Überbewertete Technologien

Die 10 größten IT-Hypes

31.07.2024
Von 
Mary K. Pratt ist freiberufliche Journalistin in Massachusetts.
Auch IT-Führungskräfte sind nicht immun gegen rosige Innovationsversprechungen. Lesen Sie, welche Technologien regelmäßig überbewertet werden.
Neue Technologien stellen des Öfteren wahre Wunder in Aussicht. Wie es dabei um die Umsetzbarkeit steht, bleibt in vielen Fällen (erst einmal) im Dunkeln.
Neue Technologien stellen des Öfteren wahre Wunder in Aussicht. Wie es dabei um die Umsetzbarkeit steht, bleibt in vielen Fällen (erst einmal) im Dunkeln.
Foto: Ground Picture - shutterstock.com

Die Technologie von heute ist der Stoff, aus dem die Sci-Fi-Fantasien von gestern gemacht sind. Nach Jahrzehnten der Spekulation und Entwicklung nähern sich künstliche Intelligenz, Robotik und auch Virtual- und Augmented Reality allmählich dem Status "alltäglich". Ob diese (und andere) Technologien ihre Verheißungen auch wahrmachen können, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt. Und das ist meistens eher leer, schließlich handelt es sich um Trends. Und die werden, wie der Hype Cycle von Gartner zeigt, eine ganze Zeit lang von überhöhten Erwartungen begleitet - bevor dann die Reise ins Tal der Enttäuschungen ansteht.

Um sich nicht unberechtigterweise vom Hype um eine Technologie anstecken zu lassen, besteht für (IT-)Führungskräfte die Herausforderung darin, mit offenen Augen zu agieren - also auch die potenziellen Fallstricke und Nachteile wahrzunehmen - und die Erwartungen ihrer Mitarbeiter zu managen, falls die Realität anders aussieht als zunächst erwartet.

Vor diesem Hintergrund haben wir mit verschiedenen IT- und Technologieentscheidern sowie Analysten gesprochen und sie um ihre Einschätzung gebeten, welche Technologien ihrer Meinung nach am häufigsten überbewertet werden.

1. Generative AI

Beim Thema generative künstliche Intelligenz (GenAI) sind sich die von uns befragten Tech-Experten nahezu einig: Die Erwartungen, die in die Technologie gesetzt werden, sind wesentlich größer als das, was sie (aktuell) tatsächlich leisten kann. Greg Barrett, selbständiger Berater für Technologieentscheider, bringt den aktuellen Status Quo auf den Punkt: "Der Hype, der um generative KI tobt, lässt einige Führungskräfte glauben, die Technologie könne auf breiter Basis eingesetzt werden. Allerdings ohne, dass sie diese dabei wirklich durchdrungen hätten oder wüssten, wie sie in ihrem Unternehmen sinnvoll eingesetzt werden kann."

Das sehen andere Experten ähnlich. Kaarthick Subramanian beispielsweise - CISO beim Digital-Transformation-Spezialisten Atlas Systems: GenAI werde zu schnell eingesetzt und ob sich das lohne, spiele dabei in vielen Fällen erst einmal keine Rolle. Ein Unding für den Sicherheitsentscheider, der stattdessen empfiehlt: "Ein klarer Business Case ist genauso essenziell, wie zu wissen, welches Problem man eigentlich lösen möchte."

Genau das bleibt jedoch für viele Firmen eine nicht zu stemmende Herausforderung. So stellen die Auguren von Gartner in ihrem aktuellen Hype Cycle für künstliche Intelligenz fest: "Die KI-Investitionen haben einen neuen Höchststand erreicht, wobei der Schwerpunkt auf generativer KI liegt. In den meisten Fällen muss die Technologie erst noch beweisen, dass sie den antizipierten Business Value auch liefern kann."

2. Artificial General Intelligence

Laut IBM ist Artificial General Intelligence, "die Science-Fiction-Version von KI, in deren Rahmen Maschinen auf menschlichem Niveau lernen und wahrnehmen können". Big Blue geht außerdem davon aus, dass die Technologie - obwohl diese sich bislang eher im theoretischen Stadium befinde - kurz davor stehe, nahezu jeden Aspekt des menschlichen Lebens und der Arbeit zu revolutionieren.

Ganz im Gegensatz dazu meint Peter J. Scavuzzo, Partner sowie Chief Information Officer bei der Technologieberatung Marcum LLP, dass dem Thema AGI mehr Aufmerksamkeit zukommt, als ihm guttut. Er fragt sich insbesondere, ob die Fantasien in Bezug auf die Technologie die Realität längst hinter sich gelassen haben: "Ich denke, wir sind meilenweit davon entfernt, dass KI menschliches Niveau erreicht, wenn es um kognitive Fähigkeiten geht."

3. KI allgemein

Was für AGI und GenAI gilt, gilt auch für KI generell: Das Potenzial ist ohne Frage groß, wirklich revolutionäre und parallel solide Ergebnisse fehlen bislang - beziehungsweise ereilen nur wenige Anwender.

Wie Robert Field, CIO beim GenAI-Spezialisten Ozmosys, konstatiert, wird sich das kurzfristig auch nicht ändern: "Meiner Meinung nach wird KI in diversen Ausformungen überbewertet - es existieren jede Menge unrealistische Erwartungen. Die Implementierungsrealität ist jedoch weitaus komplexer und weniger glamourös als oft dargestellt. Ganz allgemein ist es höchste Zeit, die Erwartungshaltung zurückzuschrauben."

4. KI-PCs

Für Brian Jackson, Research Director bei der Info-Tech Research Group, fällt auch die relativ neue Sparte der KI-PCs in den Bereich Hype: "Es ist offensichtlich, dass die Anbieter versuchen, KI als Unterscheidungsmerkmal anzupreisen, um die Kunden dazu zu verleiten, neue Hardware anzuschaffen."

Dazu hätten die Hersteller auch allen Grund, fährt der Chefanalyst fort. Viele CIOs würden ihre Rechnerflotte inzwischen nur noch alle vier bis fünf Jahre austauschen - statt wie zu früheren Zeiten alle drei Jahre. Laut Jackson ein Beweis dafür, wie leistungsfähig die heutigen Geräte sind. Wenngleich AI PCs dank GPU- und NPU-Unterstützung als schneller und leistungsfähiger angepriesen würden, sei die Zeit für Systeme dieser Art noch nicht reif, meint Jackson: "Es wird noch mindestens drei bis vier Jahre dauern, bis sich der lokale KI-Einsatz durchsetzt. Bis es soweit ist, bieten moderne Rechner ausreichend Leistung, um GenAI zu nutzen, so wie es bisher die meisten Anwender tun - über Cloud-basierte Applikationen."

5. Next Generation

"Was soll 'Next Generation' überhaupt bedeuten", fragt sich Daniel Uzupis, CIO beim US-Gesundheitsdienstleister Union Community Care. Seiner Auffassung nach würden die Anbieter zu freizügig und leichtfertig mit dem Etikett 'Next Gen' um sich werfen: "So halten dann neue Funktionen in Produkte Einzug, die noch nicht wirklich einsatzbereit sind. In der Folge haben die Anwender dann mit fehlerhafter Technologie zu kämpfen - oder standardmäßig aktiven Funktionen, die sie überhaupt nicht wollten", hält Uzupis fest.

Um Hype-getriebene Offerings zu enttarnen, hilft dem IT-Entscheider zufolge nur, sich auf altbewährte Techniken der Evaluierung zu verlassen und hinter die vielversprechende Fassade zu blicken: "Es geht im Kern um die Frage, ob das betreffende Produkt wirklich etwas bringt."

6. Quantencomputer

Über das enorme Potenzial von Quantum Computing gibt es im Regelfall keine Diskussionen mehr: Quantencomputer versprechen exponentiell mehr Leistung als die aktuelle Rechnergeneration.

Allerdings ist die schöne, neue Quantenwelt alles andere als zum Greifen nah, wie Andy Thurai, leitender Analyst bei Constellation Research, festhält: "Quantencomputer befinden sich weiterhin auf einer theoretischen Ebene. Bis diese Technologie kommerziell nutzbar wird, ist noch einiges an Forschungsarbeit zu leisten. Und die Kosten uns Ressourcen, die nötig sind, um Quantencomputer zu entwickeln und betreiben, sind eine zusätzliche Herausforderung."

7. Fusionsenergie

In eine ähnliche Kerbe schlägt das Sentiment auch, wenn es um Fusionsenergie geht - auch diese Technologie ist, ähnlich wie Quantum Computing, weiter davon entfernt, Realität zu werden als viele Befürworter Glauben machen wollen. Befeuert wurde das Thema zuletzt insbesondere dadurch, dass sich OpenAI-CEO Sam Altman an einer Finanzierungsrunde für Helion Energy beteiligt hat. Das Unternehmen will das erste Fusionskraftwerk der Welt auf die Beine stellen - und damit auch dem wachsenden Energiehunger von KI-Systemen begegnen.

"Fusionsenergie wird dazu beitragen, den nächsten Technologie-Boom anzustoßen", ordnet CIO Scavuzzo ein und fügt hinzu: "So bald werden wir diesen allerdings nicht erleben."

8. Avatare

Info-Tech Chefanalyst Jackson sieht einen weiteren Hype-Bereich, der im Wesentlichen durch künstliche Intelligenz getrieben wird: Avatare. Die digitalen Abbilder von Menschen seien inzwischen zwar ausgereift und würden auch im Alltag eingesetzt - allerdings gebe es auch höchst problematische Anwendungsfälle für die Technologie, etwa Deepfakes.

Der Analyst gibt jedoch zu bedenken: "Die Art und Weise, wie Unternehmen über den Einsatz der Technologie nachdenken, um mit echten Menschen zu interagieren, ist ein wenig weit hergeholt. Ein Chatbot im Kundenservice wird inzwischen weitgehend akzeptiert. Aber ganz generell sind die Anwender nicht begeistert davon, mit Avataren zu interagieren. Digitale Zwillinge Meetings leiten zu lassen, wird sich nicht auf breiter Basis durchsetzen lassen - es sei denn, Sie sind CEO."

Grundsätzlich sei die Technologie wertvoll, konstatiert Jackson, schränkt jedoch ein: "Ich befürchte nur, dass wir es zu schnell zu weit treiben."

9. Metaverse / Spatial Computing

Apples Vision Pro hat den Hype um das Metaverse-Thema im Jahr 2024 neu aufflammen lassen. Nach Meinung von Thomas Phelps, CIO beim SaaS-Anbieter Laserfiche, hat das allerdings nichts daran geändert, dass die Technologie mit jeder Menge Hype aufgeladen ist: "Metaverse und Mixed Reality sind in gewisser Weise mit Blockchain vergleichbar: Der anfängliche, große Wirbel hat sich schnell gelegt - und inzwischen spricht jeder schon wieder von KI. Wenn der schöne Glanz dann verblasst, zeigt sich, dass große Investitionen in die Technologie mangels realisierter Benefits kaum zu rechtfertigen sind. Eine Technologie aus der Nische in den breiteren Enterprise-Markt zu überführen, ist nicht einfach."

Laut Tej Patel, CIO beim Stevens Institute of Technology, hätten beispielsweise viele Experten das Potenzial von Spatial Computing im Bildungsbereich angepriesen, nur um anschließend der Ernüchterung zu erliegen: "Sie mussten erkennen, dass die Vorteile die Kosten und den Aufwand nicht rechtfertigen."

10. Humanoide Roboter

Mehr Hype als Substanz attestieren Experten auch regelmäßig dem Thema Humanoide Roboter. Analyst Jackson zum Beispiel, der zwar anerkennt, dass menschenähnliche Roboter auf dem Vormarsch sind und einzelne Aufgaben bereits zufriedenstellend übernehmen können - jedoch einschränkt: "Die Vorstellung, dass humanoide Roboter menschliche Arbeiter ersetzen werden und ein vielfältiges Aufgabenspektrum erledigen können, bleibt vorerst ein Wunschtraum. Wir stehen bei dieser Technologie noch ganz am Anfang. Es wäre deshalb fahrlässig, sich darauf zu verlassen, dass solche Roboter wirklich selbständig arbeiten können."

Rama Donepudi, Vice President und CIO beim britischen Konsumgüterkonzern Reckitt, sieht das ganz ähnlich: "Viele Menschen glauben an eine Zukunft wie aus dem Science-Fiction-Film. Fakt ist: Wir haben immer noch keine autonomen Rasenmäher und unsere Saugroboter bleiben auch immer noch unter der Couch stecken. Das wird also so schnell nichts. Selbst wenn dann die ersten humanoiden Roboter auf den Markt kommen, werden sie dieser Erwartungshaltung nicht standhalten können." (fm)

Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel unserer US-Schwesterpublikation CIO.com.