Projekt Save for Growth

Wie Gorriz die Daimler-IT agiler machen will

24.02.2015 von Manfred Bremmer
Mitte 2013 gab Daimler bekannt, zuvor ausgelagerte IT-Services künftig über die IT-Tochter in Indien zu betreiben. In einer ersten Bilanz zieht CIO Dr. Michael Gorriz ein überwiegend positives Fazit.
In der Daimler-Niederlassung im südindischen Bangalore sind neben dem Forschung & Entwicklungs-Team auch zunehmend IT-Mitarbeiter angesiedelt.

Ausgangspunkt war bei Daimler die Situation, "dass wir sehr wenig Fertigungstiefe im eigenen Haus hatten und daher natürlich wie alle viel Offshoring betrieben", erklärte Gorriz in einem Gespräch nahe der indischen Niederlassung in Bangalore. Dabei habe man festgestellt, dass es Probleme geben kann, wenn kulturelle Grenzen und Firmengrenzen zusammenfallen. Generell sei Offshoring nicht so einfach, fügte der Daimler-CIO hinzu, man müsse sehr prozessoral, sehr standardbasiert arbeiten. Und wenn es dann mal nicht so läuft wie geplant, komme gleich die Frage: Trägt sich der Mehraufwand?

Auf Basis dieser Erkenntnisse überlegte man sich bei Daimler vor zwei Jahren, wie man diese Probleme in den Griff bekommen und trotzdem die Vorteile von Indien nutzen könnte. Als Konsequenz wurden dann genau die Felder ausgesucht, die man prozessoral beschreiben und mit Standardprozessen bearbeiten kann, beschreibt Gorriz den Auswahlprozess - und diese wurden als Allererstes zur indischen Tochtergesellschaft MBRDI verlagert. In der dortigen Niederlassung in Bangalore sind inzwischen 1100 IT-Mitarbeiter für Daimler tätig, 2015 sollen 500 weitere dazukommen.

SAP-Wildwuchs wird eingedämmt

Eines der wesentlichen Elemente, die im Rahmen des Projekts "Save for Growth" von Daimler nach Indien geholt wurden, waren die Weiterentwicklung und der Betrieb der SAP-Systeme. Hintergrund war, dass sich bei Daimler ein Wildwuchs von mehreren hundert Produktivsystemen angesammelt hatte, so der IT-Manager - wobei jedes dieser Systeme irgendwie anders betrieben wurde; über Dienstleister, in allen möglichen Varianten und Schattierungen.

Da sich SAP als Technologie und als Plattform gut standardisieren lasse, sei man durch die ganzen Abteilungen durchgegangen und habe genau die Nahtstelle definiert, also festgelegt, was nach wie vor Ort gemacht wird, also in Deutschland, USA oder Frankreich oder wo auch immer das SAP-System benötigt wird, berichtet Gorriz. Die Teile, die man vereinheitlichen konnte, seien dann nach Indien geholt worden.

Als Resultat betreibt Daimler inzwischen auch SAP-Systeme aus Indien heraus, die absolut geschäftskritisch sind, wie das Lagerverwaltungssystem für den After-Sales-Bereich. Das sei etwas, womit man nicht herumspielen sollte, fügte Gorriz hinzu, denn "wenn das Lagerverwaltungssystem spinnt, dann gehen eben keine Ersatzteillieferungen raus und die Kunden, also die Werkstätten, können nicht länger arbeiten".

Weltweit vereinheitlichte Rollouts

Das zweite Thema, das Daimler nach Indien verlagerte, waren Rollout-Services. Auch hier war der springende Punkt, dass Rollouts immer nach dem gleichen Muster verlaufen, führt der Daimler-CIO aus: Sie gehen in ein Land und nehmen die Ist-Daten auf, überlegen, wie können Sie am besten migrieren, dann müssen Schulungsunterlagen gemacht werden, die am besten web-basiert sind, die Migration wird durchgeführt und dann gibt es noch ein bisschen Händchenhalten.

Als Beispiel für ein System, das jetzt von Indien aus gesteuert in sechs Ländern ausgerollt wurde, nennt Gorriz das Xentry-Portal, über das Händler Ersatzteile und Serviceunterlagen anfordern können. Dabei erfolgte der Rollout "mit einer Geschwindigkeit, die wir noch nicht hatten, weil wir hier kapazitiv hochfahren können", so der IT-Chef.

Ebenfalls von Bangalore aus findet in der Abteilung Engineering IT-Services aktuell die Umstellung des PLM-Systems von Catia auf Siemens NX statt, nachdem mehr als eine Million CAD-Objekte umgezogen wurden, steht das Projekt nach knapp zwei Jahren jetzt kurz vor dem Abschluss.

Infrastrukturdienste aus Bangalore

Im Monitoring Room stellen IT-Mitarbeiter von Daimler und Infosys die Funktionstüchtigkeit der IT-Infrastruktur sicher. Pro Monate werden dabei bis zu 30.000 Vorfälle behandelt.
Foto: Daimler

Als weiteren Punkt stellt die IT-Abteilung von Bangalore aus auch die Funktionstüchtigkeit der weltweiten Daimler-Infrastruktur sicher, angefangen von den Servern in den verschiedenen Standorten bis hin zur Erbringung von Client-Services wie die Integration von Blackberry- oder Mobile-Diensten, das Setup und die Portierung der Software auf die PCs sowie die Netzsicherheit. Unter anderem erfolgt die Antivirenüberwachung für die weltweit 140.000 PCs im Daimler-Konzern von Südindien aus. Auch die 5000 Server für das Portal Mercedes Me, Mittelpunkt von Daimlers Connected-Car-Initiative, werden von Bangalore aus betrieben.

Ähnlich wie Daimler im SAP-Bereich das Application Development lokal bei NTT Data ausgelagert hat, setzt der Konzern auch bei den Infrastruktur-Services teilweise auf Outsourcing. So übernimmt Infosys im Enterprise Operations Office in Bangalore den First-Level-Support, die Steuerung und Koordination des Dienstleisters erfolgen aber durch die Daimler-IT.

Überwiegend positive Erfahrung

Michael Gorriz und der (natürlich ausgezeichnet Deutsch sprechende) Chef des MBRDI in Bangalore, Manu Saale.
Foto: Daimler

Bis auf "kleine Dinge, die immer passieren können", bezeichnet Gorriz die Erfahrung mit der Verlagerung nach Indien als sehr gut. Man habe hochmotivierte Mitarbeiter vor Ort, die sich auch als Mercedes- oder Daimler-Mitarbeiter fühlten, und auch bei der Qualität habe die IT einen wirklichen Schritt nach oben gemacht, auch weil man mehr Leute einsetzen könne. Da nämlich, wo man in Deutschland aufgrund der Kostensituation am unteren Limit geblieben sei, erklärt der Daimler-CIO, "können wir hier noch zwei Leute drauflegen und sagen 'Jetzt machen wir es richtig'".

Für die IT-Mitarbeiter in Deutschland bedeute die Verlagerung, dass sie sich ihrer eigentlichen Arbeit widmen könnten, so Gorriz. Nämlich dem sogenannten Demand-Management, also mit den einzelnen Geschäftsbereichen und Positionen zu sprechen und deren Anforderungen aufzunehmen. Die Kollegen in Indien erledigten dagegen zunehmend die Arbeit der Programmierung, des Systemdesigns und letztendlich des Betriebs.

Während die Ausführung vorher fast ausschließlich von Lieferanten übernommen worden sei, habe Daimler jetzt das Knowhow wieder im Konzern, wenn auch in Indien, konstatiert Gorriz. Es gebe aber einen regen Austausch zwischen den Mitarbeitern, so dass das Knowhow auch in Stuttgart - wenn benötigt - bereitsteht. Als Beispiel verweist der Daimler-CIO auf ein technisches Upgrade bei einem Finanzsystem: Dieses werde zwar von Indien aus vorgenommen, mit bis zu 70 Mitarbeiter, die den Code durchgehen und alles auf das Neusystem packen. Diese kämen im Rahmen des Projekts natürlich auch nach Deutschland, arbeiteten drei oder vier Wochen mit und nähmen die Anforderungen auf, um sie dann später umzusetzen.

Nicht von der Hand zu weisen ist zudem, dass es auch in Bangalore regionale Vorteile gibt: Weil die indische Niederlassung von SAP nur zwei Kilometer entfernt sitzt, ist eine technische Evaluierung schon zu einem frühen Zeitpunkt möglich und muss nicht über Sindelfingen und Walldorf gehen. Auch etliche andere IT-Firmen sind im indischen Silicon Valley ansässig, die Niederlassung von IBM etwa befindet sich von MBRDI aus auf der anderen Straßenseite.

Bereit für die IT der drei Geschwindigkeiten

Daimler-CIO Gorriz will die Geschwindigkeit der IT von den langen Entwicklungszyklen der Fahrzeugindustrie lösen.
Foto: Daimler

Daneben müsse man die Strategie Save for Growth in einem größeren Zusammenhang sehen, betont Gorriz: Wenn man heute in die IT eines Unternehmens hineinschaut, sehe man die IT der drei Geschwindigkeiten. Da gebe es die Basissysteme, etwa Lohnbuchhaltung, Basislogistik, Personalverwaltung - Systeme, die 20 oder 30 Jahre mit leichten Änderungen bestehen blieben. Dann komme ein Zwischen-Layer und dann die Systeme an der Kundenfront, also etwa Mercedes Me.

Diese Systeme änderten sich im Monatsrhythmus, weil sie sich schnell an die Gegebenheiten, den Markt, die Prozesse, die Bedürfnisse der Kunden anpassen müssten. Ziel von Save for Growth sei es gewesen, die ganzen Dinge, die sich wenig drehen, möglichst kostengünstig zu bewältigen und die Energie in die Schnelldreher hineinstecken, bei denen man wirklich vor Ort agieren müsse.

So sei der Plan, dass Daimler neben dem Zentrum in Bangalore und in der Türkei - ein weiteres wird in Mexiko gebaut - auch wieder auf Fähigkeiten vor Ort setze, wo man unmittelbar programmieren könne. Die Rede sei von Scrum, so der Daimler-CIO, also agile Entwicklungsmethoden, wo Fachbereich und IT-Abteilung an einem Tisch sitzen, Ideen erzeugen und dann in vier oder drei Wochen umsetzen. "Das Ganze funktioniert aber nur mit Leuten, die tief in dem Thema drin sind", betont Gorriz, wobei man auch schon einen Weg gefunden habe, wie man hier Indien miteinbezieht.

Als Konsequenz werde sich auch in Deutschland die IT-Abteilung umschichten, hin zu mehr Architekturentwicklung auf der einen Seite, Stichwort Demand-Management, und dann eben Programmierer, die direkt Ideen umsetzen. Dazu müsse man sich aber auch von Sachen lösen, die kämen dann in die eigenen Offshore-Zentren. Es gehe hierbei aber nicht um die Aufteilung in Gut und Schlecht, hob Gorriz hervor, sondern um die Möglichkeit, abzuwägen: Was hab ich, was kann ich hier oder dort machen?

Agilisierung als nächstes Jahresziel

Als Konsequenz habe sich die Daimler-IT für 2015 und 2016 das Thema Agilisierung vorgenommen und es sei bereits im Führungskreis beschlossen worden, viele Aktionen zu starten, um agiler zu werden. Dabei "werde die Scrum-Entwicklung für uns ein Standardwerkzeug im Gesamtwerkzeugkasten, um eben diese Agilität zu ermöglichen", so der Daimler-CIO.

Auch Initiativen wie den unlängst in Bangalore abgehaltenen zweiten IT- Hackathon von Daimler, bei dem 31 Teams in 24 Stunden neue Ideen rund um das Thema Digital Life entwickelten, sieht Gorriz als Elemente, um die Kreativität der IT-Mitarbeiter anzuregen. Nebenbei tue Daimler damit etwas für sein Image als Arbeitgeber und trage mit dem Signal, dass gute Ideen auch umgesetzt werden, zu mehr Motivation bei.

Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Am IT-Hackathon von Daimler in Bangalore nahmen 101 Mitarbeiter in 38 Teams teil.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
In 24 Stunden galt es, aus Ideen rund um das Thema Digital Life umsetzbare Konzepte ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
... oder sogar Lösungen zu erstellen.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Dazu wurde einfrig getüftelt, ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
... diskutiert ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
und schon einmal probeweise demonstriert.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Zu fortgeschrittener Stunde wechselten die Hackathon-Teams auf weichere Sitzgelegenheiten.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Zwischendurch besuchten auch die Manager ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
... darunter der Chef der Niederlassung, Manu Saale, ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
... und der extra eingeflogene Daimler-CIO Dr. Michael Gorriz die Wettbewerbsräume.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Neben viel Software-Code kam auch Hardware zum Einsatz - etwa Google Glass ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Nach 24 Stunden gab Daimler-CIO Dr. Michael Gorriz das Ende des Wettbewerbs bekannt.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Nach 24 Stunden wurden in einer ersten Wahlrunde die 11 (eine Stimmengleichheit) besten Lösungen ermittelt.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Erst entwickeln, dann pitchen: Stufe Zwei des IT-Hackathons in Bangalore.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Überraschenderweise entstanden in den 24 Stunden Hackathon nicht nur schillernde Präsentationen sondern teilweise auch fast fertige Lösungen.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Die Preisverleihung nach 24 Stunden IT-Hackathon.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Das Hauptgebäude von Mercedes-Benz Research & Development India Private Limited (MBRDI) in Bangalore.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Ein Großteil der IT-Aktivitäten des MBRDI befinden sich in diesem Extra-Gebäude.
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
Der Deutsch-Unterricht findet bei MBRDI unter anderem in diesem Container statt ...
Daimler IT-Hackathon in Bangalore
... und ist gut besucht

Selbst wenn von den auf Hackathons entwickelten Projekten bislang noch nichts final umgesetzt wurde, hat Daimler im Portfolio bereits ein schönes Beispiel dafür, wie aus in kurzer Zeit entstandenen Ideen potenziell zukunftsträchtige Geschäftsmodelle entstehen können. So ist die zum Autobauer gehörende Mobilitätsplattform Moovel, die jetzt mit MyTaxi und Car2Go zusammengeführt wird, im Rahmen eines Startup-Weekends von der Pieke auf entstanden. Und wie Gorriz stolz verweist, sei es auch eben dieses Moovel-Team gewesen, das mit Hilfe von Scrum-Methoden Mercedes-Me im Backend entwickelt habe.