Wenn die IT den Turbo zündet

29.09.2005 von Karin Quack
Die IT des Funknetzanbieters O2 kann neue Geschäftsmodelle in sechs Wochen umsetzen. Der Markt will eine Flatrate fürs Handy? Falls das betriebswirtschaftlich einen Sinn ergibt, dann muss es möglichst schnell umgesetzt werden - bevor die Mitbewerber damit reüssieren. Die IT-Experten von O2 haben also nicht monatelang Zeit, ein neues Geschäftsmodell zu implementieren. Manchmal bleiben ihnen nur Wochen.

Wenn sich ein Handy-Besitzer für einen Serviceanbieter entscheidet, ist das Hauptkriterium in den meisten Fällen der Preis. Der sprichwörtliche "letzte Schrei" ist derzeit die Flatrate. E-Plus ist mit "Base" vorgeprescht, aber knapp zwei Wochen später war auch O2 am Markt - mit einer Pauschalgebühr für alle, die viel von zu Hause telefonieren. Die Flatrate für die "Homezone" der "Genion"-Tarife war innerhalb von sechs Wochen in Software gegossen. "Vor zwei Jahren hätten wir das nicht unter sechs Monaten geschafft", erinnert sich Alex Röder, Geschäftsführer Information Systems (IS) und CIO der O2-Gruppe. Der promovierte Ingenieur und Honorarprofessor an der Universität Stuttgart kam vor vier Jahren von T-Systems an Bord - angesichts des schnelllebigen Handy-Markts vor einer halben Ewigkeit.

Strategie, Architektur und Prozesse

Wie hat es Röder geschafft, die Time-to- Market des Funknetzanbieters derart zu beschleunigen? Der CIO selbst führt den Erfolg vor allem auf drei Faktoren zurück: eine klar definierte IT-Strategie, eine weitgehend standardisierte Architektur und schlanke Prozesse.

Unter dem Namen Applicable Target Architecture Initiative (Atari) hat O2 im September 2003 ein Programm zur Standardisierung der IT-Architektur aufgesetzt. Es soll den Wildwuchs ordnen, der in den Anfangsjahren des Handy-Booms entstanden war. Damals, als O2 noch unter dem Namen Viag Interkom firmierte, verfügte das Unternehmen über relativ große Finanzmittel. Wie Röder erläutert, standen bei neuen Projekten weniger die Investitionskosten, als die Reaktionsgeschwindigkeit im Vordergrund: "Vor allem musste es schnell gehen, erst an zweiter Stelle wurde auf die Kosten geschaut." Soll bei der Implementierung nicht lange gefackelt werden, bekommt jedes System eine eigene Umgebung. So war es auch hier. "Auf diese Weise hat man eine sehr heterogene Umgebung zusammengetragen", bestätigt der CIO.

Eine uneinheitliche Umgebung und die daraus folgende Komplexität verlangsamen naturgemäß die Implementierung neuer Produktentwicklungen. Im Umkehrschluss kann eine standardisierte Umgebung die Time-to-Market verkürzen. "Wie viele Systeme muss ich anfassen?" So lautet die Frage, die sich Röders Mitarbeiter bei jeder Entwicklung stellen. Das Atari-Programm sollte dafür sorgen, dass es möglichst wenige sind. Von der Formulierung der Zielarchitektur (Januar bis Juni 2004) bis zur vollständigen Implementierung (Dezember desselben Jahres) beanspruchte dieses Unterfangen etwa ein Jahr.

Best Practices

• Standardisierung der Architektur beschneidet Wildwuchs;

• Prozess-SLAs beziehen die Gesamtabläufe ein;

• Produkt-Manager können eigene Tarife generieren;

• Generische Tarife verringern den Entwicklungsaufwand.

Schnelligkeit und Verfügbarkeit entscheiden

Geschwindigkeit ist Trumpf im wettbewerbsintensiven Mobilfunkmarkt. Beispielsweise hat sich O2 zum Ziel gesetzt, den Kunden, die in einem der unternehmenseigenen Shops einen Vertrag abschließen, innerhalb von 60 Minuten das Telefonieren zu ermöglichen - zumindest in den etwa 85 Prozent aller Fälle, in denen keine Schwierigkeiten auftauchen. In einer Stunde müssen also unter anderem die Netzabdeckung am Wohnort des Kunden auf ihre "Homezone"-Fähigkeit gecheckt, dessen Kreditwürdigkeit durch eine Anfrage bei der Schufa bestätigt, die Rufnummer freigeschaltet, die Schnittstelle zum elektronischen Billing-System initiiert und die Kundendaten im CRM-System angelegt werden. Insgesamt sind in die Aktivierung eines Vertrags mehr als 30 verschiedene Systeme involviert.

Der IS-Bereich trägt ein Gutteil der Verantwortung für die Zufriedenheit des Endkunden - indem er die Verfügbarkeit der IT-gestützten Prozesse sicherstellt. Das ist folglich der Maßstab, nach dem die internen Kunden aus den Fachbereichen die IS beurteilen. "Die Leistung der IT wird an der Service-Verfügbarkeit gemessen", konstatiert Röder. Wie schwierig es ist, eine ausreichende Gesamt-Performance zu erzielen, belegt der CIO an einem Rechenexempel: Verringert sich die Verfügbarkeit der oben erwähnten 30 Einzelsysteme nur von 99,9 auf 99,5 Prozent, also um 0,4 Prozentpunkte, so sinkt die Leistung des Gesamtsystems von 97 auf 86 Prozent.

Die Fachabteilungen sehen nur das Endergebnis. Deshalb werden mit ihnen "Prozess-SLAs" vereinbart, also Service-Level-Agreements, die sich nicht auf die Verfügbarkeit einzelner Komponenten, sondern auf die Geschwindigkeit und Ausfallsicherheit der gesamten Prozessketten beziehen.

Um das Zusammenspiel der Schnittstellen und das Erfüllen der SLAs kümmert sich ein fünfköpfiges Team von "technischen Account-Managern". Sie stehen gegenüber ihren Vertragspartnern auf der Business-Seite in der Pflicht. "Wenn es keinen anderen Partner gibt, also bei Corporate Services wie dem E-Mail-System, bin ich der Kunde", ergänzt Röder. Monatlich überprüft er, ob seine Mitarbeiter die Vertragsbedingungen erfüllen, und das Ergebnis dieser Prüfung wirkt sich unmittelbar auf deren Gehalts-Boni aus.

Seine Aufgabe sieht der CIO aber nicht nur in der Unterstützung, sondern auch in der Gestaltung des Geschäfts - mit den notwendigen hierarchischen Konsequenzen. "Aus meiner Sicht ist es eine absolute Notwendigkeit, dass der CIO zur Geschäftsleitung gehört", sagt er. Nur in dieser Position könne er an allen Sitzungen teilnehmen und die Produktstrategie mit entwickeln, die sich dann in der IT-Strategie wieder findet.

Strategie mit Modellcharakter

Mit seiner IT-Strategie hat Röder im Kollegenkreis viel Anerkennung geerntet. Hierbei reichen seine Methoden der Informationsbeschaffung von Interviews mit den Stakeholdern auf der Business-Seite über moderierte Management-Workshops bis zur "Lessons-Learned"-Sitzung am Jahresende. Ein "IS-Masterplan" verzeichnet alle geplanten Projekte und Maßnahmen. Diese werden monatlich anhand definierter Key-Performance-Indikatoren überprüft.

Für die Priorisierung der Anforderungen gibt es ebenfalls einen strikten Prozess, in dessen Verlauf jeder Vorschlag unterschiedliche Stufen der Freigabe passieren muss, wo seine Dringlichkeit mit dem verfügbaren IS-Budget abgeglichen wird. Als Jury fungiert ein aus allen Business-Verantwortlichen zusammengesetztes Gremium. Die in der Jahresplanung festgelegten IS-Mittel sind formal beim CIO angesiedelt. Wie sie verwendet werden, handeln jedoch die Bereichsleiter untereinander aus. Sie beauftragen dann die IS-Abteilung mit der Umsetzung.

Für alle IT-Systeme sind offiziell vier Re-leases im Jahr geplant. Mehr könnte der IS-Bereich auch kaum bewältigen, denn für jedes müssen die Systeme von Anfang bis Ende ausgetestet werden. Deshalb ist es sinnvoll, kleinere Änderungen und Verbesserungen - soweit möglich - außerhalb dieses Release-Zyklus vorzunehmen. Dass dabei die Konsistenz des Gesamtsystems keinen Schaden nehmen darf, steht außer Frage.

Zeitersparnis um ein Drittel

Im Mobilfunkmarkt ändern sich die Tarife manchmal schneller, als die Webeprospekte gedruckt werden können. Da wäre gar keine Zeit, auf eine neue Release-Runde zu warten. Zudem sind die Änderungen bisweilen so gering, dass es sich kaum lohnt, den IS-Bereich damit zu behelligen. Deshalb haben die IT-Experten von O2 einen "Tariff Wizard" gebaut, der es den Produkt-Managern in bestimmtem Umfang erlaubt, neue Tarife selbst zu generieren. Dabei handelt es sich um eine GUI-basierende Applikation, die in das Billing-System integriert wurde. Sie läuft unter Microsoft Windows auf den PCs der Produkt-Manager.

Für größere Umstellungen wie die Einfüh-rung einer Flatrate sind allerdings IT-Fachleute gefragt. Aber auch hier haben Röders Leute einen Weg gefunden, wie sie sich die Arbeit erleichtern und die Time-to-Market verringern können. Mit Hilfe "generischer" Tarife lassen sich, so die Idee, neue Tarifmodelle aus bereits entwickelten ableiten. Röder beziffert die so erreichbare Zeitersparnis auf zwei Drit-tel. Jüngstes Beispiel ist der mehrfach erwähnte Pauschaltarif für die Homezone der "Genion"-Tarife.

Wie es die IT-Strategie vorsieht, haben die zuständigen Business-Bereiche und die IS-Abteilung in gemeinsamen Workshops die geschäftlichen Anforderungen mit den vorhandenen informationstechnischen Möglichkeiten in Einklang gebracht. Parallel dazu wurde ein IS-Projektplan aufgesetzt, der die notwendigen Maßnahmen in verschiedene "Workstreams" aufteilte. Ebenfalls gleichzeitig wurde ein High-Level-Design für alle betroffenen Applikationen entwickelt, so dass die IT-Spezialisten bereits wenige Tage nach dem Ende der Workshop-Phase beginnen konnten, die Anforderung in den einzelnen Applikationen umzusetzen.

Wie schon das "Week-end-Pack" wurde auch die Flatrate als optional hinzubuchbares Paket für vorhandene Tarife implementiert. Diese "Pack-Funktionalität" ist bereits in den CRM-Systemen hinterlegt. Die Implementierungsaufgabe beschränkte sich auf die reine Konfiguration. Codierungsarbeiten waren nicht mehr notwendig. Die Basis für die Lieferung des neuen Tarifs war von den IS-Experten längst gelegt worden - durch die standardisierte Anordnung der IT-Systeme und eine flexible Implementierung der Volumentarife unter dem "O2 Active"-Label.