Die Situation des vergangenen Jahres wurde schon x-mal erzählt: Viele Mitarbeiter mussten wegen der Pandemie von heute auf morgen im Homeoffice arbeiten. Und das Unternehmen beziehungsweise die firmeninterne IT hatte dafür zu sorgen, dass es - auch zu Hause - nahtlos weitergeht, damit "die Räder nicht stillstehen" - so auch beim Polymerspezialisten Rehau in der Nähe von Hof.
Konsequenz war und ist, dass sich nun Mitarbeiter und ganze Teams hinsichtlich Mobile Office sowie der Raum- und Schreibtischbelegung im Büro abstimmen und koordinieren müssen. Im Rahmen eines Change-Projektes, das beim Digital Leader Award (DLA) eingereicht wurde, entstand bei Rehau die Idee einer "einfachen und schnellen Desk-Management-Lösung als cloudbasiertes Internet-Projekt", so Alice Lottes, Head of Digital Applications bei der Rehau AG + Co New Ventures. Die App sollte dabei "so einfach wie möglich gestaltet sein, ohne Einstiegshürden oder Stolpersteine", so Digital Managerin Lottes, und einen "echten Mehrwert" im täglichen Arbeiten bieten.
Social Media und mobile Apps als Vorbild
Die Rahmenbedingungen waren dabei schnell gesteckt, wie Kevin Rodd, Entwickler und Digital Expert bei Rehau, berichtet. "Das Tool sollte sich seine Akzeptanz in der Belegschaft selbst schaffen und als unser erstes 'Minimal Lovable Product' (MLP) antreten", so Rodd weiter. Das MLP sollte nicht nur eine Funktion erfüllen, sondern die Nutzer vom ersten Moment an vom Produkt begeistern. Oberflächendesign und Bedienbarkeit wurden daher nicht in der gedanklichen Anlehnung an eine voll integrierte Enterprise-Lösung konzipiert, sondern folgen den Ansätzen moderner Social-Media-Plattformen und mobilen Apps, um die gesamte User Experience des Produktes zu verbessern.
Die Webapplikation bietet sowohl eine Desktop- als auch eine Mobile-Ansicht und ist damit mit nahezu jedem Internet-fähigen Gerät kompatibel. Mitarbeiter können so einfach ihre privaten Geräte, etwa Smartphones nutzen, um Buchungen und Planungen vorzunehmen. "Weiterhin bieten wir mit QR-Codes auf allen verfügbaren Schreibtischen in den Office-Bereichen eine Komfortfunktion, die Reservierungen innerhalb von Sekunden erlaubt - einfach abscannen und buchen", freut sich Entwickler Rodd.
"Da die Lösung von vornherein direkt über das Internet für die Belegschaft frei verfügbar sein sollte, war der Technologie-Stack für die Umsetzung schnell definiert", erläutert Lottes. Und Rodd weiter: "Wir bedienen uns dabei aktueller Entwicklungen aus dem Cloud-Bereich: Serverless-Computing auf Basis Amazon Web Services, kombiniert mit der Cloud-Datenbank MongoDB Atlas und bieten dabei Techniken, die nicht nur nahezu wartungsfrei sind, sondern auch je nach Bedarf skalierbar." Das bedeutet, dass Rehau zum einen den administrativen und betriebsbedingten Overhead extrem reduzieren und zum anderen die Kosten gering halten kann, da die Compute-Power je nach Bedarf bereitgestellt und auch nur dann abgerechnet werde.
Agile Softwareentwicklung
Rodd und Lottes geben zu, dass es schon einige Herausforderungen zu meistern galt. "Da unser Projekt erstmals dem agilen Ansatz folgt, wurde hier gänzliches Neuland im Bereich der Softwareentwicklung innerhalb der Unternehmensgruppe betreten." Zudem habe man das Ziel des MLB verfolgt, jedoch gerade in Bezug auf die Feature-Auswahl relativ wenige Entscheidungen fixiert, so dass im späteren Projektverlauf "die eine oder andere Diskussion mehrfach geführt wurde", erinnert sich Rodd.
"Die größte Herausforderung stellte sich uns aber, als wir die Entscheidung zur externen Markteinführung gefällt haben", erzählt Digital Managerin Lottes. Plötzlich waren Themen wie Namensgebung, Brand Building, Marketing, Datenschutz/Recht und Zahlungsabwicklung die Themen mit höchster Priorität - Dinge, die zum einen die Weiterentwicklung teilweise hemmten und zum anderen nicht durch das Kernteam bewältigt werden konnten.
- 9 Gründe, weshalb agile Unternehmen ihr Business und Krisen besser meistern
Agile Methoden haben in vielen Unternehmen zwar schon Einzug gehalten, meist aber nur in Einzelbereichen wie zum Beispiel der IT. Eine Studie der Technologieberatung BearingPoint zeigt jedoch, dass Unternehmen mit einer durchgängig agilen Organisation sowie in der Unternehmenskultur verankertem agilen Mindset den Alltag und Krisen schneller und besser meistern. Gute Gründe für mehr Agilität. - Vereinfachte Prozesse
Agile Organisationen zeichnen sich durch hohe End-to-End-Prozessverantwortung, schlanke Prozesse, hohe Prozessautomatisierung und -standardisierung aus. Je leichtgewichtiger und standardisierter Prozesse sind, umso kosteneffizienter können Organisationen agieren. - Vereinfachte Steuerungslogik
Organisationen, die in Abhängigkeit von Prioritätsänderungen flexibler steuern können, sind in Krisenzeiten besser in der Lage, schnell auf geänderte Parameter zu reagieren. - Vereinfachte Organisationsstruktur
Agile Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass anhand der Wertschöpfungskette durchgängig verantwortliche, autonome und cross-funktionale Teams aufgebaut und Abteilungsgrenzen aufgelöst werden. In Krisenzeiten profitieren agile Organisationen durch bessere Zusammenarbeit über Teams, Abteilungen oder Business Units hinweg. - Höherer Innovationsgrad
Interdisziplinäre Teams wirken als Brutkasten für innovative Ideen und Ansätze. Außerdem verfügen agile Organisationen öfter über offene Ökosysteme und profitieren in Krisenzeiten von diesem Netzwerk. - Schnelle Reaktionsfähigkeit
Es gilt, die Krise als Chance zu sehen und Änderungen willkommen zu heißen. Strukturen und Prozesse wie agiles Portfolio Management oder Objektive and Key Results helfen kontinuierlich neu zu bewerten. Agile Organisationen arbeiten iterativ mit vielen Feedback-Schleifen und das ständige Hinterfragen und Reagieren auf Änderung ist Teil ihrer DNA. - Kundennähe und Kundenzentriertheit
Gerade in Krisenzeiten muss den Kundenbedürfnissen entsprechend noch zielgerichteter agiert werden. Schnelles Feedback ist hier extrem wertvoll. Als Organisation muss bewusst auch mit Teilprodukten auf den Markt zu gegangen werden, um etwaige Kundenwünsche oder Adaptionen früh genug berücksichtigen zu können. - Hohe Selbstorganisation und Teamwork
Teams, die es gewohnt sind, auch selbst Entscheidungen zu treffen, sind in Krisenzeiten flexibler und besser vorbereitet. Organisationen, deren Management sehr stark auf Selbstorganisation setzt und Entscheidungsbefugnisse weitgehend an die agilen Teams delegiert haben, sind schneller, was auch in Krisenzeiten ein immenser Vorteil ist. - Neuer Leadership-Stil
Führungskräfte sind in Krisenzeiten besonders gefordert und profitieren von Skills, die für agile Organisationen typisch sind. Eine starke und offene Kommunikation kann Sorgen und Unsicherheiten ausräumen und psychologische Sicherheit vermitteln. Führungskräfte, denen es gelingt, eine nachhaltige Fehlerkultur zu etablieren, fördern nicht nur das kontinuierliche Lernen, sondern sorgen auch dafür, dass Mitarbeiter bereit sind, Entscheidungen und Risiken zu treffen. - Technologie-Führerschaft
Agile Organisationen zeichnen sich durch eine Technologieführerschaft und den Einsatz moderner State-of-the-Art-Technologien aus. Organisationen, die bereits vor der Krise begonnen haben, ihre Kernsysteme auf eine Micro-Service-Architektur mit losen gekoppelten Services umzubauen und den Einsatz von Continuous-Integration-Systemen forciert haben, sind in der Lage, schneller und unabhängiger zu produzieren und kontinuierlich Releases zu veröffentlichen.
"Summa summarum hätte man diese, für ein Produktionsunternehmen, sehr exotische und disruptive Entwicklung frühzeitig aufgleisen müssen, um Verzögerungen zu vermeiden", lautete eine der wichtigen Erfahrungen. "Nichtsdestotrotz möchten wir auf die gesammelten Erfahrungen nicht verzichten und werden diese in zukünftige digitale Projekte/Produkte immer wieder einfließen lassen", ziehen die beiden Digitalprofis ein positives Feedback dieses gelungenen Innovationsabenteuers.