, Dienstleistung, Service und Großhandel.
APplus
Stärken <br> + praxisnah<br> + gute Benutzerführung<br><br> Schwächen<br> - Definition des Kalkulationsschemas mit Skripten ist umständlich<br> - Rechnungswesen nur funktional integriert
Canias ERP von der Industrial Application Software GmbH
Das betriebswirtschaftliche Standardpaket Canias ERP von Industrial Application Software ist für mittelständische Anwender vorgesehen.
Canias ERP
Stärken<br> + moderne Architektur<br> + kompakt konstruiert<br><br> Schwächen<br> - Web Shop fehlt<br> - in manchen Abläufen eher etwas konventionell
Epicor 9 von der Epicor Software Deutschland GmbH
Epicor wirbt für seine gleichnamige Softwarelösung mit einer flexiblen und kollaborativen Architektur.
Epicor 9
Stärken<br> + SOA-basierend<br> + Multi-Site-System<br><br> Schwächen<br> - manche Abläufe müssen erst individuell eingerichtet werden
M3 von der Lawson Software Deutschland GmbH
Lawson Software war mit dem ERP-Produkt M3 vertreten. Die Lösung lässt sich um viele Branchenlösungen ergänzen.
M3
Stärken<br> + „echtes“ Multi Site-System<br> + Navigation und Benutzerführung<br><br> Schwächen <br> - in manchen Abläufen eher konventionell<br> - PLM wurde nicht vorgestellt
Microsoft Dynamics AX von der Inway Systems GmbH
Microsoft mischt seit geraumer Zeit mit Dynamics AX den ERP-Markt auf. Im Contest wurde die Lösung vom IT-Partner Inway Systems vorgestellt.
Microsoft Dynamics AX
Stärken<br> + Flexibilität bei der Individualisierung<br> + international einsetzbar<br><br> Schwächen<br> - manche Funktionen sind nur im Prinzip vorhanden
SAP ERP von der T.CON GmbH & Co. KG
SAP stellt den Klassiker im ERP-Geschäft. Beim Contest trat der SAP-Partner T.CON an und präsentierte die ERP-Lösung.
SAP ERP
Stärken<br> + vollständige, umfassende, integrierte Lösung<br> + übersichtliche Benutzeroberfläche<br><br> Schwächen<br> - wirkt in manchen Abläufen etwas aufwändig<br> - Projekt-Management operiert etwas isoliert
Semiramis Comarch ERP Enterprise von der SteinhilberSchwehr AG
Semiramis ist eine etablierte ERP-Lösung von Comarch. Präsentiert und installiert wurde sie vom IT-Dienstleister SteinhilberSchwehr.
Semiramis Comarch ERP Enterprise
Stärken<br> + gute Navigation über Vorgangsketten<br> + unmittelbare Einbindung der Geschäftspartner<br><br> Schwächen<br> - Rechnungswesen wurde nicht vollständig präsentiert<br> - teilweise sehr konventionelle Prozessabläufe

ERP-Lösungen spielen dabei nicht nur eine zentrale Rolle bei der Unterstützung der Unternehmensprozesse, sondern stellen oft auch eine große Herausforderung dar: Die Kosten einer ERP-Lösung belasten die IT-Budgets erheblich. Je Arbeitsplatz fallen 4000 bis 5000 Euro Anschaffungskosten sowie 400 bis 600 Euro Wartungskosten pro Jahr an. Die interne Administration sowie die Software- und Anwenderbetreuung schlagen ebenfalls mit einem deutlichen finanziellen Aufwand zu Buche. Und schließlich verursacht die Modernisierung der ERP-Infrastruktur im Zuge von Upgrades beziehungsweise Release-Wechseln nicht selten Kosten, die sich in ähnlicher Größenordnung bewegen wie eine Neueinführung.

Trends im ERP-Lebenszyklus

Foto: Trovarit

Angesichts der Tatsache, dass sich die Lebensdauer einer ERP-Installation heute eher auf 15 bis 20 Jahre beläuft und nicht im Bereich der vielfach kolportierten acht bis zehn Jahre, scheint ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die ERP-Infrastruktur geboten: weg von isolierten Auswahl-, Einführungs- oder Anpassungsprojekten hin zu einer ganzheitlichen Bewirtschaftung über den gesamten ERP-Lebenszyklus.

Die unterschiedlichen Phasen des ERP-Lebenszyklus werden dabei durch einige Trends beeinflusst, die folgende Herausforderungen mit sich bringen:

Im Rahmen der ERP-Auswahl wirken sich diese Trends vor allem durch eine steigende Komplexität sowohl der fachlichen Fragen (zum Beispiel mehr Lösungs- und Handlungsoptionen) als auch der Projektorganisation (zum Beispiel mehr Beteiligte, mehr Fachbereiche und Standorte) aus.

Weichen stellen für neue ERP-Lösung

Bei der Auswahl einer neuen ERP-Software werden in vielerlei Hinsicht die Weichen für die nachfolgenden Phasen des ERP-Lebenszyklus gestellt: Die Festlegung auf eine ERP-Lösung hat nicht nur Auswirkungen auf die Geschäftsprozesse sowie die Höhe der Anschaffungs- und Folgekosten, sondern auch auf die Zusammenarbeit mit einem Dienstleister, mit dem der ERP-Anwender in der Regel eine sehr langfristige Partnerschaft eingeht. Mit der Festlegung auf einen Lieferanten werden die verfügbaren Beratungs-, Implementierungs- und Supportkompetenzen und -ressourcen sowie letztlich die Servicequalität definiert.

Dabei ist das Ergebnis der ERP-Auswahl in der Regel zunächst einmal ein Vertragswerk mit dem zukünftigen ERP-Lieferanten, das die Überlassung der Nutzungsrechte an der Software (Lizenzvertrag), die Einführung (Beratungsvertrag) und die Wartungsleistungen (Wartungsvertrag) festlegt sowie die entsprechenden Konditionen festschreibt. Für den Beratungsvertrag ist außerdem die Projektierung der Einführung notwendig. Hierbei geht es vor allem um den Anpassungsumfang, der für die ERP-Software notwendig ist, um relevante Projektmeilensteine sowie um die Festlegung der Projektbeteiligten.

Aufgabenkatalog zur ERP-Software-Findung

Angesichts ihrer Tragweite stellt sich die Frage, welche Aufgaben im Rahmen der ERP-Auswahl überhaupt bearbeitet werden (sollten). Nüchtern betrachtet handelt es sich bei der ERP-Auswahl um ein Investitionsprojekt, bei dem folgende Aufgaben zu bewältigen sind:

Foto: Trovarit

Im Idealfall kann man sich die ERP-Auswahl wie einen Trichter vorstellen, bei dem aus über 500 potentiellen Anbietern über einige Schritte ein geeigneter Partner ermittelt wird. Dabei reduziert sich schrittweise der Kandidatenkreis, während gleichzeitig der Detaillierungsgrad zum Beispiel der Anforderungen zunimmt.

Strategien der ERP-Auswahl

Im Gegensatz zum Idealbild des Trichters stellen sich Umfang und Intensität sehr unterschiedlich dar, mit der die oben genannten Aufgaben der ERP-Auswahl in der Praxis bearbeitet werden. Je nach Investitionsentscheidung lassen sich dabei folgende Auswahlstrategien unterscheiden:

  1. Die "strategische" oder "Golfplatz"-Entscheidung:
    Insbesondere in mittelständischen Familienunternehmen erfolgt die ERP-Auswahl oft ohne großartige Vorbereitung auf der Basis von Empfehlungen und persönlichen Beziehungen. Ausschlaggebend ist hierbei neben einigen Referenzen meist die persönliche Vertrauensbasis zwischen der Führungsebene des Anwenderunternehmens und des ERP-Anbieters. In derartigen Fällen reduziert sich die ERP-Auswahl auf wenige Gespräche, in deren Folge ein recht grob spezifizierter Software- und Wartungsvertrag abgeschlossen wird. Die Anforderungsdefinition und Spezifikation von Anpassungen werden dabei in die Phase der Einführung verlagert, wobei der ERP-Anbieter als Spezialist meist die Führung übernimmt.

  2. Die "freie Suche":
    Bei mittleren und größeren Unternehmen wird die ERP-Auswahl oft in Fachbereiche oder auch an einzelne Mitarbeiter delegiert. Im Interesse einer möglichst guten Empfehlung sondieren die Projektverantwortlichen intensiv den ERP-Markt. Sie verschaffen sich dabei zum Beispiel durch Messebesuche und Anbieterpräsentationen einen Eindruck von den am Markt agierenden Anbietern sowie deren ERP-Lösungen. Auf der Basis ihrer persönlichen Eindrücke grenzen sie den Kandidatenkreis ein und sprechen gegenüber der Entscheidungsebene eine Empfehlung für einen Anbieter aus. Auch bei diesem Ansatz wird die konkrete Spezifikation der ERP-Software meist in die Einführungsphase verlagert.

  3. Die "kalkulierte Entscheidung":
    Den Ansatz der "kalkulierten Entscheidung" im Sinne eines klassischen Investitionsprojektes findet man meist ebenfalls bei mittleren und größeren Unternehmen. Motiviert wird dieser Ansatz in der Regel durch die Notwendigkeit, einen Investitionsvorschlag Entscheidungsgremien (Geschäftsführung, Aufsichtsrat oder auch Gesellschafterkreis) gegenüber belastbar zu begründen. Bei der "kalkulierten Entscheidung" werden die oben genannten Aufgaben der ERP-Auswahl relativ systematisch abgearbeitet.

  4. "Akademische Übung":
    Im Bemühen um eine gute Investitionsentscheidung verbunden mit mangelnder Erfahrung und Unsicherheit über das Vorgehen schießen manche Unternehmen auch über das Ziel hinaus: Prozessdokumentation und Lastenhefte füllen ganze Regale. Zehn bis zwanzig ERP-Anbieter geben sich bei Präsentationen die Klinke in die Hand. Und der ERP-Werksvertrag mit Festpreis summiert sich auf 1000 und mehr Seiten. In diesen Fällen gleicht die ERP-Auswahl eher einer "akademischen Übung", bei der trotz aller Arbeit im Vorfeld selten eine erfolgreiche ERP-Einführung herauskommt.

In der Praxis der ERP-Auswahl finden sich meist Mischformen der aufgeführten Strategien. Nicht selten beobachtet man auch eine Entwicklung der Vorgehensweisen, zum Beispiel von der "strategischen Entscheidung" über die "freie Suche" hin zur "kalkulierten Entscheidung". In diesen Fällen unterliegt die ERP-Auswahl meist einer Lernkurve, die allerdings oft mit sehr viel Aufwand erkauft wird.

Zur ERP-Software führt kein Königsweg

Angesichts der vielfältigen Ausgangssituationen ist es nicht immer leicht, bei der ERP-Auswahl den richtigen Weg zu finden. Einfluss auf die Wahl des Ansatzes haben unter anderem:

Die aufgeführten Aspekte zeigen, dass es bei der ERP-Auswahl letztlich keinen Königsweg gibt, der für alle Unternehmen gleichermaßen geeignet ist.

Beraterhilfe kann sich rechnen

Bei der ERP-Suche können offenbar viele Wege zum Ziel führen. Die konkrete Ausgestaltung einer ERP-Auswahl muss letztlich immer im Spannungsfeld zwischen der Reduzierung des Investitionsrisikos und dem für eine sichere ERP-Auswahl erforderlichen Aufwand gesehen werden.

Dabei sollte allerdings die "Bilanzhülle" nicht zu eng gefasst werden. Zum Beispiel wird unter Verweis auf den Aufwand gerne auf die Erstellung eines Lastenheftes verzichtet. Dabei sollte man sich neben dem daraus resultierenden Risiko darüber im Klaren sein, dass ein ERP-Anbieter spätestens bei der Einführung der Software die Anforderungen des Unternehmens kennen muss.

Insofern wird immer ein Lastenheft erstellt, entweder durch den Anwender als Grundlage für die ERP-Auswahl oder gemeinsam mit dem ERP-Lieferanten als Basis für die Einführung. Ähnliche Argumente lassen sich bezüglich der Einbindung eines Beraters bei der ERP-Auswahl anführen: Eine Beratungsleistung kostet zwar einerseits immer einen Teil des Budgets.

Im Fall einer systematischen ERP-Auswahl sollte der Einsatz eines Beraters andererseits den - meist unterschätzten - unternehmensinternen Aufwand deutlich reduzieren. Angesichts des erheblichen Wettbewerbsdrucks im ERP-Markt gelingt es einem spezialisierten Berater zumeist auch, sehr gute Preise zu verhandeln. Auf diese Weise kann sich die Investition in die Auswahlberatung oft sehr schnell amortisieren. (pg)