Was Kinder im Computerzeitalter brauchen

12.11.2004 von Christian Nürnberger
Ohne menschliche Wärme und die Chance, ihre intellektuellen und sozialen Fähigkeiten zu entwickeln, werden es Kinder in einer IT-geprägten Welt schwer haben.

Was brauchen Kinder im Computerzeitalter? Einen Computer natürlich, oder? Habe ich vor sieben Jahren auch gedacht und meinen Vierjährigen vor den Computer gesetzt. Als er in die Schule kam, konnte er, dank des Computers, schon lesen, sah aber nicht ein, dass er Schreiben lernen sollte, wo er doch schon tippen konnte. Auch Malen wollte er nicht mehr, weil’s mit dem Computer leichter ging.

Da nahm ich ihm den Computer wieder weg.

Wenn ich heute die Handschrift und die Schulhefte meines Elfjährigen mit der Handschrift und den Schulheften vergleiche, die ich als Elfjähriger hatte, muss ich sagen: Meine Handschrift war besser entwickelt, die Heftführung ordentlicher, weniger Rechtschreibfehler hatte ich auch, und dabei gehörte ich eher zu den "unordentlicheren" Schülern. Heute frage ich mich: Haben reparaturanfällige Autos, schlampig programmierte Software, Handwerkerpfusch und mangelhafte Dienstleistungen etwas damit zu tun, dass wir - seit ungefähr 1968 - es unseren Kindern zu leicht machen, dass wir sie nicht mehr dazu anhalten, sich Mühe zu geben, sorgfältig und genau zu arbeiten?

Es war ja gut, dass die 68er-Bewegung mit der Rohrstockpädagogik, dem militärischen Drill, dem autoritären Gehabe alter Nazis aufräumte. Es war gut, dass die Schulen aufhörten, gehorsame Untertanen heranzuzüchten, und stattdessen versuchten, Kinder zu mündigen Bürgern und zu selbstbewussten, kreativen Menschen zu erziehen. Aber fast 40 Jahre nach 1968 wäre es an der Zeit, sich der alten Einsicht wieder zu öffnen, dass es ganz ohne die uncoolen Sekundärtugenden halt auch nicht geht. Kreativität ist gewiss ein wertvolles Erziehungsziel, aber wenn Johann Sebastian Bach schlampig komponiert oder Picasso ungenau gemalt hätte, wären sie nie die Genies geworden, als die wir sie heute verehren.

Und von jenen, die’s nicht zum Genie gebracht haben, wünschen wir uns, dass sie wenigstens bestrebt sind, eine ordentliche Arbeit abzuliefern. Besonders bei Brummifahrern, Lokführern, Piloten, Polizisten, Soldaten und dem in Chemiefabriken und Atomkraftwerken arbeitenden Personal hätten wir ganz gern, dass diese Leute sorgfältig zu Werke gehen. Und wer mit dem Computer arbeitet, ist dankbar für jedes Programm, das nicht täglich, sondern nur vierteljährlich abstürzt.

Foto: Argum

Lehrreiche PC-Abstürze

Aus diesem Grunde, allein um die Erfahrung zu machen, was man fühlt, wenn die Arbeit mehrerer Stunden, Tage oder Wochen wegen einer gecrashten Festplatte im elektronischen Nirwana verschwindet, bin ich doch für den Einsatz von Computern im Unterricht. Wer diese Erfahrung kennt und bei seiner täglichen Arbeit mit dem PC immer wieder aufs Neue erlebt, dass nie etwas auf Anhieb klappt, der wird die Möglichkeiten und Grenzen der Technik besser einschätzen können als jemand, dem diese Erfahrung fehlt.

Eine Gesellschaft, die sich so von der Informationstechnologie abhängig macht wie die unsere, ist darauf angewiesen, dass jedes ihrer Mitglieder über ein Mindestmaß an Computerwissen und Medienkompetenz verfügt. Aber über Medienkompetenz verfügt nicht, wer im Internet eine Bestellung beim Otto-Versand aufgeben kann.

Über Computerkompetenz verfügt nicht, wer sich durchs Meer der Websites klicken kann. Und wer täglich stundenlang am Computer daddelt, ist das Gegenteil von medienkompetent. Über Medienkompetenz kann nur verfügen, wer grundsätzlich zu allem eine kritische Haltung einnimmt, auch zum Computer und zur Informationstechnologie. Selbstverständlich setzt so eine kritische Haltung ein Mindestmaß an Kenntnissen voraus, denn was ich nicht kenne, kann ich auch nicht kritisch beurteilen. Und darum gehört der Computer in den Unterricht. Aber nicht vom ersten Schuljahr an. Frühestens Elfjährige sollte man an den Computer heranführen. Es macht auch nichts, wenn es noch später geschieht, denn bis zum 14. Lebensjahr brauchen Kinder etwas ganz anderes als den Computer.

 Von der Geburt bis zum 14. Lebensjahr und darüber hinaus brauchen Kinder auch im Informationszeitalter das, was Kinder schon immer gebraucht haben und immer brauchen werden: ein warmes Nest, in dem sie sich geborgen fühlen, mindestens einen Menschen, der sie bedingungslos liebt und annimmt, der ihnen Geschichten erzählt, ihnen vorliest, ihre natürliche Neugier befriedigt, ihre tausend Fragen beantwortet, ihre Neugier immer wieder neu weckt und nährt. Kinder, die so einen Menschen haben, erwerben die vier für die Informationsgesellschaft wichtigsten Schlüsselqualifikationen wie von selbst: Sprachkompetenz, emotionale Intelligenz, soziale Intelligenz und ein Weltwissen, das so etwas wie Computer- und Medienkompetenz mit einschließt, aber noch viel mehr umfasst.

Sprache als Schlüssel zur Welt

Von diesen Vieren ist die Sprache die wichtigste, denn aus ihr entwickelt sich alles Weitere. Die Grenze meiner Sprache ist die Grenze meiner Welt. Je größer mein aktiver und passiver Wortschatz, je nuancierter mein Sprachvermögen, je differenzierter und komplexer meine Begrifflichkeit, desto besser verstehe ich diese komplizierte Welt, desto besser finde ich mich in ihr zurecht, desto besser kann ich mich mitteilen, desto kritischer kann ich ihr widerstehen, desto besser kann ich diese Welt gestalten.

Aus dieser Tatsache beziehen Kinderreime, Abzählverse, Lieder, Schüttelreime und Sprachspiele ihren tiefen Sinn. Deshalb ist es wichtig, Gedichte auswendig zu lernen. Deshalb ist es geradezu lebenswichtig, seinen Kindern abends am Bett vorzulesen, ihnen Geschichten zu erzählen. Hier, bei den Gute-Nacht-Geschichten, bei denen sich das Kind in die Geschichten anderer Menschen einfühlt, entsteht so etwas wie Empathie, woraus sich später die emotionale und soziale Intelligenz entwickelt.

Lust am Lesen fördern

Zuvörderst aber wird hier das kindliche Gehirn für den Spracherwerb trainiert. Das Kind muss sich das Gehörte vorstellen, muss sich an Gehörtes erinnern, will raten, wie es weitergeht, muss selber den roten Faden einer Geschichte herstellen - und wird so auf das spätere Lesen vorbereitet. Und erst durchs Lesen eignen wir uns die Welt an.

Zwischen dem sechsten und dem 14. Lebensjahr entscheidet sich, ob aus einem Kind ein Leser wird. Wenn während dieser Zeit versäumt wird, dem Kind die Lust am Lesen zu vermitteln, wird es diese Lust mit hoher Wahrscheinlichkeit nie mehr bekommen. Die geschriebene und gesprochene Sprache ist nicht das einzige Ausdrucksmittel, das uns Menschen zur Verfügung steht. Auch Singen, Tanzen, Musizieren, Malen, Theaterspielen, Formen und Gestalten sind menschliche Sprachen, die in der Schule gelehrt werden sollten, aber zu wenig gelehrt werden. Der Unterricht ist viel zu "verkopft".

In Bad Homburg gibt es eine Schule, an der die Kinder jeden Tag eine Stunde Sport haben. Und zwar zu Lasten der kognitiven Fächer. Dennoch sind die Schüler dieser Schule in den kognitiven Fächern im Durchschnitt besser als die Schüler, die mehr kognitiven Unterricht haben und weniger Sport. Und nicht nur das: An dieser Schule in Bad Homburg gibt es signifikant weniger Pöbeleien, Aggressionen und Unfälle. Ist ja auch logisch. Der Sport durchlüftet das Gehirn und fördert die Konzentration, also lernt man besser, leichter und ausdauernder. Beim Sport kann man Dampf ablassen, und das macht friedlicher. Der Sport baut Muskeln auf, und wenn man fällt, hat man genug Kraft, um sich abzufedern und geschickt zu fallen. Die anderen, die das nicht haben, brechen sich den Arm.

Kinder ziehen viel Selbstbewusstsein aus sportlichen und körperlichen Leistungen, Geschicklichkeit und Kraft. Darum macht der Sport die Kinder nicht nur körperlich, sondern auch seelisch und geistig stark. Das wussten schon die alten Griechen, nur: Wir wenden das längst Gewusste nicht an. Wir sehen tatenlos zu, wenn unsere Kinder vom Fernseher zum Computer, vom Computer zur Videospielkonsole und von dieser wieder zum Fernseher wandern, dabei kaum reden und Unmengen von Cola, Chips, Pizza und Pommes konsumieren. Unsere Kinder verstummen und verfetten vor den Monitoren, und unsere Kultusminister sparen beim Sportunterricht, bei Turnhallen und Sportplätzen. Wie mit dem Sport ist es auch mit der Musik. Kinder, die mehr Musikunterricht haben, wiederum zu Lasten der kognitiven Fächer, bringen in den kognitiven Fächern bessere Leistungen als jene, die mehr kognitiven Unterricht haben. Auch das überrascht nicht.

Musik trainiert das Gehirn

Beim Musizieren werden Gehörsinn, Motorik, Körperwahrnehmung und Hirnzentren, die Emotionen verarbeiten, gleichzeitig beansprucht. Dieses Dauertraining verändert das Gehirn so, dass es insgesamt leistungsfähiger wird. Im Orchester ist man aufeinander angewiesen, muss man aufeinander hören, das fördert den Zusammenhalt. Daher gibt es in Musik-Klassen weniger ausgegrenzte Schüler. Schulvandalismus und Aggressionen gehen zurück.

Musik-Kinder schneiden bei Intelligenztests stets etwas besser ab als die Nichtmusiker. Besonders gut entwickeln sich Ausdauer, die Fähigkeit zum abstrakten Denken, Leistungsbereitschaft und Konzentration, auch und gerade bei Kindern aus sozial schwachen Familien. Was also brauchen die Kinder der Informationsgesellschaft? In erster Linie Menschen. Menschen, die sie lieben. Menschen, die ihnen Geschichten erzählen. Menschen, die mit ihnen malen, musizieren, Theater spielen, Sport treiben. Menschen, die Zeit haben.