Agile Formen der Kollaboration in Teams und erste Konzepte zu Kooperationsstrukturen ganzer Organisationen setzen sich aktuell weltweit durch. Dabei gibt es kein allgemeines Verständnis darüber, was "agil sein" eigentlich genau ist. Deshalb überrascht es, dass bereits jetzt die Diskussion darüber entflammt, was auf die Agilität folgt. Das erweckt den Anschein, als sei das Thema ein langweiliger Gemeinplatz und so überholt wie die Zeitung von gestern.
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Ist das der Zeitgeist oder Kammerflimmern? Hier also ein Versuch, diese Frage durch ein Abrücken von der Grundlage der Agilität sowie einen Perspektivwechsel zu beantworten.
Grundlage: Methoden für agile Kollaboration
Die ersten Ideen und Ansätze agiler Zusammenarbeit von Menschen in Unternehmen haben sich zu einem Trend verstetigt. Seitdem drehen sich die Überlegungen überwiegend um die Begrifflichkeit der Methode und entwickelte sich eine enorme Methodenvielfalt. Sie soll es zusammenarbeitenden Menschen erleichtern, mit den Wirkmechanismen einer komplexen Umwelt zurechtzukommen. Zum Beispiel entstand Design Thinking, um kreative Collaboration-Prozesse zu fördern. Scrum wiederum hat die Funktion, Software entlang sich verändernder oder sich erst schrittweise ergebender Anforderungen zu entwickeln. Und Werkzeuge wie die Customer Journey Map oder Kanban wurden in immer neuen Kontexten eingesetzt, um sich verändernden Markteinflüssen und Kundenbedürfnissen anzupassen. Sie alle werden erfolgreich genutzt und in ihrer Wirkung gefeiert.
Die Methodensammlungen wurden im Lauf der Zeit immer anspruchsvoller und ausgefeilter. Die Methoden sollen das in einer digitalen Welt unwirksame, sequenzielle Denkmodell des Taylorismus ersetzen. Marktdynamik und Komplexität der Umwelt sollen so beherrschbar werden.
Sieht man sich sogenannte Frameworks wie LeSS oder SAFe an, wird man den Eindruck nicht los, dass Prozessketten gegen Methodenketten ausgetauscht wurden. Aber nach wie vor ist ein vorgegebenes Gerüst sequenzieller Strukturen zu befolgen. Es stellen sich also die Fragen:
• Wurde letztlich doch nur wieder mehr vom Gleichen geschaffen?
• Führen die Erfindung und Nutzung von Methoden wirklich zu agiler Kollaboration, die Kreativität und Talente fördern?
• Werden Menschen in Unternehmen so wirklich dazu angespornt, ihre Fähigkeiten besser zu nutzen und zu fördern?
Zustand: Macht der Gewohnheit
Beobachtet man Menschen in Organisationen, wie sie sich mit der Anwendung von Methoden für agile Zusammenarbeit auseinandersetzen, ist Folgendes häufig feststellbar:
• Die angewendeten Denkmodelle und Vorgehensweisen bauen auf der Sozialisierung der handelnden Personen und den etablierten Verhaltensweisen auf.
Wird beispielsweise eine Methode für agiles Projektvorgehen eingeführt, ist oft folgendes Phänomen erkennbar: Obwohl die Selbstorganisation von Mitarbeitern in Teams betont werden soll, verbleibt die Entscheidungsautorität oft in der tayloristisch geprägten Führungshierarchie. Der Widerspruch zwischen Absicht und Realität ist bei dieser Konfiguration sichtbar. Wenn neuartige Kollaborationskonzepte verwendet werden, ohne auch die dafür notwendigen und ebenfalls neuartigen Denk-, Verhaltens- und Kommunikationsmodelle zu verwenden, füllen vertraute Gewohnheiten unbemerkt entstehende Lücken.
Bei diesem Vorgehen ist zwar augenfällig, dass sich eine (positive) Veränderung in der Kollaborationsqualität der Mitglieder dieser Teams eingestellt hat. Wird auch die notwendige Veränderung erreicht? Welcher Zielzustand soll eigentlich geschaffen werden? Woran erkennt man, dass nicht unter einem agilen Denkmantel die alten Vorgehensmuster und Gewohnheiten versteckt sind?
Irrweg: die bessere Methode
Der Wechsel zwischen Methodenhype und Methodenkater ernährt weltweit Heerscharen von Beratern, Coaches und Trainern, die den Durst nach immer neuen Konzepten lukrativ stillen. Beispielsweise versucht man, für agile Softwareentwicklung aus den Erfolgen der Methode Scrum eine Lehre zu ziehen. Sie ist Vorbild für eine erweiterte Managementmethode in agilen Organisationen. Dass aber der Kontext und die Notwendigkeiten der Softwareentwicklung ganz andere sind als die eines auf Profite ausgerichteten Unternehmens, wird dabei übersehen. Auch die Erfinder von Scrum werden ignoriert: Sie erklären, dass diese Methode ausschließlich für den spezifischen Anwendungsfall agiler Softwareentwicklung erdacht worden ist.
Das Bestreben, durch immer neue Methoden und neue Geschmacksrichtungen existierender Methoden das Patentrezept für die beste Methode zu entwickeln, ist sehr groß. Aber ist immer mehr vom Gleichen die Lösung? Müssen wir uns nur noch mehr anstrengen, dann wird das schon? Auch das erscheint eine überwiegende Gewohnheit zu sein, statt etwas Neues zu ersinnen, das mehr Leichtigkeit als Anstrengung ermöglicht.
Lösung: Jazz
Wer das Glück hat, ein wirklich agiles Team bei seiner Arbeit zu beobachten oder sogar selbst Mitglied eines solchen zu sein, wird auf Leichtigkeit stoßen. In hochgradig leistungsfähigen und anpassungsfähigen Teams, also genau jenen, die mit dem Begriff agil assoziiert oder geschmückt werden, stellt man unter anderen folgende Phänomene fest:
• Jedes Mitglied im Team respektiert und schätzt jedes andere Mitglied für seine Fähigkeiten, Talente, Erfahrungen und Kompetenzen.
• Jeder Teilnehmer stellt sein Wissen und seine Fähigkeiten uneingeschränkt zur Verfügung und gibt diese an andere Mitglieder weiter.
• Konstruktive Kritik und aktives Feedback werden als Grundlage einer guten Kollaboration geschätzt und genutzt.
• Die fachliche Kompetenz eines Teammitglieds ist untrennbar mit seiner Entscheidungsautorität verbunden.
• Alle Personen im Team behandeln einander wie erwachsene Individuen und schätzen jedwede Individualität.
Wann immer ich auf derartige Teams stoße, stelle ich fest, dass Methoden lediglich notwendige Werkzeuge sind, die einen Zweck erfüllen: Sie sollen das Erreichen der vereinbarten Zielsetzung unterstützen. Methoden sind also lediglich Mittel zum Zweck.
Beobachte ich derartige Teams, erinnert mich das frappierend an die Musiker eines Jazzensembles. Jedes Mitglied des Ensembles beherrscht mindestens ein Instrument und leistet mit seinen musikalischen Fähigkeiten und Talenten einen individuellen Beitrag, der die Komposition lediglich als Grundstruktur und Orientierungshilfe nutzt. Die gemeinsame Musik entsteht jedoch nicht alleine durch das Festhalten und Wiederholen der vorgegebenen Noten. Die individuelle Interpretation und das Einbringen von Soli verleihen der Kollaboration der Musiker erst ihre Virtuosität und Leichtigkeit.
Zum Video: Was kommt nach der Agilität?
Jeder Musiker ist mit der Materie vertraut, beherrscht die Regeln und Strukturen der Musik und vor allem sein Instrument. Keiner im Ensemble besteht aber dabei auf seinen eigenen Vorstellungen, wie eine Komposition zu spielen ist, sondern bringt sich und seine Ideen ein, respektiert die der Mitspieler, lässt sie gewähren, folgt ihnen und unterstützt sie, damit letztlich ein gemeinsames Stück Kunst entstehen kann. Sie befinden sich in einem kollektiven Flow und wissen im Vorfeld nicht, wie exakt das Endergebnis aussehen wird. Das Ergebnis ist der Virtuosität des Zusammenspiels überlassen.
Diese Kollaboration und das Selbstverständnis von Jazz-Musikern stellen einen grundlegenden, aber wertfreien Unterschied zur Kooperation eines Orchesters dar. Auch Orchestermusiker sind Virtuosen ihres Fachs. Auch sie verstehen die Regeln der Musik, auch sie gehen aufeinander ein und unterstützen einander, um gemeinsam ein Kunstwerk zu schaffen. Aber die Dynamik, der sie folgen, unterliegt strengen Strukturen. Interpretation und Individualität werden auf das beschränkt, was Komponist und Dirigent vorgeben oder zulassen.
Beide Teams von Musikern sind, wie gesagt, virtuos. Für mich symbolisieren diese beiden Arten von Musikschaffenden den Unterschied zwischen tayloristischer Hierarchie und agiler Kollaboration. Beide Musikformen und Vorgehensmodelle haben ihre Berechtigung und repräsentieren einen bestimmten Abschnitt in der Evolution der Musik. Keine ist besser als die andere, unter ihnen besteht keine Rivalität. Aber Kontext und Charakter könnten unterschiedlicher nicht sein, obwohl letztlich musikalische Kunstwerke produziert werden.
Fazit
Anstelle der Suche nach der nächsten besten Methode oder nach dem, was nach "agil" kommt, stellt sich für mich die Frage: Wie schaffen wir wirtschaftlich überlebensfähige und anpassungsfähige Unternehmen, indem wir die Virtuosität der darin engagierten Menschen entwickeln? Wie kommen wir dahin, dass agile Teams in Organisationen zu Jazzensembles werden, in denen sich die Mitglieder gegenseitig respektieren, akzeptieren, tolerieren und unterstützen? Wie überzeugen wir diese Menschen davon, dass nur durch eine offene und wertschätzende Kommunikation und Kollaboration und Leichtigkeit etwas wirklich Großes entstehen kann? Nur so kann etwas wachsen, das viel größer ist, als es je mit Hilfe einer Methode möglich sein wird.