CW: Digitalisierung ist in aller Munde. Können Sie für uns aus Sicht des Analysten einmal konkretisieren, was damit überhaupt gemeint ist?
Pascal Matzke: Wir haben bei Forrester natürlich eine Definition. Ehrlich gesagt kommt mit das Thema aber ein bisschen so vor wie Cloud Computing vor ein paar Jahren - ein Buzzword. Letztendlich steckt dahinter, dass Geschäftsprozesse, Kundenlösungen und Produkte viel stärker durch Daten-basierenden Detaileinsichten und neue Software betrieben und permanent verbessert werden können.
Sicher, wir haben auch früher schon Software benutzt, und Data Analytics ist ebenfalls nicht ganz neu. Entscheidend ist aber, dass es hier um einen ganzheitlichen Ansatz geht. Die klassische IT, etwa die ERP- oder Datenbank-Systeme - bei Forrester sprechen wir von den Systems of Records -, werden integriert mit den kundennahen und Business-relevanteren Systems of Engagement. So kann man dafür sorgen, dass sich Unternehmensprozesse sowie die eigenen Produkte und Lösungen permanent dem sich verändernden Kundenverhalten anpassen.
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Macht Amazon das nicht schon lange mit wachsender Präzision: immer neue Angebote rund um die Interessen der Kunden schnüren?
Pascal Matzke: Amazon nutzt Software, um auf Basis von Persönlichkeitsprofilen, historischen Daten und, darauf aufbauend, Predictive Analytics Angebote zu unterbreiten. Im B2C-Bereich ist das natürlich besonders einfach nachzuvollziehen.
Doch diese Entwicklung gibt es auch im B2B-Bereich. Rolls Royce zum Beispiel, einer der großen Hersteller von Flugzeugtriebwerke, ist dabei, sein Geschäftsmodell anzupassen. Die Produkte sind heute so vernetzt, dass Rolls Royce nicht mehr die Turbine, sondern Flugstunden mit der Turbine verkauft und dem Kunden so ein Gesamtpaket zur Verfügung stellen kann. Es richtet sich ganz nach dem Nutzungsverhalten des Kunden.
In dem Maße, wie eine Fluggesellschaft oder eine Leasing-Company nur noch für den Gebrauch der Flugzeugturbine zahlt, richtet sich das Geschäftsmodell nach der Nachfrage beziehungsweise dem Verhalten des Endkunden aus.
Digitalisierung bedeutet demnach die Verknüpfung von klassischer Software, den Daten und den kundennäheren Systems of Engagement in einem Produkt, einem Prozess oder einer Lösung, um zeitnah auf Veränderungen in Kundenverhalten und Geschäftsbedingungen reagieren zu können.
Viele haben eine digitale Strategie - aber nicht dir richtige
Unternehmen sind heute in der Regel noch klassisch aufgestellt - mit Geschäftsführung, den Fachabteilungen und der IT, die die Systemlandschaften betreut. Wie können sie sich aus diesem organisatorischen Korsett heraus auf die digitalisierte Welt einstellen? Dafür müssten sie doch in allen Abteilungen und auf allen Hierarchieebenen mit IT-Skills durchdrungen sein.
Pascal Matzke: Das ist der entscheidende Punkt. Gewachsene Unternehmenskultur, Skills und die etablierten Strukturen werden vor dem Hintergrund der entstandenen Dynamik zu Hindernissen, die es zu überwinden gilt. Es gibt eine schöne Statistik, wonach 85 Prozent der CIOs und auch der Bereichsleiter wissen: Die Digitalisierung wird maßgebliche Auswirkungen auf ihre Geschäftsmodelle haben. 75 Prozent behaupten, eine digitale Strategie zu haben. Aber nur 35 Prozent sind davon überzeugt, dass es auch die richtige Strategie ist. Es kommt ja tatsächlich darauf an, ob man eine Digitalisierungsstrategie konzernweit verfolgt oder ob IT, Marketing, Produktion etc. ihren eigenen Ansätzen nachgehen.
Rund ein Drittel der Entscheider haben auch gesagt: ‚Wir haben eigentlich gar nicht die richtigen Menschen dafür.‘ Sie bräuchten nämlich Mitarbeiter, die viel stärker interdisziplinär denken. Klassische Business-Silo-Funktionen wie IT, Marketing, Research & Development etc. können nicht isoliert arbeiten. Sie müssten mit ihren Business-Partnern in einem, wie wir es nennen, "Dynamic Ecosystem of Value", also einer Art Innovationsnetzwerk sowohl mit internen als auch externen Partnern zusammenarbeiten.
Da ist also ein kultureller Wandel notwendig, aber auch einer in den Qualifikationen. In den Business-Silos sitzen ja Menschen, die stark geprägt sind von dem, was sie immer machen: Von ihrer Ausbildung her bis hin zur Ausübung ihres Berufs. Ob sie ITler sind oder Techniker, Marketing-Leute oder was auch immer.
"Nur wenige CEOs packen das Thema beim Schopfe"
Mit anderen Worten: Digitalisierung ist Chefsache, ohne ein starkes Commitment aus dem Management geht nichts voran…
Pascal Matzke: Ja. Doch in den seltensten Fällen gibt es einen CEO oder Vorstand, der das Thema wirklich beim Schopfe packt und mit einem starken Mandat von oben umsetzt. Aber nur dann sehen wir echte Fortschritte. Ein positives Beispiel ist der Volkswagen-Konzern: Wir konnten alle beobachten, wie der Vorstandsvorsitzende Winterkorn auf der letzten CeBIT aufgetreten ist. Er hat ganz klar gesagt: Connected Car ist für ihn ein voll digitalisiertes Produkt, es steht im Zentrum seiner Strategie. Danach richtet sich alles aus. Und er als Vorstand hat der Group IT das Mandat erteilt, in dem entsprechenden Innovationsnetzwerk die zentrale Rolle zu spielen.
Die Group-IT von VW war auf der CeBIT mit einem großen Messestand gleich neben IBM platziert - nicht weil die dort Autos verkaufen wollten, sondern weil sie sich als Innovationsnetzwerker einklinken wollten in die Diskussion. Dass geht nur, wenn die Unterstützung des Vorstands da ist. Gibt es dieses starke Mandat, das die organisatorische und Skill-seitige Veränderung unterstützt, nicht, wird es schwer mit der Digitalisierung. Sie können das übrigens auch bei GE-Chef Immelt oder bei Siemens-Boss Kaeser sehen.
In den meisten Fällen agiert die IT aber als Serviceabteilung. Dann ist es schwer, dem Unternehmen nachträglich eine digitale DNA einzupflanzen. Haben da junge, mit digitalen Produkten groß gewordene Anbieter wie Google oder Amazon nicht einen gewaltigen Vorteil?
Pascal Matzke: Nicht unbedingt. Es gibt schöne Beispiele, in denen sich alteingesessene Unternehmen diesen DNA-Strang, wie Sie es nennen, selbst implementiert haben. Ich denke da etwa an Bosch mit seiner Bosch Software Innovations GmbH. Die haben eine Software-Company aufgebaut, von der die digitalen Innovationen für den Automotive- aber auch für andere Unternehmensbereiche ausgehen. Diese Softwaretochter ist heute einer der Weltmarktführer für Plattformen rund um das Thema Integration im Bereich Internet der Dinge - von uns ähnlich gut bewertet wie IBM. Man hat also ein internes Inkubationszentrum geschaffen, zugrunde lag übrigens die Akquisition einer IT-Company.
Digital-Native-Unternehmen wie Google haben natürlich einen gewissen Vorteil, aber sie decken nicht die gesamte Wertschöpfungskette ab. Sie sind stark in der reinen Digitalisierungskomponente, aber um ein modernes Auto zu bauen, braucht es mehr - neue Werkstoffe im Leichtbau, um ein Beispiel zu nennen. Man muss beides unter einen Hut bringen, um ein Endprodukt herzustellen, das den künftigen Marktanforderungen genügt.
Jede Zahnbürste von Philips kriegt eine IP-Adresse
Lassen Sie uns über die IT-Abteilungen reden. Welche Rolle können sie im Digitalisierungsprozess spielen?
Pascal Matzke: Es gibt sehr positive Beispiele, wir haben ja schon über VW gesprochen. Es ist schon erstaunlich, dass sich hier die Group-IT als Zentrale im Innovationsnetzwerk positioniert. Ein anderes Beispiel ist Philips, wo der CIO quasi zum wesentlichen Change Agent bestimmt wurde. Connected Technology ist dort das Thema: Jede Zahnbürste, jede Leuchtstoffröhre von Philips erhält eine IP-Adresse, um dann darauf neue Geschäftsmodelle aufzubauen. Der CIO ist inzwischen CEO der Philips Healthcare Software Division. Das ist eine ähnliche Software-Unit mit zentraler Aufgabe wie bei Bosch
Ein anderes Beispiel ist Adidas, wo man zwischen IT und Marketing gemeinsame Reporting-Strukturen entwickelt hat, um die Digitalisierung der Produkte stärker voranzutreiben. Das fing ursprünglich mal mit Social-Media-Marketing an und ist inzwischen so weit, dass die Connected Wearables, also T-Shirts, Laufschuhe etc., gemeinsam entwickelt und gemanagt werden.
Die Unternehmen sind also aufgewacht…
Pascal Matzke: …ganz so ist es nicht. Wenn wir uns den deutschen Mittelstand anschauen, müssen wir doch feststellen, dass 80 Prozent der IT-Organisationen wahrscheinlich nicht der Innovationspartner für das Business sein können. Das liegt auch daran, dass sie in der Vergangenheit mit ganz anderen Themen zu tun hatten und der Fokus stark auf Konsolidierung und Kostensenkung gelegt wurde. Diesen IT-Shops wird oftmals auch einfach nicht zugetraut, Innovationsbeiträge zu liefern.
"Wir sollten uns vom Begriff IT verabschieden"
Ist die Folge daraus, dass sich Fachbereiche wie Marketing, Produktion oder Forschung und Entwicklung ihre eigene innovative und kundennahe IT aufbauen?
Pascal Matzke: Ich würde in dem Kontext dafür werben, dass wir uns von dem Begriff IT verabschieden. Im Zuge der Digitalisierung kommen neue Technologien auf, die mit den klassischen Systems of Records, den Kernsystemen also, nichts zu tun haben. Das ist nicht nur für das Business, sondern auch für die IT Neuland. Da ist es gar nicht der natürliche Weg zu sagen: `Die IT macht das jetzt‘. Wenn wir über Industrie 4.0 und die Digitalisierung von Produktionsstraßen sprechen, dann würde es den Unternehmen kaum einfallen, die IT zum wesentlichen Partner zu machen. Das ist ein Thema für den Leiter der Produktionsstraße. Die Prozesse, die hier vorangetrieben werden sollen, liegen in seiner Verantwortung.
Eine Digitalisierung wird sich vor allem danach ausrichten, was das geschäftliche Ziel ist - sowohl den Geschäftsbereich als auch das gesamte Unternehmen betreffend. Der Bereichsleiter muss am Ende dafür gerade stehen, was mit dem Einsatz dieser Technologie erreicht wird. IT-Abteilungen, die daran gemessen werden, was sie einsparen und wie stark sie rationalisieren, sind eben nicht der natürliche Ansprechpartner, wenn es um Digitalisierungsthemen geht. Dafür sind dann Vertrieb, Marketing, Produktentwicklung oder welche Abteilung auch immer verantwortlich.
Das heißt aber nicht, dass das Kerngeschäft der klassischen IT kleiner wird. Im Gegenteil. Mit dem Digitalisierungsgrad des Unternehmens nehmen die Integrationsaufgaben zu. Die IT wird also gut zu tun bekommen, auch wenn sie nicht die Speerspitze im Innovationsprozess ist.
"Entscheidend ist der Big-Data-Trend"
Was sind die technologischen Treiber der Digitalisierung. Sind es die vielzitierten SMAC-Techniken Social Media, Mobile, Analytics und Cloud?
Pascal Matzke: Entscheidend ist am Ende wahrscheinlich das Big-Data- beziehungsweise Analytics-Thema. Hier geht es nicht so sehr um das Einsammeln von Daten, sondern um deren Analyse im Kontext eines konkreten Geschäftsziels. Ein Beispiel: Wenn Rexroth seine Paketierungsmaschinen für Joghurt in der Vergangenheit regelmäßig nach bestimmten Wartungszyklen auf Vordermann gebracht hat, können sie das heute entsprechend der Auslastung tun - sogar orientiert am Nachfrageverhalten der Konsumenten, das sich beispielsweise über Social-Media-Analyse ermitteln lässt. Fügt man diese Daten mit Maschinendaten zusammen, lässt sich das optimale Maintenance-Window ermitteln.
Das ist Industrie 4.0, nicht nur im Kontext von Smart Manufacturing, sondern auch im Sinne einer Anlehnung von Industrieprozessen an Endkunden-Dynamiken. Die größte Wertschöpfung kommt aus der Analyse strukturierter und unstrukturierter Daten. Das wird auch für die Skills wesentlich sein: Experten in der Datenanalyse zu bekommen, die sowohl die Business- als auch die technische Seite verstehen. Und die in der Kombination von beidem in der Lage sind, neue Prozesse und Produkte zu gestalten.
Wo stehen wir in der Big-Data-Entwicklung?
Pascal Matzke: Noch ganz am Anfang. Ich sehe das in unseren Abfragen und den Kundenkonsultationen. Hier ist noch ein weiter Weg zu gehen.