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Der Niedergang des User Interface

Kommentar  31.05.2024
Von 


Nick Hodges ist Developer Advocate beim Authentifizierungsspezialisten Passage und hat in den letzten Jahren zahlreiche praktische Erfahrungen als Delphi-, TypeScript- und Angular-Entwickler gesammelt. Er schreibt für unsere US-Schwesterpublikation Infoworld.
Software hat selten cooler ausgesehen als heute. Leider hat die User Experience allerdings dramatisch gelitten.
Je näher man kommt, desto sichtbarer werden die Versäumnisse.
Je näher man kommt, desto sichtbarer werden die Versäumnisse.
Foto: Geenette Goden | shutterstock.com

Schon als Computer noch in den Kinderschuhen steckten, wurde relativ schnell klar, dass sich Software mit einer guten Benutzeroberfläche besser verkaufen lässt. Die Möglichkeit, simpel und intuitiv mit Applikationen zu interagieren, treibt die User Experience (UX). Zunächst wurde das User Interface (UI) insbesondere durch Macs und Windows-PCs standardisiert. Das hat zahlreiche Computerinteraktionen, die heute als selbstverständlich gelten ("Datei", "Neu", "Öffnen" oder "Speichern"), erst etabliert.

Der Fokus auf User Interface und -Experience gipfelte schließlich in der bahnbrechenden Veröffentlichung "About Face: The Essentials of Interaction Design". Das Buch brachte weitere Ideen ein, um Mensch-Computer-Interaktionen zu optimieren und kodifizierte diverse Design-Muster, die für Benutzer heute selbstverständlich sind. Allerdings zeigt sich beim Blick ins weltweite Netz, dass viele dieser hilfreichen UI-Konzepte heute zunehmend von der Bildfläche verschwunden sind.

Woran Benutzeroberflächen heute scheitern

1. Schaltflächen-Askese

Ein eisernes Grundprinzip für Anwendungen mit grafischer Benutzeroberfläche bestand etwa darin, dem Benutzer klar und deutlich zu kommunizieren, welche Aktion er mit einem Mausklick auslöst. Rief ein User beispielsweise ein Dialogfenster mit einer Reihe von Optionen auf, sollte stets eine "Ok"- sowie eine "Cancel"-Schaltfläche vorhanden sein, um Änderungen anzunehmen oder abzulehnen. So war es dann auch möglich, vorgenommene Änderungen wieder zu verwerfen. Leider scheint dieses simple Prinzip beim Übergang ins Online-Zeitalter unter den Tisch gefallen zu sein.

Nur so lässt es sich erklären, dass im Netz diverse Seiten mit Konfigurationsoptionen zu finden sind, die auf die oben genannten Schaltflächen verzichten. Stattdessen wird vom Nutzer erwartet, auf ein oft kaum sichtbares X-Symbol in der oberen rechten Ecke zu klicken, um ein Dialogfeld zu schließen und Änderungen zu verwerfen. Was aber, wenn die Konfiguration schon geändert ist und der Nutzer nachträglich etwas ändern möchte? In diesem Fall bleibt ihm nur, sich selbst zu helfen und die vorgenommenen Änderungen manuell zurückzusetzen - vorausgesetzt, er oder sie kann sich noch an die Details erinnern. Ganz schlimm sind auch Popup-Dialoge, die sich nur durch einen Klick ins Freifeld schließen lassen, anschließend aber stets eine Frage aufwerfen: "Wurden meine Änderungen nun übernommen oder nicht?"

2. Feinmotorik-Overkill

Darüber hinaus ist die inzwischen geradezu chirurgische Präzision, die Maus- und Touchpad-Nutzern regelmäßig abverlangt wird, keine Veränderung zum Positiven. Eines der besten Features von grafischen User Interfaces ist beispielsweise, die Fenstergröße nach Belieben anpassen zu können - insbesondere bei größeren Bildschirmen. Allerdings scheinen sich die Betriebssystem-Macher darauf verständigt zu haben, es zu einer echten Challenge zu machen, Fenster größentechnisch anzupassen oder zu verschieben.

Ich für meinen Teil verbringe zum Beispiel in neueren Windows-Versionen erschreckend viel Zeit damit, meinen Maus-Cursor für solche Aufgaben hochpräzise auszurichten. Schon ein Fenster zu verschieben, kann dabei eine echte Hürde sein, weil es kaum noch "Klickraum" gibt: Einst verfügten Anwendungen über eine klar sicht- und klickbare "Title Bar" und Fenster waren mit einem deutlichen Rahmen versehen, um sie leichter mit der Maus "greifen" zu können.

Das hat sich drastisch geändert: Im Namen der Ästhetik sind Fenster heute so "dünn" wie nur möglich umrandet. Werfen Sie doch einmal einen Blick auf Ihr Browser-Fenster: Wo genau klicken Sie, wenn dort viele Tabs geöffnet sind und sie das Fenster verschieben wollen?

3. App-Einheitsbrei

Es kann durchaus vorkommen, dass man sich erst einmal selbst vergewissern muss, welche App man gerade nutzt. Beispielsweise, wenn es um Browser geht. Früher waren die Anwendungen auf den ersten Blick durch Symbole, Logos oder sonstige Brandings zu erkennen. Heute sehen sie größtenteils alle gleich aus. Werfen Sie zum Beispiel einen Blick auf den nachfolgenden Screenshot:

Chrome? Firefox? Edge?
Chrome? Firefox? Edge?
Foto: Nick Hodges | IDG

Dass es sich hier um einen Browser handelt ist klar, nur nicht um welchen. Um das Rätsel aufzulösen: Es handelt sich um Microsoft Edge. Rein optisch könnte es aber auch Chrome oder Firefox sein.

4. Farbverzicht

Farbe ist eigentlich ein relativ starker Indikator und deshalb auch mit Blick auf Benutzeroberflächen sehr nützlich. Im goldenen GUI-Zeitalter war es durchaus üblich, Schaltflächen einzufärben, um zu signalisieren, dass sie aktiv und klickbar sind. Anderenfalls wurden diese Schaltflächen ausgegraut. Ganz ähnlich verhielt es sich mit Browser-Tabs. Was für ein Bild sich heute zeigt, sehen Sie im nachfolgenden Screenshot. Die Preisfrage in diesem Beispiel: Welche Registerkarte ist gerade aktiv?

Nur das kleine X-Symbol gibt einen dezenten Hinweis auf den aktiven Tab.
Nur das kleine X-Symbol gibt einen dezenten Hinweis auf den aktiven Tab.
Foto: Nick Hodges | IDG

Es wirkt fast so, als hätten die Interface-Designer irgendwann einfach beschlossen, dass Grau und Schwarz "clean" und "cool" sind - und man auf Klarheit und Unterscheidbarkeit gut und gerne verzichten kann. Ich habe sogar schon Interfaces zu Gesicht bekommen, die ausschließlich dunkel- und hellgrau nutzen, um den Status von Registerkarten zu "verdeutlichen". In meiner Welt (und hoffentlich auch anderen) steht Grau allerdings immer noch für "inaktiv".

Cooler Look sticht?

Dass der "coole Look" in den Köpfen vieler App- und Betriebssystementwickler inzwischen scheinbar wichtiger ist, als Anwendungen nützlich und benutzbar zu gestalten, ist eine traurige Entwicklung. Software sollte einfach zu bedienen sein und nicht erfordern, erst einmal ein Handbuch zu lesen. Funktionalität für ein schickes Design zu opfern, ist ein eklatanter Fehler. (fm)

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer US-Schwesterpublikation Infoworld.