Pleiten, Pech und Pannen

12 ERP-Katastrophen

13.05.2024
Von  , , und Thomas Wailgum
Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.
Josh Fruhlinger ist freier Autor in Los Angeles.
Peter Sayer ist Korrespondent des IDG News Service.
ERP-Projekte sind komplex, teuer und zeitintensiv. Kein Wunder also, dass etliche Vorhaben schiefgehen. Lesen Sie und lernen Sie aus den Fehlern.
Damit das ERP-Projekt nicht im Graben landet, braucht es einen Plan und eine sichere Steuerhand.
Damit das ERP-Projekt nicht im Graben landet, braucht es einen Plan und eine sichere Steuerhand.
Foto: Everett Collection - shutterstock.com

Große ERP-Projekte wandeln oft auf einem schmalen Grat zwischen Erfolg und Katastrophe. Die Systeme bilden das Fundament jeder Softwarearchitektur. In ihnen schlägt das Herz des Business. Hat das ERP ein Problem, hat auch das gesamte Unternehmen ein Problem. Fehler und Ausfälle können Millionen-Schäden nach sich ziehen oder gar die ganze Firma in den Abgrund reißen.

Da verwundert es kaum, dass die IT-Verantwortlichen am ERP möglichst wenig schrauben und verändern wollen. Never touch a running system - in keinem anderen IT-Bereich scheint dieses Motto mehr zu gelten als im ERP. Dazu beigetragen hat sicherlich auch die Komplexität der ERP-Landschaften. In vielen Unternehmen sind die Systeme über Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte gewachsen, wurden mehr oder weniger stark individuell angepasst und haben sich engmaschig mit etlichen anderen Softwaresystemen verzahnt.

Dennoch schlägt jedem ERP-System irgendwann die Stunde, sei es, weil die Software veraltet ist, vom Hersteller nicht mehr unterstützt wird oder die Systeme mit den Business-Anforderungen nicht mehr mithalten können. Dann heißt es: migrieren, ablösen, neu implementieren - für viele IT-Verantwortliche ein Albtraum.

Betriebe wie gelähmt: Never touch a SAP-System?

Die IT-Vergangenheit ist voll von Berichten über fehlgeschlagene ERP-Projekte. Kein betroffenes Unternehmen geht damit gerne an die Öffentlichkeit. Doch spätestens wenn der Geschäftsbetrieb beeinträchtigt ist oder sich beteiligte Parteien vor Gericht treffen, sickern Details solcher Pannen durch. Die US-Kollegen von CIO haben einige davon zusammengetragen.

Mission Produce

Foto: MacroEcon - shutterstock.com

Mission Produce bezeichnet sich selbst gerne als das globale Avocado-Netzwerk. Das Unternehmen betreibt Plantagen in vielen Ländern, erntet die Früchte, verarbeitet sie und verkauft sie auf der ganzen Welt. Laut Angaben der Verantwortlichen sei Mission Produce in der Lage, das ganze Jahr über frischreife Avocados zu liefern.

Im November 2021 führte Mission Produce ein neues ERP-System ein. Das Ziel: Das internationale Wachstum sollte durch mehr operative Transparenz und bessere Finanzberichtsfunktionen effizienter unterstützt werden. Doch das ging gründlich schief.

Plötzlich wusste das Management des Avocado-Spezialisten nicht mehr genau, wie viele Früchte wo lagen und vor allem wie reif sie waren. Am Ende waren viele Tonnen Avocados verdorben und nicht mehr zum Verkauf geeignet. Um seinen Lieferverpflichtungen nachkommen zu können, musste das Unternehmen Früchte von anderen Lieferanten zukaufen. Die Folgen: Die Margen brachen ein, und es kam zu Verzögerungen bei der automatisierten Rechnungsstellung.

"Trotz der unzähligen Stunden, die wir mit der Planung und Vorbereitung dieses Umbaus verbracht haben, standen wir bei der Umsetzung vor großen Herausforderungen", sagte CEO Stephen Barnard. "Obwohl wir nicht naiv waren, was das Risiko einer Betriebsunterbrechung angeht, waren das Ausmaß größer, als wir erwartet hatten."

Mission Produce musste neue Prozesse entwickeln, um den Informationsfluss im Unternehmen aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus mussten externe Berater beauftragt werden, das ERP-System wieder richtig in die Schiene zu setzen. Die unmittelbar mit den ERP-Problemen verbundenen Kosten wurden auf etwa vier Millionen Dollar taxiert. Dazu kamen Umsatzausfälle. Über die Höhe ließen sich keine genauen Angaben treffen, zumal zur gleichen Zeit die Avocado-Ernte in Mexiko schlecht ausfiel. Es hieß jedoch, dass der Rückgang des Bruttogewinns im Quartal nach dem Go-Live um 22,2 Millionen Dollar im Jahresvergleich vor allem auf das ERP-Problem zurückzuführen sei. Um welches ERP-System es sich handelte blieb unbekannt.

Learning: Risiken nicht beschönigen und deren Folgen immer mit einplanen.

Invacare

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Invacare, ein US-amerikanischer Hersteller medizinischer Geräte, hat sein SAP-Upgrade vor zwei Jahren vorerst auf Eis gelegt und das Projekt vorübergehend gestoppt. Die nordamerikanische Geschäftseinheit des global agierenden Unternehmens war im Oktober 2021 als erste auf das neue System umgestiegen. Doch die neue Software lief nicht gut an: Online-Bestellungen waren zunächst nur eingeschränkt möglich und es kam zu Verzögerungen bei der Debitorenbuchhaltung.

Das Management rund um Chairman, President and CEO Matt Monaghan sprach zunächst von anfänglichen Ineffizienzen, die bald behoben sein würden. Doch diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Im Zuge interner Umbauten, was die Produktlinien, Lieferketten und die Organisation betraf, verlief der ERP-Umstieg weiterhin holprig. Anfang 2022 zogen die Verantwortlichen die Reißleine.

Man müsse eine Pause einlegen und das ERP-Vorhaben überarbeiten, verkündete CEO Matt Monaghan den Investoren im August 2022. Es sei davon auszugehen, dass die Lösung ein paar Quartale dauern werde, ließ der Manager durchblicken. Das kostete Monaghan wohl seinen Job. Ende August 2022 teilte Invacare mit, Monaghan verliere seine Posten als President und CEO. Die Veränderungen seien notwendig, um die Initiativen zur Geschäftstransformation voranzutreiben und die Herausforderungen in der Lieferkette zu bewältigen.

Besonders schmerzlich für Invacare: Obwohl die Arbeit am ERP-Projekt eingestellt wurde, muss das Unternehmen dem dafür angeheuerten Systemintegrator weiterhin die gleiche monatliche Gebühr zahlen, hieß es.

Learning: Verträge mit Systemintegratoren sollten derart ausgestaltet sein, dass sie nur bezahlt werden, wenn sie auch etwas zu tun haben.

Ranpak

Foto: rafapress - shutterstock.com

Eigentlich lief alles nach Plan. Die SAP-Migration des US-amerikanischen Verpackungsspezialisten Ranpak klappte wie am Schnürchen. "Das Team hat unglaublich hart gearbeitet, um eine hochmoderne digitale Infrastruktur zu implementieren, und ich bin sehr stolz auf diese Organisation, dass wir in weniger als einem Jahr, pünktlich und im Rahmen des Budgets, mit SAP in Betrieb gehen konnten, denn das war eine enorme Leistung", sagte Omar Asali, Chairman und CEO. Die Umstellung auf ein cloudbasiertes ERP-System war wesentlicher Bestandteil einer umfassenderen digitalen Transformation bei Ranpak .

Das Unternehmen führte das neue ERP im Januar 2022 ein, zeitgleich mit dem neuen Geschäftsjahr. Doch der Start mit der neuen Business Software verlief holprig. Asali räumte ein, dass man mit Ineffizienzen und Verzögerungen im Geschäftsbetrieb zu kämpfen gehabt habe. Die Lernkurve für das neue System sei zudem sehr steil gewesen.

Einige der Softwareprobleme blieben auch im zweiten Quartal 2022 ungelöst, und bis zum Ende des dritten Quartals hatte das Unternehmen Implementierungskosten in Höhe von 6,5 Millionen Dollar verbucht. Erst Anfang November 2022 konnte Asali vermelden, dass das neue ERP-System begonnen habe, eine bessere und schnellere Messung von Produktivität und KPIs zu liefern.

Learning: Nach dem Umstieg genug Puffer für das Lernen rund um das Handling des neuen ERP einplanen.

J&J Snack Foods

Foto: J&J Snack Foods / Screenshot

Die ERP-Probleme von J&J Snack Foods sind nicht auf ein modernes System zurückzuführen, sondern auf ein älteres - JD Edwards von Oracle. Das US-Unternehmen nutzt JD Edwards seit langem in seiner Tiefkühlgetränke-Sparte und beschloss, seine ERP-Landschaft zu harmonisieren und den gesamten Betrieb auf das Oracle-System umzustellen.

Für die Verantwortlichen von J&J Snack Foods ging es bei dem ERP-Vorhaben in erster Linie darum, zusätzliche Kapazitäten aufzubauen und die betriebliche Effizienz zu verbessern. CEO Dan Fachner bezeichnete die Umstellung als "die größte und notwendigste Veränderung, die zur Stärkung unserer Lieferkette erforderlich ist". Der Manager versprach sich davon eine robuste ERP-Plattform, die einen nahtloseren, integrierten Prozess von den Rohstoffen über die Produktion, die Lagerhaltung, die Bestandsverwaltung und die elektronische Auftragsabwicklung bieten sollte.

Ungewöhnlicherweise beschloss das Unternehmen, das ERP-System nicht nach Abschluss der Jahresbücher, sondern mitten im zweiten Geschäftsquartal zu wechseln - im Februar 2022. Normalerweise ist der Februar eine ruhige Zeit für Snackverkäufe. Doch dieser Februar war anders. "Die Umsetzung führte zu unvorhergesehenen vorübergehenden, betrieblichen, Produktions- und Lieferkettenherausforderungen", sagte Fachner im Mai gegenüber Investoren. Bis dahin schienen die Probleme jedoch weitgehend gelöst. "Alle Zeichen deuten darauf hin, dass wir das Schlimmste hinter uns haben", so der CEO.

Das Unternehmen kamen die Probleme allerdings teuer zu stehen. J&J büßte im besagten zweiten Geschäftsquartal einen Umsatz von 20 Millionen Dollar ein. Das ERP-Schlamassel sorgte dafür, dass die operativen Ausgaben um 7,6 Millionen Dollar höher ausfielen. Ohne die Störungen beim ERP-Umstieg wäre es ein Rekordquartal geworden. Immerhin ging es für Fachner gut aus - wohl auch weil er die Probleme relativ schnell in den Griff bekam. Nachdem der Manager im Mai dem Gründer Gerald Shreiber als CEO nachfolgte, beerbte er diesen Ende 2023 auch als Chairman.

Learning: Timing ist alles - den richtigen Zeitpunkt für den Umstieg wählen.

Leaseplan

Foto: OleksSH - shutterstock.com

Leaseplan, ein in den Niederlanden ansässiger Spezialist für das Management von Fahrzeugflotten, hat fast 100 Millionen Euro mit einem fehlgeschlagenen SAP-Großprojekt verloren. Das Unternehmen kümmert sich in 32 Ländern weltweit für seine Kunden um das Handling von Fahrzeugen - von der Anschaffung über den Betrieb bis zur Rücknahme und Weitervermarktung.

Das Geschäft lief, wenn auch in jedem Land unterschiedlich. Die Marke blieb zwar die gleiche, doch alle Ländergesellschaften konnten unabhängig entscheiden, wie sie ihr Business abwickelten, auch mit welchen IT-Systemen. Das sollte sich ändern: Sehr teuer und überhaupt nicht flexibel, kritisierte 2015 Alfonzo Venturi, CIO von LeasePlan Australien, die extrem heterogene IT-Landschaft. Jede Änderung nehme viel Zeit in Anspruch und erlaube es einfach nicht, neue Technologien zu nutzen, die die Kunden erwarteten.

2016 begannen die Pläne, dies zu ändern. Eine neue Investorengruppe, die Leaseplan übernommen hatte, sah viel Potenzial darin, die Systeme zu vereinheitlichen. Venturi sollte das auf einem SAP-ERP basierende Core Leasing System (CLS), das in Australien bereits seit 2010 im Einsatz war, weiterentwickeln und auch in den anderen Ländern zum Einsatz bringen. Der indische Serviceanbieter HCL-Technologies sollte das Projekt als strategischer Partner begleiten.

Die Lösung bestand aus SAP Leasing im Back-end, Fiori für die User Experience (UX), Ariba als Beschaffungssystem, Hybris für den E-Commerce und für das Produkt Content Management, S/4HANA, einschließlich einer Versicherungslösung, und Business Objects für das Reporting und Analytics. Das Ganze Paket sollte in der AWS-Cloud betrieben werden. Venturi verfolgte den Ansatz, jeweils mit einem Minimum Viable Product (MVP) zu starten und weitere Funktionalität im laufenden Betrieb hinzuzufügen. Alle alten Legacy-Systeme sollten sukzessive abgeschaltet werden.

Doch der Plan, mit dem neuen SAP-System die internen Prozesse zu harmonisieren und damit effizienter zu machen, ging nicht auf. Die Verantwortlichen unterschätzten offenbar die Komplexität, viele unterschiedliche IT-Systeme auf einen gemeinsamen neuen Standard zu hieven. Im September 2019 und fast 100 Millionen Euro Investitionen später zog Leaseplan den Stecker und stoppte das SAP-Projekt.

"Das System ist in der entstehenden digitalen Welt nicht mehr zweckmäßig", konstatierte CEO Tex Gunning. Die monolithische Natur des SAP-Systems behindere in einer Zeit des beschleunigten technologischen Wandels schrittweise Verbesserungen an Produkten und Dienstleistungen. "Aus diesem Grund wird das System umstrukturiert."

Leaseplan schwenkte um auf die "Next Generation Digital Architecture". Statt sich auf einen Anbieter zu verlassen, verfolgte das Unternehmen einen Best-of-Breed-Ansatz, der auf Lösungen von Drittanbietern setzt und mit einem eigenen stärkeren internen IT-Engagement unterfüttert wird. Dies eigne sich Gunning zufolge besser für die digitale Revolution, die sich in der globalen Leasingbranche vollziehe. Er verwies auf eine besser skalierbare und flexiblere IT-Infrastruktur, eine reibungslosere Produktbereitstellung und -aktualisierung sowie eine bessere Integration mit Systemen von Drittanbietern, um Innovationen zu beschleunigen.

Learning: Ausgangssituation genau evaluieren - heterogene Systemlandschaften brauchen mehr Zeit und Planung.

MillerCoors

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Im Brauereigeschäft geht es turbulent zu - Fusionen, Übernahmen, Verkäufe und Abspaltungen führen dazu, dass sich die Bier-Konglomerate ständig verändern. Das wirft seine Schatten auch auf die IT-Landschaften. Bei MillerCoors, das 2008 als Joint Venture zwischen SABMiller und Molson Coors gegründet worden war und heute nach einem Teilverkauf an AB-InBev unter MolsonCoors firmiert, liefen im Jahr 2013 sieben verschiedene ERP-Instanzen von SAP - ein Erbe der jahrelangen Branchenkonsolidierung.

Angesichts des ERP-Durcheinanders beauftragten die US-Brauer das indische IT-Dienstleistungsunternehmen HCL Technologies damit, ein einheitliches SAP-System für das gesamte Unternehmen zu entwerfen und zu implementieren. Doch das Vorhaben verlief alles andere als reibungslos: Der erste Rollout war von acht Mängeln mit "kritischem" Schweregrad, 47 Mängeln mit hohem Schweregrad und Tausenden zusätzlicher Probleme gekennzeichnet. Es kam zu Verzögerungen. Zeitpläne waren Makulatur, Budgets wurden laufend überzogen.

Mitte 2016 war das Projekt so weit aus dem Ruder gelaufen, dass sich MillerCoors weigerte, Rechnungen zu bezahlen und den Vertrag schließlich kündigte. Im März 2017 verklagte die US-Brauerei ihren indischen Partner HCL auf 100 Millionen Dollar Schadensersatz. Die Vorwürfe lauteten, HCL habe das Projekt nicht ausreichend mit Personal ausgestattet und seine Versprechen nicht eingehalten.

Doch das ließen die HCL-Verantwortlichen nicht auf sich sitzen. Im Juni 2017 erhoben die Inder Gegenklage und warfen MillerCoors Vertragsbruch vor. Das US-Unternehmen habe sich nicht an die Vereinbarungen gehalten und mache HCL im Wesentlichen für eigene Managementprobleme verantwortlich. Letztere seien HCL zufolge die eigentliche Ursache für das Scheitern des ERP-Projekts.

Die Wahrheit wird wohl nie ans Licht kommen. Ende 2018 legten beiden Parteien ihren Streit gütlich bei. Die Details der Schlichtungsvereinbarung blieben geheim. Externe Beobachter stellten fest, dass der Wortlaut der Verträge zwischen MillerCoors und HCL, wie er in den Klagen dargelegt wurde, offenbar auf einem bereits bestehenden allgemeinen Dienstleistungsvertrag zwischen den beiden Unternehmen beruhte und viel Raum für Fehler ließ - auf beiden Seiten.

Learning: Genau auf die Verträge schauen - ungenaue Abmachungen mit Service- und Implementierungspartnern führen schnell zu Streit.