Behinderte Arbeitnehmer

Wie Inklusion gelingt

21.04.2022
Von 
Head of Accessibility & Digital Inclusion, Central Europe bei Atos
Sie sind hochmotiviert und sehr anpassungsfähig. Arbeitgeber sind gut beraten, Menschen mit Behinderungen stärker als bisher zu berücksichtigen – zumal der technische Fortschritt vielfältige Einsatzmöglichkeiten bietet.
Arbeitgeber stehen diverse technische Hilfsmittel zur Verfügung, um möglichst viele Mitarbeiter gut ins Arbeitsumfeld zu integrieren.
Arbeitgeber stehen diverse technische Hilfsmittel zur Verfügung, um möglichst viele Mitarbeiter gut ins Arbeitsumfeld zu integrieren.
Foto: Lebendigger - shutterstock.com

Gut jeder achte Mensch auf der Welt lebt mit einer Beeinträchtigung körperlicher und/oder geistiger Natur. Vor allem ihre Umwelt stellt sie vor Herausforderungen, indem sie Menschen etwa physische oder kommunikative Barrieren in den Weg setzt. Dabei kann es sich nicht nur um einen für Rollstuhlfahrer und -fahrerinnen ungeeigneten Aufgang zu einem Gebäude handeln, sondern auch um eine Website, die eine für Personen mit Sehbehinderung unpassende Schriftgröße und -farbe hat.

Diversity & Inclusion vs. Fachkräftemangel

Die Hürden, die es aus dem Weg zu räumen gilt, sind zahlreich. Der Aufwand lohnt sich jedoch: In Zeiten fehlender Fachkräfte können es sich Unternehmen nicht leisten, Potenzial ungenutzt zu lassen, indem sie Barrieren aufrechterhalten. Die Fortschritte, die Technik und Strategien zur Inklusion in den letzten Jahren gemacht haben, sind beachtlich und tragen dazu bei, dass Menschen mit Beeinträchtigungen einer geregelten Arbeit nachgehen können. Maßnahmen zur Schaffung eines inklusiven Arbeitsplatzes unterstützen dabei nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch ältere Arbeitnehmer und -nehmerinnen und alle, die im Laufe ihres Lebens mit einer Beeinträchtigung umgehen werden müssen.

Eine inklusive Unternehmenskultur ermöglicht es nicht nur, offene Stellen durch Menschen mit Behinderungen zu besetzen. Diese bringen mit ihren Lebenserfahrungen, die sich von denen anderer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unterscheiden, häufig auch eigene Sicht- und Arbeitsweisen mit, die dem Unternehmen förderlich sind. Sie verfügen beispielsweise in vielen Fällen über eine sehr hohe Motivation, die bei einigen aus dem innigen Wunsch resultiert, zu zeigen, dass sie wie jeder andere auch als vollwertige Arbeitskraft sehr gute Leistungen erbringen können. Auch ist ihnen oft eine hohe Kreativität, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zu eigen. Viele Menschen mit Behinderungen haben in ihrem Alltag gelernt, mit Einschränkungen und Herausforderungen umzugehen. Sie besitzen daher eine ausgeprägte "Hands-On-Mentalität", die sie auch im Arbeitsleben einsetzen können und die sehr wichtig für Innovationsprozesse ist.

Tools für die Inklusion

Um ihr Potenzial voll einbringen zu können, benötigen Menschen allerdings die richtigen Werkzeuge – praktischer wie theoretischer Natur.

Technologien für Barrierefreiheit

Digitale Technologien unterstützen Menschen mit Behinderungen im Arbeitsalltag, da sie flexibel an unterschiedliche Behinderungen angepasst werden können. So sind im Windows- und Mac-Betriebssystem bereits unterschiedliche Funktionen zur Ermöglichung einer barrierefreien Bedienung integriert, beispielsweise eine Veränderung der Standardschriftgröße, andere Farbkontraste, Alternativen zur Nutzung einer Maus oder eine Zoom-Funktion für Bildschirmbereiche. Doch die Möglichkeiten digitaler Technologien gehen weit über solche einfachen Unterstützungen hinaus.

Spracherkennung

Systeme für die Erkennung gesprochener Sprache existieren in zwei Varianten: Zum einen gibt es Diktiersysteme auf Desktopcomputern, die Sprache in Text umwandeln (Speech-to-Text). Die Qualität der Software ist heute so weit vorangeschritten, dass sie problemlos von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in vielen Betriebssystemen und Programmen im Arbeitsalltag nutzbar ist – sowohl zur Texteingabe als auch zur Navigation der Benutzeroberfläche. Dort, wo diese Technik an ihre Grenzen stößt, kommen professionelle Schriftdolmetscher zum Einsatz.

Die andere Variante beinhaltet KI-basierte Lösungen, Natural Language Processing (NLP), die neben der reinen Texterkennung zu einer Inhaltsanalyse fähig sind. Sie erkennen nicht nur genau formulierte Befehle, sondern können auch innerhalb eines Kontextes verstehen, was die Nutzer und Nutzerinnen beabsichtigen. Was sich im Privatbereich immer weiter zur Steuerung von Smart Homes durchsetzt, kann auch Menschen mit Behinderungen inkludieren: So können sie in Smart Buildings mit Hilfe von Sprachbefehlen Zugang erhalten, Aufzüge rufen, die Temperatur im Büro regeln und Ähnliches.

Text to Speech

Vor allem für längere Texte sind Vorlese-Systeme (Text-to-Speech) eine gute Alternative zu Bildschirmlupen, da letztere den Sichtbereich auf dem Monitor stark verkleinern. Text-to-Speech-Programme helfen sehbeeinträchtigten Personen etwa, indem sie Texte auf Bildschirmen vorlesen. Bei der direkten Kommunikation können sie sprachbeeinträchtigte Menschen unterstützen, indem sie Text, beispielsweise auf dem Smartphone, während eines Gesprächs in gesprochene Sprache ausgeben.

Haptische Technologien

Für Blinde und hörsehbehinderte Menschen hat sich die Braille-Schrift in Schriftstücken durchgesetzt. Auch im digitalen Arbeitsalltag sollten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit vermindertem Sehvermögen die Möglichkeit haben, sich von Technologien unterstützen zu lassen, um ihre Aufgaben zu erledigen: So gibt es sogenannte Braillezeilen, die digitale Texte, zum Beispiel auf Webseiten, physisch in Braille-Zeichen transkribieren. In Kombination mit einer Braille-Tastatur erlauben sie es hörsehbehinderten Menschen, Texte sowohl zu lesen als auch zu redigieren beziehungsweise selbst zu schreiben.

Neurodiversität

Vorlesefunktion und Autokorrektur sind sehr wichtige Hilfen für Menschen mit Legasthenie und Lernschwierigkeiten. Für Menschen mit ADHS gibt es auch Funktionen, welche es ermöglichen, Ablenkungen zu reduzieren. So erlauben "Reader Mode" oder "Immersive Reader" in Textverarbeitungen und Web-Browsern, zusätzliche Elemente wie Bilder und Werbung zu reduzieren oder den größten Teil der Benutzeroberfläche auszublenden, so dass nur noch mehrere oder eine Zeile Text zu sehen sind.

Die richtige Strategie für Inklusion

Technologien und Lösungen für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit Beeinträchtigungen zur Verfügung zu stellen ist ein erster Schritt. In gleichem Maße wichtig ist jedoch die Strategie, welche hinter der Etablierung einer inklusiven Unternehmenskultur steht. Darunter fällt zum einen, wie Altsysteme durch neue Technologien ausgetauscht oder ergänzt werden, aber auch, wie die Inklusion im Arbeitsalltag angegangen wird. Das Thema betrifft nicht nur Menschen mit, sondern auch ohne Behinderungen. Barrierefreiheit und Inklusion führen zu besseren Produkten für alle, denn niemand von uns weiß, wann und wie wir von einer Beeinträchtigung (sei es situativ, temporär oder dauerhaft) betroffen sein werden. Deshalb gilt es, bei Inklusionsprojekten alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit ins Boot zu holen und Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Dies kann sich schon in der Aufteilung von Arbeitsplätzen und der Gestaltung von Pausen äußern: Welcher Platz bietet genug Sonneneinstrahlung für sehbeeinträchtigte Mitarbeitende, wie viele Pausen brauchen neurodiverse Mitarbeitende und wie lassen diese Anforderungen sich mit den Bedürfnissen aller anderen in Einklang bringen?

Mit Empathie, gegenseitiger Rücksichtnahme und offener Kommunikation können sich Teams meist am besten organisieren und auch Probleme selbst lösen, besonders in der IT-Arbeitswelt, die eine solche Selbstorganisation als Aspekt einer agilen Arbeitskultur schätzt. Und solche "Best Practices" unterstützen nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern die ganze Firma. Diese Selbstorganisation entbindet Unternehmen allerdings nicht von der Pflicht, Inklusion in ihre Firmenpolitik mit aufzunehmen und Fortbildungen und Schulungen zum Thema anzubieten.

Besonderer Aufmerksamkeit bedürfen etwa Fernarbeitskräfte mit Behinderungen, da sie im routinierten Arbeitsalltag häufig aus dem Blick geraten. Hier sollte es Schulungen und Mentoring-Programme geben, die alle Mitarbeitenden beim Remote Work unterstützen. Es ist zu beachten, dass nicht alle Mitarbeitenden ihre Behinderungen bewusst wahrnehmen oder offiziell kommuniziert haben. Aber alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Fernarbeit unterliegen einem erhöhten Risiko der Isolation und bedürfen präventiver Maßnahmen zur Unterstützung ihrer psychischen Gesundheit und ihres Wohlbefindens (well-being) am Arbeitsplatz. Das richtige Toolset hilft so auch Fernarbeitskräften, produktiver zu arbeiten. (hk/mp)