computerwoche.de: Mit 82.000 offenen Jobs hat der Mangel an IT-Experten in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht. Und er soll sich weiter verschärfen. Wieso?
Frank Rechsteiner: Die Anforderungen an die Digitalkompetenz steigen über die IT-Industrie hinaus in vielen klassischen Berufen. Deshalb suchen Unternehmen quer durch alle Branchen händeringend nach IT-Spezialisten, die die digitale Transformation vorantreiben. Viele Firmen beklagen jedoch, dass sie ihre offenen IT-Stellen nur langwierig oder gar nicht besetzen können. Sie befürchten, den Anschluss an das digitale Zeitalter zu verlieren.
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computerwoche.de: Was raten Sie Unternehmen, um in der IT-Personalgewinnung nicht abgehängt zu werden?
Rechsteiner: Sie müssen sich schleunigst darauf einstellen, dass sich der Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt gewandelt und das traditionelle Machtverhältnis auf den Kopf gestellt hat. Künftig sind sie es, die sich um die IT-Fachkräfte zu bewerben haben - nicht umgekehrt. Statt "Post & Pray" - das heißt Stellen ausschreiben und abwarten - ist Active Sourcing angesagt, also die proaktive Recherche und Ansprache potenzieller Mitarbeiter über Social Media, Netzwerke, Messen und eigene Talent-Pools. Als besonders treffsicher hat sich Content Recruiting erwiesen, bei dem die Arbeitgeber keine Selbstdarstellung betreiben. Vielmehr machen sie mögliche Kandidaten mit Blogs, Videos und Experteninterviews über aktuelle IT-Themen auf sich aufmerksam. Ziel ist es, zu interessanten Bewerbern eine langfristige Beziehung aufzubauen, um sie bei Bedarf für neu entstehende Vakanzen zu gewinnen.
computerwoche.de: Welche Rolle spielt Employer Branding in diesem Prozess?
Rechsteiner: Der Aufbau einer unverwechselbaren Arbeitgebermarke ist enorm wichtig für ein erfolgreiches Recruiting. Daher müssen die Unternehmen zuerst herausfinden, welche Alleinstellungsmerkmale und Arbeitskultur sie zu bieten haben und diese glasklar nach außen kommunizieren. Denn mit Phrasen wie "gutes Betriebsklima" und "spannende Kundenprojekte" lässt sich heute kein IT-Kandidat mehr locken. Eine attraktive Arbeitgebermarke ist auch wichtig, um die Mitarbeiter für Influencer-Recruiting-Kampagnen zu gewinnen, bei denen sie als Markenbotschafter nach außen agieren. Arbeitgeber steigern damit ihre Glaubwürdigkeit, Authentizität und Reichweite. Denn auch die besten Argumente im Vorstellungsgespräch werden nie mit einer persönlichen Geschichte oder Empfehlung aus den Reihen der Belegschaft mithalten können.
computerwoche.de: Sie fordern ein - wie Sie es nennen - verändertes Recruiting Mindset. Was verstehen Sie darunter?
Rechsteiner: Geschäftsführungen und Fachabteilungen müssen bei der Personalgewinnung verstärkt zusammenarbeiten. So dürfen die HR-Manager ihren Job nicht länger als rein administrativen Prozess im Auftrag der Fachkollegen betrachten, sondern sollten als Vermittler zwischen diesen und den IT-Kandidaten wirken. Dazu müssen sie von den Fachabteilungen über die konkreten Stellenanforderungen sowie die Werte und Ziele der Teams informiert werden, in denen IT-Jobs zu besetzen sind. Die Fachbereiche wiederum müssen den HR-Managern schnelle Rückmeldungen auf eingegangene Bewerbungen geben und dafür sorgen, dass Vorstellungsgespräche auch kurzfristig stattfinden. Denn welcher heißbegehrte IT-Spezialist wird sich noch wochen-, wenn nicht monatelang hinhalten lassen, bis eine Personalentscheidung fällt?
Das Bewerbungsgespräch zum "The big Date" machen
computerwoche.de: "The big Date" lautet ein Tipp, den Sie den Unternehmen zur Verkürzung der Bewerbungsprozesse geben. Was steckt dahinter?
Rechsteiner: Allgemein geläufig ist dieser Begriff als der Tag, an den man seinen Lebenspartner kennengelernt hat. Ein Date genügte, um herauszufinden, ob man einen Volltreffer gelandet hatte, sprich: er/sie der/die Richtige war. Dies lässt sich auf das Recruiting übertragen. Denn auch bei einem Bewerbungsgespräch merken Kandidaten und Unternehmen sofort, ob es gefunkt hat. Daher sollten Arbeitgeber für dieses eine Treffen einen Standardablauf aufsetzen. Im ersten Schritt wird ein Kandidat jeweils eine Stunde lang von vier verschiedenen Gesprächspartnern interviewt - zunächst vom HR-Manager, dann vom Abteilungsleiter, künftigen Kollegen und Geschäftsführer. Bereits unmittelbar danach sollte gemeinsam eine Personalentscheidung getroffen werden. Sind alle mit dem Kandidaten zufrieden, kann auf Gespräche mit weiteren Bewerbern verzichtet werden. Innerhalb von zwölf Stunden sollte der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag erstellen und dafür sorgen, dass der Wunschkandidat diesen vorab per E-Mail und parallel dazu per Post erhält. Meine Erfahrungen zeigen, dass "The big Date" den Arbeitgebern hilft, ihre Abschlussquoten spürbar zu steigern, denn die Kandidaten fühlen sich durch diesen kurzen und ehrlichen Prozess wertgeschätzt.
computerwoche.de: Wie hilfreich ist der Einsatz von IT bei der Auswahl der richtigen IT-Bewerber?
Rechsteiner: Chatbots, künstliche Intelligenz und Algorithmen können wertvolle Dienste leisten, wenn es um die Entlastung der HR-Manager von zeitraubenden Routineaufgaben geht - zum Beispiel die Vorauswahl aus massenhaft eingehenden Bewerbungen. Trotzdem sollten Arbeitgeber nicht auf den direkten Kontakt mit den Kandidaten verzichten und persönlich darüber entscheiden, wer am Ende den Zuschlag bekommt. Denn gerade die umworbenen IT-Spezialisten legen Wert darauf, im Bewerbungsverfahren einen regelrechten VIP-Status zu erhalten.
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