Physische Umgebung als grafische Benutzeroberfläche

So verändert Augmented Reality viele Unternehmensbereiche

16.07.2018
Von Detlev Flach

Zwei Wege, wie AR wirtschaftlichen Mehrwert schafft

Den Autoren zufolge kann Augmented Reality prinzipiell in zwei Anwendungsrichtungen zum Einsatz kommen: Erstens als ein wertsteigernder Teil eines Produktes und zweitens, indem sie hilft, die Abläufe in allen Bereichen des Unternehmens weiter zu rationalisieren, angefangen von der Produktentwicklung über die Fertigung bis zum Vertrieb oder Service, etc..

Bei Produkten könne z.B. die AR-unterstützte Anzeige von Informationen zum Betrieb oder zur Sicherheit ein Alleinstellungsmerkmal sein. Head-up-Displays beispielsweise gibt es seit einiger Zeit auch in Autos, in Flugzeugen schon seit Jahren. Wo solche Anzeigen zu teuer sind, kann auch einfach eine App für Smartphone oder Datenbrille mitgeliefert werden, über die dann ein personalisiertes virtuelles Display zum Einstellen und Bedienen genutzt werden kann.

Beispiele für die Unterstützung in der Wertschöpfungskette durch AR gibt es viele. In der Produktentwicklung etwa erschwert bisher die zweidimensionale Darstellung der schon seit Jahren verfügbaren 3D-Konstruktionsmodelle ein ganzheitliches Konstruieren. Mit AR-Technologie lassen sich die 3D-Modelle als Hologramm in Originalgröße in die physische Umgebung projizieren. Auf diese Weise kann etwa das 3D-Hologramm einer Baumaschine in der späteren Einsatzumgebung 'auf den Boden gestellt werden' und die Entwickler können um das 1:1-Modell herumgehen, hineinsteigen, etc. um Sichtachsen oder Ergonomie zu testen. Und wo früher die Qualität von Prototypen bei Volkswagen mühsam anhand der 2D-Zeichnungen überprüft wurde, wird jetzt in einer AR-Anwendung der Prototyp mit dem 3D-Modell überblendet und zehnmal schneller kontrolliert.

In der Fertigung werden dem Werker an den Arbeitsstationen die exakt richtigen Informationen zur passenden Zeit für die vielen Fertigungsschritte geliefert, inklusive z.B. auch Überwachungs- oder Diagnosedaten der Anlagen, um proaktive Wartungen durchzuführen. In Fertigung und Montage kann AR deshalb auch sehr gut für Schulungszwecke eingesetzt werden.

In der Logistik werden 65 Prozent der Lagerhaltungskosten dem Herausnehmen des Artikels aus dem Regal mithilfe der Papierliste zugeschrieben. AR-Anwendungen haben bei DHL die Kommissionierung um 25 Prozent verbessert, indem sie den Arbeiter durch das Lager lotsen und ihn durch schrittweise Einblendung von Lagerort, Stückzahl und Positionierung des Teils auf dem Wagen, etc. unterstützen. Solche Lösungen können auch die gesuchte Lagerzelle und den konkreten Lagerort farbig markieren.

Der Logistik-Dienstleister DHL nutzt die Glass Enterprise Edition zum Kommissionieren via AR.
Der Logistik-Dienstleister DHL nutzt die Glass Enterprise Edition zum Kommissionieren via AR.
Foto: DHL

Im Marketing und Vertrieb sind die Einsatzmöglichkeiten von AR ebenfalls vielfältig. Showrooms und Produktdemonstrationen werden faszinierende (individuelle) Kundenerlebnisse bieten. Produkte lassen sich zudem in der realen Zielumgebung anschauen, was auch den Onlinehandel unterstützt. Ikea bietet Produktabbildungen und Apps dazu, mit denen sich das Möbel oder der Dekoartikel im Raum zuhause platzieren lässt.

Mit Hilfe von AR können Kunden zuhause testen, ob ein IKEA-Möbel zu ihrer Wohnungseinrichtung passt.
Mit Hilfe von AR können Kunden zuhause testen, ob ein IKEA-Möbel zu ihrer Wohnungseinrichtung passt.
Foto: IKEA

Auch der After-Sales-Service kann durch Schritt-für-Schritt-Reparaturanleitung und Remote-Support entscheidend von AR-Technologie profitieren. Das kann so weit gehen, dass der Kunde in die Wartung mit eingebunden wird und viele Arbeiten selbst erledigt. Damit können große Einsparungen im Servicebereich erzielt werden.

Mithilfe von AR-Anleitungen kann der Kunde auch in einfache Wartungsszenarien eingebunden werden.
Mithilfe von AR-Anleitungen kann der Kunde auch in einfache Wartungsszenarien eingebunden werden.
Foto: Zapp2Photo - shutterstock.com

AR auf dem Weg in die Praxis

Wie von den Autoren dargestellt, gibt es bereits über die gesamte technische Bandbreite viele Anwendungsfälle für Augmented Reality. Und auch wenn die meisten noch im Stadium von Pilottests oder PoCs (Proof of Concept) sind, gelte dafür: Jede AR-Installation braucht einen sorgfältigen Implementierungsplan, in dem die strategischen Vorteile dieser Anwendung klar herausgearbeitet sind und die dafür notwendigen technischen und organisatorischen Lösungen und Kompetenzen im Detail erfasst wurden.

Porter und Heppelmann haben einige Fragen formuliert, die sich Unternehmen auf dem Weg zur eigenen AR-Lösung stellen sollten. Die erste Frage wird aus ihrer Sicht wohl sein, wo kommt das AR-Know-how her? Fachkräfte für die AR-Entwicklung sind rar. Gefragt sind unter anderem Kompetenzen im Konzipieren von Nutzererlebnissen oder -schnittstellen (UX-/UI-Design), beim Handling von 3D-Daten und -Modellen und deren Umsetzung in AR-Anwendungen oder - besonders wichtig - auch die Erstellung der Inhalte, des Content. Dabei wird noch über Jahre bei jedem Projekt entschieden werden müssen: Ist der Aufbau eigener AR-Kompetenzen notwendig oder reicht Outsourcing, bzw. ist die Zusammenarbeit mit einem externen Partner die Lösung?

Nicht alle AR-Anwendungen sind gleich komplex. Apps, um Produkte (statische 3D-Modelle) in fremden Umgebungen zu visualisieren (Ikea), sind relativ einfach zu erstellen. Schwieriger werden dann dynamische 3D-Inhalte z.B. für Anleitungen oder Schulungen. Am aufwendigsten werden letztendlich Apps für interaktive Lösungen sein, mit noch nicht ausgereiften Technologien wie Gesten- oder Spracherkennung.

Ein besonderes Augenmerk gilt dem Autorenteam zufolge in jedem Fall immer der Frage, wie die Inhalte geschaffen werden. Für die detaillierten digitalen Produktdarstellungen lassen sich CAD-Modelle aus der Produktentwicklung anpassen oder es müssen Technologien wie 3D-Scanner genutzt werden. Fortgeschrittene AR-Anwendungen brauchen zudem die Anbindung an Businesssysteme oder andere externe Datenquellen, wie Sensoren, um Echtzeitdaten in den Content einzupflegen. Nicht zuletzt muss die Frage geklärt werden, ob eine eigenständige Software-App entwickelt oder ein Content-Publishing-Modell mit Inhalten aus der Cloud gewählt wird.

Nicht zu vergessen die Frage nach dem Wo: Momentan laufen die meisten AR-Anwendungen als Apps auf Mobilgeräten, wie Smartphone oder Tablet. Der Einsatz von Wearables wie Head-mounted Displays (HMD) oder Datenbrillen steht zwar noch am Anfang, geht für die Umgebung der Produktion aber mit großen Schritten voran. Die Vision ist, die Bildschirme in der Tasche durch Datenbrillen zu ersetzen, die die Verbraucher aufsetzen wie eine Sonnenbrille, also ohne groß darüber nachzudenken. Jedenfalls läuft im Moment ein Rennen um die 'beste' Datenbrille, denn wer diesen Markt beherrscht, könnte auch die AR-Technologie ein Stück weit kontrollieren, so die Autoren.