Die gebürtige Amerikanerin Ann Miller-Rauch hat ein typisch deutsches Problem: sie hat ein Kind und arbeitet dennoch in Vollzeit, zudem als Führungskraft. "Manche meinen, ich sei deshalb eine schlechte Mutter." Neben Toleranz mangle es am Betreuungsangebot. "Ich möchte neben der Arbeit natürlich auch Zeit für meine Tochter haben." Deshalb kommt er ihr sehr gelegen, dass sie in einem international tätigen Unternehmen arbeitet. Meist ist sie von neun bis 16 Uhr in der Firma, dann holt sie die Kleine von der Kita ab. Wenn das Mädchen gegen 20 Uhr ins Bett geht, arbeitet die Mama zwei, drei Stunden von zu Hause aus weiter. Gestern Abend hatte sie eine Telefonkonferenz mit Kollegen in Brasilien. "Beruf und Familie funktioniert bei mir vor allem deshalb, weil ich meine Arbeit sehr flexibel einteilen kann." In der Vertrauensarbeitszeit zählt das Ergebnis, nicht die Anwesenheit.
Mitarbeiter trägt Zeit-Risiko
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Ann Miller-Rauch ist bei der Software AG in Darmstadt für die weltweite Personal- und Organisationsentwicklung zuständig. Das Software- und Beratungshaus beschäftigt rund 5500 Mitarbeiter, davon etwa 2000 in Deutschland. Von diesen haben etwa die Hälfte ein Gleitzeitkonto und dokumentieren ihre Arbeitszeit durch Aufschreiben. Diese Gruppe hat einen Anspruch darauf, Überstunden als Gleittage abzufeiern. Die andere Hälfte hat Vertrauensarbeitszeit, führt kein Gleitzeitkonto und hat auch keinen Anspruch auf Überstundenausgleich. Dieser ist mit einem meist höheren Gehalt abgegolten. Vertrauenszeitarbeiter müssen aufgrund einer Betriebsvereinbarung einen variablen Gehaltsbestandteil von mindestens zehn Prozent haben.
"Vertrauensarbeitszeit ist problematisch, weil Mitarbeitern ohne Zeiterfassung eine klare Dokumentation als Voraussetzung fürs eigene Zeit-Management fehlt", sagt Hilde Wagner, Ressortleiterin Tarifpolitik bei der IG Metall in Frankfurt am Main. Das Risiko Zeit bei einem Projekt würde auf die Mitarbeiter verlagert. "Die Gefahr, dass diese Beschäftigten lange arbeiten, ist hoch." Und wenn Zeit nicht erfasst wird, habe man keinen Beleg für einen Ausgleich.
Mehr Gehalt statt Freizeitausgleich
In der Software AG gibt es zwei Berufsgruppen, in denen sich Vertrauensarbeiter häufen: Beschäftigte in Vertrieb und Consulting, dort gibt es traditionell oft variable Gehaltsbestandteile. Und es sind Mitarbeiter mit Führungsaufgaben: je höher Beschäftige in der Hierarchie stehen, umso größer sind ihre variablen Gehaltsbestandteile. Beide Gruppen sind auch typisch für andere Unternehmen, oft sind es Akademiker, die unter dem Führen mit Zielen leiden, weiß Rainer Burckhardt, Betriebsratsvorsitzender der Software AG am Standort Darmstadt. "Sie meinen, Ziele erfüllen zu müssen. Leider prüft bei uns niemand so wirklich nach, wie viel Zeit für eine Aufgabe gebraucht wurde."
Typisch für andere Unternehmen ist auch, dass Vorgesetzte und Mitarbeiter Ziele vereinbaren. Mitarbeiter mit Vertrauensarbeitszeit werden mit Zielen geführt. Werden Aufgaben schneller erledigt, steigt durch den variablen Gehaltsbestandteil das Einkommen, weil mehr geleistet werden kann. In der Software AG beträgt die Arbeitszeit 40 Stunden pro Woche. Diese 40 Stunden sind die Grundlage für Zielvereinbarungen: was kann in dieser Zeit geleistet werden? Wer schneller ist, verdient mehr als langsamere Kollegen durch den variablen Gehaltsbestandteil. "Diese Aussicht treibt mich schon an, meinen Job zügig und gut zu machen", sagt Miller-Rauch.
Zeitlich knappe Zielvorgaben
Ob nun Zeiterfassung oder Vertrauensarbeitszeit: Arbeitsschutzgesetze gelten für alle Arbeitnehmer. "Mehr als zehn Stunden pro Tag darf nicht gearbeitet werden und Zeiten über acht Stunden müssen dokumentiert sein", sagt Frank Brenscheidt, Arbeitszeitexperte in der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund. Betriebsrat Burckhard meint, daran mangle es im Unternehmen, weil es sich darauf verlasse, dass die Mitarbeiter von sich aus die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes einhalten. Doch das wirkliche Problem der Zeitarbeit seien die vereinbarten Zielvorgaben mit manchmal zu knapp bemessener Zeit. Rainer Fritsch, zuständig für Vergütung in der Software AG, hält dagegen: "Vertrauensarbeitszeit setzt Vertrauen voraus. Wenn ein Mitarbeiter merkt, dass er seine Arbeit nicht schafft, erwarten wir, dass er mit seinem Vorgesetzten spricht und sie gemeinsam eine Lösung finden."
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Nach der Erfahrung des Arbeitszeitexperten Brenscheidt führt Vertrauensarbeitszeit zu Mehrarbeit. Die Situation von Miller-Rauch wertet er positiv: "Vertrauensarbeitszeit macht Vereinbarkeit von Familie und Beruf in vielen Fällen erst möglich." Nach seinen Angaben haben Unternehmen außer der Einhaltung der Arbeitsschutzgesetze weitere Sorgfaltspflichten gegenüber ihren Mitarbeitern. Dazu zählt die Auswahlpflicht. "Mitarbeiter dürfen für einen Aufgabe nur ausgewählt werden, wenn sie diese auch leisten können."
Laut einer Studie vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, IAB, in Nürnberg, gab es 2006 in etwa 15 Prozent aller deutschen Unternehmen Vertrauensarbeitszeit. Der Schwerpunkt lag im Wirtschaftsbereich der Dienstleistungen. Aktuellere Zahlen gibt es nicht, aber eine Prognose von Ines Zapf, Arbeitsmarktforscherin im IAB: "Weil das Dienstleistungsgewerbe wächst und das Qualifikationsniveau der Beschäftigten steigt, dürfte auch der Anteil der Unternehmen mit Vertrauensarbeitszeit zugenommen haben."
Ann Miller-Rauch hält viel von der Vertrauensarbeitszeit und sieht darin die Zukunft für die meisten, wenn nicht für alle Mitarbeiter der Software AG. "Ich möchte meinen Kollegen die Vorteile, die ich daraus ziehe, nicht vorenthalten." Betriebsratsmann Burckhardt hält ihre Idee für unnötig, "weil die bestehende flexiblen Arbeitszeiten ausreichend Spielraum bieten, um Privates und Betriebliches unter einen Hut zu bringen".
Viel Arbeit für umsonst
Durchschnittlich leistet jeder Beschäftigte monatlich 19 Überstunden, davon rund vier ohne Ausgleich durch den Arbeitgeber. Dies hat das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg für das Jahr 2009 in einer Studie ermittelt. Etwa die Hälfte der Überstunden wird in Freizeit abgegolten, jede zehnte Stunde wird ausbezahlt.
"Man arbeitet so lange, bis das Ziel erfüllt ist"
Vertrauensarbeit mag vernünftig sein, sie ist aber auch riskant, meint Rainer Burckhardt, Betriebsratsvorsitzender der Software AG in der Zentrale in Darmstadt. Selbstausbeutung und Ausbeutung durch Unternehmen seien eine Gefahr, wenn Arbeitszeit nicht vollständig erfasst wird. Gleitzeitregelung reicht den meisten, meint Burckhardt.
CW: Dass Gewerkschaften keine Freunde der Vertrauensarbeitszeit sind, ist bekannt. Bei der Software AG sind 800 der rund 2000 Mitarbeiter in Deutschland Vertrauenszeit-Arbeiter. Sehen Sie deren Situation kritisch?
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Rainer Burckhardt: Das Problem ist nicht die Vertrauensarbeitszeit, sondern das Führen mit Zielen ohne Kontrolle der für die Zielerfüllung aufgebrachten Arbeitszeit. Darunter leiden vor allem Akademiker und damit fast drei Viertel unserer Beschäftigten, die häufig als Einzelkämpfer unterwegs sind. Sie meinen, Ziele auf Teufel komm raus erfüllen zu müssen. Leider prüft bei uns niemand wirklich nach, wie viel Zeit dafür gebraucht wurde. Man arbeitet eben so lange, bis das Ziel erreicht ist. Wenn Arbeitszeit nicht vollständig dokumentiert ist, besteht die Gefahr der Selbstausbeutung.
CW: Öffnet so "Führen mit Zielen" dem Unternehmen Tür und Tor, um Mitarbeiter auszubeuten?
Burckhardt: Ja, weil das Unternehmen bei Vertrauensarbeitszeit die Arbeitszeiten nicht selber kontrolliert, sondern sich darauf verlässt, dass die Mitarbeiter von sich aus die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes einhalten. Kontrolle findet im Wesentlichen durch die Mitarbeiter selbst statt: sie dokumentieren ihre Arbeitszeit für Projekte, schreiben aber ihre Zeiten für Bürotätigkeiten oder Fortbildung nicht auf.
CW: Die Software AG würde gern die Vertrauensarbeitszeit für alle Mitarbeiter einführen, heißt es.
Burckhardt: Davon weiß ich nichts. Betriebsrat und Geschäftsführung haben eine Arbeitszeitregelung ausgehandelt und Flexibilisierung der Arbeitszeit vereinbart. Hat ein Mitarbeiter einen variablen Gehaltsanteil von zehn Prozent und mehr, dann arbeitet er automatisch unter Vertrauensarbeitszeitbedingungen. Jeder Mitarbeiter kann auch freiwillig in die Vertrauensarbeitszeit wechseln. Allerdings gibt es Jobs, die nur unter Vertrauensarbeitszeitbedingungen ausgeschrieben werden.
CW: Vertrauensarbeitszeit setzt Vertrauen voraus. Mangelt es daran im Unternehmen?
Burckhardt: Nein, das Problem sind eher die in Mitarbeitergesprächen vereinbarten Ziele. Die zeitlichen Vorgaben sind manchmal zu knapp. Hinzu kommt: Da bei uns mit Quartalszahlen gearbeitet wird, führt das in einigen Bereichen zu einer dünnen Personaldecke. Je geringer die Personalkosten, umso höher der Gewinn.
CW: Vor allem Mütter mit kleinen Kindern profitieren von der flexiblen Vertrauensarbeitszeit. Eigentlich müsste der Betriebsrat doch auf deren Seite sein und daher für Vertrauensarbeitszeit.
Burckhardt: Wir haben flexible Arbeitszeiten für alle Mitarbeiter in unserer Arbeitszeitregelung festgelegt. Das ist die Gleitzeit mit einer Bandbreite von sechs bis 22 Uhr an allen Werktagen. Mehrstunden können in Gleittagen oder -stunden abgefeiert werden und es gibt Lebensarbeitskonten für einen früheren Renteneintritt. Teilzeitbeschäftigte, die über ein Gleitzeitkonto verfügen, legen ihre Arbeitszeit in Absprache mit ihrer Führungskraft fest und können so ihre privaten mit den betrieblichen Belangen in Einklang bringen. Mehr Vertrauensarbeitszeit muss nicht sein.